Nicole Häffner, PhiN 82/2017: 72–75.
PhiN 82/2017: 72



Nicole Häffner (Saarbrücken)



Dieterle, Bernard / Engel, Manfred (Hg.) (2016): Writing the Dream / Écrire le rêve. Würzburg: Königshausen & Neumann.



Der Sammelband Writing the dream/Écrire le rêve ist der erste Band einer neuen Reihe mit dem Titel "Cultural Dream Studies", die sich dem höchst vielseitigen, interdisziplinär fruchtbaren und universell menschlichen Phänomen des Traums widmet, welches aus kulturwissenschaftlicher Perspektive bisher kaum systematisch untersucht wurde und sich seit Kurzem großer Beliebtheit in verschiedenen Fachkreisen erfreut. Besonders das Hinausgehen über rein psychoanalytische Deutungen und die Betonung des wissenspoetischen Aspektes scheinen dabei von Interesse zu sein. Die Gründung dieser neuen Reihe geht mit der Errichtung eines neuen Forschungskommittees zum Thema "Traumkulturen: die kulturelle und literarische Geschichte des Traums" (7) einher. Im vorliegenden Band werden im Sinne der Intertextualität, Interkulturalität und Intermedialität Beiträge zu unterschiedlichen Kulturräumen, Zeitepochen und Medien sowie Genres zusammengestellt. So findet sich etwa die traditionelle chinesische Literatur ebenso wie moderne japanische und afrikanische Romane, die Populärkultur des Comics, nordamerikanisch-indianische Kultur, Träume in der Bibel, Träume in der arabisch-islamischen Welt, französische, deutsche und italienische Dichtung und Narrativik oder etwa das nicht ausschließlich fiktional-ästhetisch ausgerichtete Genre des (mehr oder weniger auf realen Träumen basierenden) Traumberichts. Leider findet sich in diesem ersten Band der Reihe kein Beitrag zu den Räumen der lateinamerikanischen sowie spanischen Literatur und Kultur, wo ersterer doch mit Literaten wie Jorge Luis Borges, Adolfo Bioy Casares und Julio Cortázar großes Potenzial und Kreativität im Umgang mit Traum und Literatur gezeigt hat und zweiterer mit Calderón de la Barcas La vida es sueño eines der Hauptreferenzwerke zum Thema des literarischen Traums hervorgebracht hat. Doch da es sich wie gesagt erst um den ersten Band handelt, könnte diese Lücke bald geschlossen werden. Ansonsten zeigt sich ein recht umfassendes Bild zahlreicher abgedeckter Aspekte der Weltliteratur(en) des Traums.




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In einem ersten Teil zu theoretischen Überlegungen spricht Manfred Engel von einer Poetik des traumhaften Erzählens (19–44) mittels der Mechanismen von Familiarisierung und Defamiliarisierung. Dabei veranschlagt er jeweils fünf Verfahren: Familiarisierung: 1. Verbalisierung, 2. Narration, 3. Co-Textualisierung, 4. Sinnstiftung, 5. Kulturelle und textuelle Muster; Defamiliarisierung: 1. Das Unvertraute markieren, 2. Unvertraute/bizarre Inhalte, 3. Interne Fokalisierung, 4. Die Kreation bestimmter Arten von Traum-Kohärenz, 5. Techniken, Metamorphosen, Metaphern, Perspektiven etc. Darin ordnet Engel dann literarische Beispiele von der Antike bis ins 20. Jahrhundert ein (Homer, Aelius Aristides, Jean Paul, Heine, Trakl). Weiterhin unterscheidet er verschiedene Traum-Typen (1. Botschaft-Traum, 2. Symbolischer Traum, 3. Inkubationstraum, 4. Traumvision).

Bernard Dieterle schreibt über die Rolle lyrischer Dichtung im Kontext der Traumforschung (45–55). Dabei geht es um Merkmale und Charakteristiken, kreatives Potenzial und etwa auch um drei große Typen onirischer Gedichte: 1. Eine träumerische Atmosphäre, 2. Ein traumhaftes Ereignis, 3. Rhetorik des Traumhaften zur Qualifikation der Wirkung (50). Als Beispiel wird Wolfgang Bächlers Gedicht "Im Schlaf" analysiert (50–55).

In Ritchie Robertsons Artikel (57–69), welcher die theoretischen Überlegungen abschließt, werden die Konzepte des literarischen Traumtextes an sich sowie des Berichtes realer Träume thematisiert und problematisiert und zwar einerseits anhand der konkreten Analysen von Heinrich Heines Reflexionen und eines Traumes aus dessen Werk Die Harzreise (1826), und andererseits anhand von Freuds Darstellung des zweiten Traumes seiner Patientin Dora in Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905).

