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Stefan Born (Berlin)



Thomas Raab (Hg.) (2017): Neue Anthologie des schwarzen Humors. Wiesbaden: marixverlag.


Dass "schwarzer Humor" bereits ein anerkannter literaturwissenschaftlicher Terminus ist, darf man bezweifeln. Und doch ergänzt nun die von Thomas Raab herausgegebene "Neue Anthologie des schwarzen Humors" eine Reihe von Veröffentlichungen, die seit der Erstausgabe von André Bretons erster "Anthologie des schwarzen Humors", frz. "Anthologie de l'humour noir" (1940) zu dem Thema erschienen sind. Gleich in zweierlei Hinsicht stellt die "Neue Anthologie" eine Ergänzung dieser Reihe dar: Wissenschaftlich, da der Herausgeber in einem umfangreichen Vorwort seinen Begriff des schwarzen Humors transparent macht und dabei die theoretische Tradition fortführt. Und auch künstlerisch, denn Raab erschließt dem literarischen Publikum mit seiner Anthologie eine ganze Reihe von AutorInnen und Texten sowie einige Bilder.

Dass das Thema in jüngerer Zeit mehrere Menschen umtreibt, belegt neben gewissen Tendenzen in der Gegenwartsliteratur, die in der Anthologie teilweise zur Sprache kommen, vor allem der 2010 von Harold Bloom herausgegebene Sammelband "Dark Humor" (Bloom 2010). Die jetzt von Raab herausgegebene "Neue Anthologie" verstärkt den Eindruck, dass der Gegenstand derzeit mehrere Forscher beschäftigt. Möglicherweise gibt es ja Gründe dafür. Das Interesse an "Schwarzer Kunst", also auch an "schwarzem Humor", erlebt jedenfalls epochale Konjunkturen. Das war schon ein Gedanke Adornos, der seinen ästhetischen Imperativ des Schwarzen aus sehr konkreten historischen Umständen heraus erklärte und eine Zeit für denkbar hielt, in der Kunst wieder "heiter", d. h. auch: "klar" oder "hell" sein könne (Adorno 2003: 65–67).




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Auch die bisherige philologische Auseinandersetzung mit dem Thema kam zu dem Schluss, dass sich schwarzer Humor letztlich als Reaktion auf historische Krisenerfahrungen begreifen lässt. In Harold Blooms Sammelband werden ältere und neue Texte zum Thema zusammengeführt. Der Beitrag mit dem breitesten historischen Überblick darin ist Patrick O'Neills immer noch recht einschlägiger Aufsatz "The Comedy of Entropy: The Contexts of Black Humour" (zuerst 1983). O'Neill differenziert eine ältere These Gerd Hennigers, der den (schwarzen) Humor 1966 exklusiv an die Aufklärung gebunden hatte und macht bereits in der Renaissance und im Barock schwarzen Humor aus (Henniger 1966).1 Die besondere Humorform "schwarzer Humor" konzeptualisiert O'Neill, im Grunde ähnlich wie bereits Henniger, als Bewusstsein von Werteverlust und völliger Unordnung, das sich aktiv ausdrücke in einer "form of entropic humour which we may call 'metahumour'" (O'Neill 1983: 161). Das scheint ein gemeinsamer Nenner aller Theorien des schwarzen Humors zu sein: Sobald er von anderem Humor unterschieden wird, wird er als Reflexion auf die Machtlosigkeit von Werten und Normen verstanden, die zugleich als gültig und wichtig vorausgesetzt werden und vielleicht sogar als gültig und wichtig vorausgesetzt werden müssen. Gerade als solche Reflexion ist schwarzer Humor gegenstands- und zeitgebunden.

Auch das macht die "Neue Anthologie" interessant. In dem einleitenden Aufsatz, der durch seinen abwechselnd pathetischen, witzigen und humorvollen Ton zumindest zum Teil an seinem eigenen Thema partizipiert, werden zunächst eine Reihe von Merkmalen schwarzen Humors aufgezählt, von denen man so oder so ähnlich bereits gehört hat: Mit Freuds Theorie der Aufwandsersparnis wird zunächst ein Kriterium für Witz und Humor gewonnen (13). Von allgemeinem Humor wird sodann schwarzer unterschieden, indem auf die aggressive Grundhaltung des Schwarzhumoristen bei gleichzeitiger faktischer Unterlegenheit gegenüber dem kritisierten Objekt hingewiesen wird. (14) Diese Bestimmung setzt durchaus einen neuen Akzent, erinnert dabei aber an das Kriterium der Ohnmacht bzw. des Orientierungsverlustes, das bereits von O'Neill herausgestellt wurde. Das kritisierte Objekt wird näher bestimmt als starr und gesetzmäßig: "Die Zielscheibe jedes schwarzen Humors ist sehr auffällig immer etwas als starr Empfundenes und daher das Erleben Einschränkendes. Es ist ein sanktioniertes Gesetz." (22) Auch hier wird ein neuer Akzent gesetzt, aber der Gedanke weist gleichzeitig Überschneidungen mit älteren Komiktheorien auf. Zieht man den anarchistisch-vitalistischen Klang ab, könnte dies auch die allgemeine Komikdefinition Odo Marquards sein, der Joachim Ritter variierte und feststellte: "Komisch ist und zum Lachen bringt, was im offiziell Geltenden das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden läßt." (Marquard 1976: 141)




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Der Herausgeber geht aber noch einen Schritt weiter und gibt seiner Humortheorie ein (wissens-)soziologisches Gerüst. Zum einen wird die besondere Distinktionskraft schwarzen Humors herausgestellt. Schwarzhumoristen 'tauschen' demnach "Macht/Vermögen gegen das Überlegenheitsgefühl – d. h. "kulturelles Kapital" (Bourdieu) (19). Als Besonderheit aktuellen schwarzen Humors wird auf den seit Breton weiter zusammengeschrumpften metaphysischen Wertehintergrund und das kleinere bildungsbürgerliche Milieu hingewiesen. Provokation sei schwieriger geworden, da sich das Publikum in viele Geschmacksmilieus zerstreut habe, die von einander kaum noch etwas wissen wollen. Innerhalb dieser Geschmacksmilieus wiederum seien unterschiedliche Varianten schwarzen Humors entstanden, die nun aber, anders als zur Zeit Bretons, nicht mehr das Lebensgefühl einer ästhetischen Elite darstellen, sondern als Resultat des Konsums von Angeboten der Unterhaltungsindustrie verstanden werden müssen. Als solche bedienen sie die Nachfrage eines Geschmacks, der von anderen Geschmäckern gar nicht Notiz zu nehmen braucht und nicht die anstrengende, aber spannende Erfahrung machen muss, ästhetische Distanz zu den eigenen Interpretationsmodellen zu generieren. Man bleibt in seinem Geschmacksmilieu mit "gleichgesinnten Identitären" (29) unter sich. Erkennbar rekurriert Raab hier auch auf ältere Veröffentlichungen, in denen er eine kognitionsbiologisch und ökonomisch fundierte Theorie der Unterhaltungs- und Kunstindustrie vorgelegt hatte (v. a. "Nachbrenner", 2006, und "Avantgarde-Routine", 2008). Es handelt sich bei diesem "epidemischen" schwarzen Humor Raab zufolge mithin um eine Art von Pop- und Bubble-Humor, der seinerseits lediglich als Indikator für eine gesamtgesellschaftliche Atmosphäre, aber nicht als Erkenntnismittel gelten kann: "Die zeitgenössischen Autorinnen und Autoren in diesem Band eint dementsprechend, sich gegen die gesellschaftliche Großwetterlage, die sich in diesem allgemeinen Sarkasmus äußert, zur Wehr zu setzen." (27)