Der zweite, letzte und weitaus größere Teil des Sammelbandes umfasst nun eine große Bandbreite an Fallstudien. Los geht es mit Jörg Lanckaus Beitrag zu Traum und Traumerzählung in der hebräischen Bibel (Tanakh) (73–93). Dabei geht es um antike Sichtweisen auf das Thema Traum. Anschließend folgen semantische, formale und narrativ-strukturelle Analysen von Traumtexten des Tanakh, schwerpunktmäßig der Joseph-Geschichte.

Mit Traumwissen und Traumdeutung im talmudischen Traumbuch des jüdischen Berakhot beschäftigt sich der Artikel von Gerhard Langer (95–109). Als zentraler Beleg- und Referenztext wird die Bibel herangezogen.

Angelika Brodersen schreibt in ihrem Beitrag über Realitätsebenen in arabisch-islamischen Traumberichten (111–135). Es wird dargelegt, welch große Bedeutung der Traum in der arabisch-islamischen Kulturtradition hat, als Kommunikationssphäre zwischen Lebenden und Toten, gar als eigene privilegierte Zwischenwelt, als Mittel zur 'Lebenshilfe'.

Mit der transkulturellen Perspektive auf Traum in der chinesischen Literatur bringt Zhang Longxi einen geographisch wie kulturell völlig anderen Bereich mit ein (137–147). Die Funktion des Traums als narrativer Rahmen sowie das Thema der Interpretation/Deutung wird anhand von Texten wie einem Gedicht von Su Shi/Su Dongpo (11. Jh.), dem berühmten Schmetterlings-Traum von Zhuangzi/Zhuang Zhou (4. Jh. v.Chr.), Dramen von Tang Xianzu (16./17. Jh.) und dem großen Roman Der Traum der Roten Kammer von Cao Xueqin (18. Jh.) untersucht.




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Mit Dantes Poetik des Traums führt Karlheinz Stierle wieder zurück nach Europa, ins italienische Spätmittelalter (149–158), zu (alp)traumhaften Treffen mit Beatrice in Vita Nova sowie zum Übergang zwischen Schlafen und Wachen als Zwischenstatus bzw. Grenzzustand auf dem Weg zum Paradies im "Purgatorio" der Commedia.

Bernard Dieterle führt anschließend die Thematik zum Traumgeschehen in Jean de la Fontaines Fabeln (159–170). Es geht um das Verhältnis zwischen Literatur und Traum, dabei konkret um das Genre der Fabel, sowie um Bedeutung und Funktion des Motivs Traum. Dabei werden sieben Fabeln intensiver behandelt ("La Laitière et le Pot au lait", "Les Obsèques de la lionne", "Le Statuaire et la Statue de Jupiter", "Le Lièvre et les Grenouilles", "Les Deux Amis", "Le Songe d'un habitant du Mogul", "Le Berger et le Roi").

Die nächste Fallstudie beschäftigt sich mit Träumen in Jean Pauls Roman Der Komet (1820/22) in Bezug zu Tagebucheinträgen in seinem Vita-Buch (171–192). Monika Schmitz-Emans spricht dabei etwa vom Überschreiten zeitlicher und räumlicher Grenzen, Reisen durch den kosmischen Raum, dem Prozess der Imagination, dem metapoetischen Charakter von Traumtexten sowie Jean Pauls traummanipulierenden Figuren des "Traumgeberordens".

Marie Guthmüller verortet den Traum des bösen Don Rodrigo in Alessandro Manzonis Roman I promessi sposi (1827) zwischen Symptomatologie und Prophezeiung (193–210). Hier geht es auch um Unterscheidungen wie die zwischen literarischen Träumen und Traumberichten, übernatürlichen und natürlichen Träumen, um Wissenspoetik und eine mögliche, 'neue' psychologische Deutung von Träumen.

Um Repräsentationen tatsächlicher Träume, d.h. Traumnotate, in Dichter-Tagebüchern, konkret bei Ulrich Bräker, Gottfried Keller und Arthur Schnitzler, geht es in dem folgenden Beitrag von Manfred Engel (211–237). Dabei bewegten, so Engel, sich die Texte zwischen dem Stil und Nutzen empirischer Daten und einer sehr starken Literarisierung. Es werden drei Typen von Traumnotationen diskutiert: 1. die symbolfokussierte Kurzschrift, 2. der literarisierte Traumbericht, 3. die empirische Traumaufzeichnung.

Eine weitere Studie fernöstlicher Literatur, jedoch dieses Mal auf einen Autor des 19. und 20. Jh. aus Japan, Natsume Soseki, bezogen, legt Franz Hintereder-Emde vor (239–258). Der Vorreiter moderner japanischer Literatur beschäftige sich mit subjektiver Wahrnehmung, dem Unbewussten, unterschiedlichen narrativen Techniken, intertextuellen Referenzen zur chinesischen und japanischen Klassik und zur europäischen Geistesgeschichte und dabei auch mit typisch traumhaften Erfahrungen und deren Darstellung. Hier wird besonders die Kurzgeschichten-Sammlung Ten Nights of Dreams herausgestellt. Sosekis fragmentarischer Stil sei von William James' Assoziationstheorie inspiriert.




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Susanne Goumegou widmet ihre Aufmerksamkeit anhand einiger Traumnotationen von Surrealisten und dabei besonders Paul Éluards dem geläufigen Problem der Niederschrift von Träumen (259–276). Die Texte werden genretechnisch in die Nähe von Prosagedichten gebracht. Begriffe bzw. Konzepte wie der psychische Automatismus, das Unbewusste, Lesbarkeit, Inadäquatheit der Sprache und Assoziativität spielen in diesem Artikel eine bedeutende Rolle.

Mit Juliane Blanks Aufsatz über Träumen und Traumwelten in drei Comic-Reihen zweier moderner Autoren, Winsor McCay (USA) und Neil Gaiman (UK), findet auch dieses Genre der Populärkultur Beachtung im vorliegenden Sammelband (277–303). Es handelt sich um Dream of the Rarebit Fiend (1904–1911), Little Nemo (1905–1911) und The Sandman (1989–1996). Nach genrespezifischen Überlegungen werden die visuellen Strukturen sowie die zugrundeliegenden theoretischen, mythologischen und popkulturellen Traditionen analysiert. Es ist etwa die Rede von Wissenspoetik, langsamer Eskalation, wiederkehrenden Strukturen, Zooming-Out-Effekten, Leibreizen, Metamorphosen, Aufwachen als Gefahr, zwei Welten, intra- und intermedialen Referenzen.

Yvonne Wübben wiederum beschäftigt sich mit psychoanalytischen Notationstechniken im Werk Traumprotokolle des deutschen Schriftstellers Heinar Kipphardt (20. Jh.) (305–312). Der dokumentarische Charakter der Schriften sei vom Autor schrittweise zu einem poetischen transformiert worden. Es handele sich um semi-fiktionale Texte mit Bedeutung für die zeitgenössischen ästhetischen Standards und mit gewissen Seitenhieben auf die Psychoanalyse.

Ein weiterer geographischer und kultureller Raum wird mit Tumba Shango Lokohos Beitrag zum Traum in drei afrikanischen Romanen angeschnitten (313–331): Le jeune homme de sable (1979) von Williams Sassine, Le cercle des Tropiques (1972) von M.A. Fantouré und L'étrange destin de Wangrin (1973) von Ahmadou Hampâté Bâ. Es geht dabei im Wesentlichen um das narrative Potenzial des Traummotivs, seine Einbindung und diskursiven Mechanismen. Analysiert werden auch etwa Inhalte und Darstellungsweisen, Symbolik, Motive, Traum- und Wachwelt(en) und deren Verhältnis.

Hinter Rose Hsiu-Li Juans Titel "Weaving the Dream, Weaving the World" verbirgt sich eine Untersuchung des besonderen poetischen Raumes, welchen die Träume im spezifischen kulturellen Kontext der Pomo-Indianer Kaliforniens im Roman Mabel McKay: Weaving the Dream (1994) von Greg Sarri eröffnen (333–343). Hsiu-Li Juan bezeichnet dies als "Ethnopoetik" des Traums. Lee Irwins Studie The Dream Seekers: Native American Visionary Traditions of the Great Plains wird als komparative Basis verwendet. Visionäre Traditionen, spirituelle Kräfte, das Fehlen einer Grenze zwischen Traum- und Wachwelt sind dabei wichtige Begriffe.

Zum Abschluss spricht Michael Schredl über Traumberichte als Gegenstand psychologischer Forschung (345–353). Ausgehend von Forschungsergebnissen, die zeigen, dass Traumberichte in der Tat mit subjektiven Erfahrungen während des Schlafes zusammenhängen, behandelt Schredl drei große Problematiken, wenn es darum geht, psychologische Einsichten in eine Person ausgehend von ihren Traumberichten zu bekommen: 1. die Traumberichte enthalten womöglich nicht alle Informationen über den Traum, 2. der Traumbericht wird durch die Erhebungsmethode beeinflusst (Schlaflabor, Traumtagebücher zu Hause), 3. veröffentlichte Traumberichte sind womöglich aus bestimmten Gründen selektiert und/oder künstlerisch überformt worden. Auch etwa die Kontinuitätshypothese (Widerspiegelung von Erlebnisinhalten des Wachzustandes in Träumen) wird angesprochen.

Abschließend lässt sich also sagen, dass der vorliegende Sammelband einen beträchtlichen Beitrag zur literatur- und kulturwissenschaftlichen Erforschung des Phänomens Traum leistet und zahlreiche fruchtbare, vielseitige sowie inspirierende Ansätze liefert, die sich sicherlich auf weitere Themenbereiche, Werke, Epochen, kulturelle Räume und Konzepte anwenden und übertragen lassen.