Die einzelnen Thesen Raabs müssten im Detail diskutiert und auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit hin überprüft werden; heuristischen Wert besitzen sie auf jeden Fall. Zudem müssen sie als engagierter Kommentar zum Zeitgeschehen verstanden werden. Und auch in dieser Hinsicht lohnt es sich, einen historischen Vergleich zu ziehen. Denn die Beschreibung Raabs weist überraschende Parallelen zu einer Gegenwartsdiagnose Emil Staigers auf, die 1966 Anlass des Zürcher Literaturstreits wurde. Der Literaturprofessor hatte bekanntlich, allerdings von einem konservativ-restaurativen und klassisch-bildungsbürgerlichen Standpunkt aus, ein Grassieren 'schwarzer Kunst' kritisiert. Das zeitgenössische Publikum sei fasziniert von Schauspielen, die "in lichtscheuen Räumen" stattfinden, den Leser in die "düstern Bereiche" des Lebens führen und ganz allgemein die "Finsternis" zum Kriterium guten Geschmacks erheben (Staiger 1966: 5). Doch während Staiger für eine Wende (zurück) zur heiteren Kunst plädierte, liegt Raab nichts ferner. Vielmehr fordert er sozusagen eine Flucht nach vorn, ins richtige Schwarz.




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Zu Heiterkeit ist auch kein Anlass, nimmt man das desaströse spätmoderne Panorama ernst, das Raab auf wenigen Seiten ausmalt. In diesem Zusammenhang müsse es "die erzieherische Aufgabe des schwarzen Humors sein, der Realität zu ihrem Recht zu verhelfen." (10) Diese Aufgabe könne aber nicht erfüllt werden, indem das gefällige, bloß marktkonforme Schwarze angereichert wird, das nur bestätigt, was das Publikum ohnehin schon gewusst hat. Der hier anvisierten 'schwarzen Pädagogik' geht es um eine Kunst, die erkenntnisstiftend wirken kann, indem sie Gewusstes infragestellt. Restlos schwarz ist diese Pädagogik aber nicht. Denn es bleibe, so Raab, durchaus spannend, ob "die Vorherrschaft des schwarzen Humors in den populären Künsten ein ahnungsvolles Merkmal des Niedergangs" (30) sei, oder ob es gelinge, die Aufklärung gegen Fundamentalismus und "das Doofe" bzw. die aufklärungsfeindlichen, "äußerst doofen Ideologien" (ebd.) zu retten.

Wie eine derart engagiert konzeptualisierte Kunst aussehen soll, kann nur die Textauswahl zeigen. Thomas Raab hat schließlich, ganz der didaktischen Intention entgegenkommend, eine Anthologie veröffentlicht, in der eine Reihe von Exempla das abstrakte Konzept konkretisieren und veranschaulichen helfen. Die Texte, die in dem Band versammelt wurden, entstanden schwerpunktmäßig seit der Aufklärung, aber es gibt durchaus auch Älteres. O'Neills literaturgeschichtliche Präzisierung wird dadurch bestätigt. Einige dieser Texte und Autoren, hauptsächlich, aber nicht nur aus der europäischen und amerikanischen Sphäre, sind alte Bekannte; der interessierte Leser wird sie bereits als Schwarzhumoristen kennen (z. B. Rabelais, Sterne, Gogol, Beckett). Andere Namen wirken in diesem Zusammenhang neu (etwa Franz Jung, Hans Arp, Viktor Šlovskij), und zeitgenössische AutorInnen sind ebenfalls vertreten (z. B. Stefanie Sargnagel, Kathrin Röggla, Franz Josef Czernin und Ferdinand Schmatz, Michel Houellebecq). Neues kommt auch deswegen in den Blick, weil Raab nicht nur in der schönen Literatur, sondern auch in der Philosophie (Demokrit, Stirner, Cioran), Musik (Frank Zappa, Cake), Psychologie (Skinner), Ethnologie und in den Wirtschaftswissenschaften Exemplare findet. Hinzu kommen Zeitungsmeldungen. All das und noch mehr wurde zusammengepflanzt zu einem makabren Garten, in dem der Leser sich nach Belieben verlieren kann. Manchmal handelt es sich nicht um intentionalen Humor, sondern um "Realsatiren", bzw. müsste man hier wohl sagen: "Realschwarzes", das deswegen nicht weniger witzig ist. Zudem erhält die Sammlung dadurch auch ganz unmittelbar etwas von dem dokumentarischen und zeitdiagnostischen Anspruch, den der Herausgeber im Vorwort formuliert hat. Manches wird der Leser vielleicht vermissen, aber wie lässt sich das vermeiden, bei einer Auswahl, die notwendig idiosynkratisch bleiben muss?




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Ob es sich wirklich bei allen herangezogenen Beispielen um Humor und dann auch noch um schwarzen handelt, muss offen bleiben. Denn ab wann Humor wirklich "schwarz" ist und nicht bloß grau oder noch heller, bleibt im Einzelfall eine interessante Streitfrage. Der Herausgeber erhebt zum Kriterium, dass man das Schwarze "deutlich verspürt" (13). Aber ob das Gefühl auch den Leser erfasst, hängt von diesem selbst ab. Immerhin: Der Herausgeber hilft ihm, ganz in der Linie Bretons, auf die Sprünge, indem er den meisten Texten in seinem erzieherischen 'Lehrbuch gegen unbegründete Fröhlichkeit' Interpretationsvorschläge und Hinweise auf die wichtigsten poetischen Mittel voranstellt. Auf diese Weise ist es nicht nur ein humorvolles Buch geworden, sondern auch ein persönliches. Es führt zahlreiche Texte zusammen, die fast ausnahmslos auf eine erhellende Weise verdüsternd sind.

Die Vorstellungen von dem, was schwarzer Humor ist, wird es nicht mehr so stark prägen wie die Anthologie Bretons. Aber es trägt zur Verfeinerung und Aktualisierung eines hilfreichen analytischen Begriffes bei und gibt, fast nebenher, eine engagierte Stellungnahme zur geistigen Situation der Zeit. Es bleibt zu hoffen, dass sie anregend wirkt. Gewinnbringend für die Forschung könnte es durchaus sein, auch nach dem Schicksal schwarzer Ausdrucksformen und Genres zu fragen, die nicht unbedingt Humor einschließen müssen, aber 'können'. Dass der roman noir oder das absurde Theater etwa auf die ein oder andere Weise äußerst lebendig und produktiv sind, scheint nach allem, was man in der "Neuen Anthologie des schwarzen Humors" über die Gegenwart lesen kann, jedenfalls nicht unwahrscheinlich zu sein.

Bibliographie

Adorno, Theodor W. (2003): Gesammelte Schriften, Bd. 7: Ästhetische Theorie. Hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Bloom, Harold (Hg.) (2010): Dark Humor, New York: Bloom' Literary Themes.

Henniger, Gerd (1966): "Zur Genealogie des schwarzen Humors", in: Neue Deutsche Hefte 13, H. 2, 18–34.

Hörhammer, Dieter (2010): "[Art.] Humor", in: Barck, Karlheinz [u. a.] (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart: Metzler, 66–85




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Marquard, Odo (1976): "Exile der Heiterkeit", in: Preisendanz, Wolfgang (Hg.): Das Komische, München: Fink, 133–152.

O'Neill, Patrick (1983): "The Comedy of Entropy. The Contexts of Black Humour", in: Canadian Review of Comparative Literature 10, H. 2, 145 –166.

Staiger, Emil (1966): Literatur und Oeffentlichkeit. In: Neue Züricher Zeitung vom 20. Dezember, 5 f.


Anmerkungen

1 Bis zum 18. Jahrhundert habe zwar eine immer weitergehende Differenzierung des spöttisch-aggressiven Renaissance- und Barockhumors in einen heiteren und in einen schwarzen Humor stattgefunden. Doch diese Varianten seien im literarischen Humor beispielsweise des 16. und 17. Jahrhunderts bereits latent und vereinzelt enthalten gewesen. (O'Neill 1983: 155 f.) Die Überlegungen O'Neills zur Entwicklung des Humors decken sich grob mit der Begriffsgeschichte: Der Begriff "humor" aus der mittelalterlichen Säftelehre hat erst ab dem Ende des 16. Jahrhunderts, zunächst in England, Schritt für Schritt eine Bedeutungsänderung erfahren und bezeichnete schließlich eine attraktive Eigenschaft oder eine spezifische Darstellungsweise (vgl. Hörhammer 2010: 69–72.). Nun war die Sache zwar sicherlich schon vor dem Wort da – aber an der Begriffsgeschichte kann vermutlich durchaus eine Differenzierung und "Institutionalisierung" komischer Ausdrucksformen abgelesen werden.