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Jan T. Schlosser (Aalborg)



"Und las angesichts des spiegelglatten Asphalts". Franz Hessels Spazieren in Berlin und Julius Rodenbergs Bilder aus dem Berliner Leben



Franz Hessel's Spazieren in Berlin and Julius Rodenberg's Bilder aus dem Berliner Leben
For the first time the intertextual relations between Franz Hessel’s Spazieren in Berlin (1929) and Julius Rodenberg's Bilder aus dem Berliner Leben (1885–1888) are examined in this paper. Although Franz Hessel does not mention Julius Rodenberg in his Berlin book Rodenberg is an important inspiration in Hessel’s text.


1 Forschungslage

In diesem Aufsatz werden erstmals intertextuelle Verbindungslinien zwischen Julius Rodenbergs Bilder aus dem Berliner Leben (Buchausgabe 1885–1888) und Franz Hessels Spazieren in Berlin (1929) untersucht.

Obgleich in der Forschung bereits Kongruenzen Hessels zu Walter Benjamin, Ernst Jünger und Alfred Döblin konstatiert wurden (vgl. Schlosser 2013), ist es angebracht, die intellektuellen Referenzen zu erweitern, auf die sich Hessel bezieht – nicht zuletzt, weil sich seit der 2011 erfolgten Neuausgabe von Spazieren in Berlin (vgl. Hessel 2011) ein gesteigertes Interesse an seinem Werk feststellen lässt. Ein Beleg dafür ist zum Beispiel die Publikation seiner Frauenporträts unter dem Titel Schöne Berlinerinnen (vgl. Hessel 2015).




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Im Nachwort von Spazieren in Berlin schreibt er: "Zum Schluß müßte ich nun eigentlich auch einige 'Bildungserlebnisse' beichten und gestehn, aus welchen Büchern ich lerne, was nicht einfach mit Augen zu sehen ist, und manches, was ich sah, besser zu sehen lerne" (Hessel 2011: 220). Obwohl Rodenberg in Spazieren in Berlin kein einziges Mal namentlich erwähnt wird, ist es die These des vorliegenden Aufsatzes, dass von Rodenberg wesentliche Impulse auf Hessel ausgehen, die dessen Beschäftigung mit Rodenberg als eine intendierte intertextuelle Strategie ausweisen (vgl. Helbig 1996). Das Herausarbeiten dieser intertextuellen Verbindungen ist relevant, da sie die Originalität eines wesentlichen Textes der Berlin-Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – von Spazieren in Berlin – zu problematisieren vermögen.

Diese intertextuellen Markierungen sind in der bisherigen Forschung unbemerkt geblieben (vgl. Banchelli 1997; Müller 1997; Potdevin 1998; Zauner-Schneider 2006). Eckhardt Köhn behauptet sogar, dass Hessel "nicht vertraut mit der Geschichte seiner Vorgänger" (Köhn 1989: 179) sei. Rüdiger Severin betont – ohne Rodenberg-Zitate heranzuziehen – lediglich an einer Stelle seines Buches "die Nähe Hessels in diesem Punkt zu Julius Rodenberg" (Severin 1988: 199): Hessel ironisiere wie Rodenberg den "Fremdenführerdiskurs, indem er immer wieder die attraktiven Touristenziele mit den unscheinbaren Beobachtungen des Flaneurs kontrastiert" (ebd.).

Heinz Knobloch kommt das Verdienst zu, Rodenbergs Texte anlässlich der 750-Jahrfeier Berlins im Jahre 1987 gesammelt und unter dem Titel Bilder aus dem Berliner Leben erneut herausgegeben zu haben. Kritisch merkt Knobloch an, "der Berliner Leser hätte einen seiner guten Stadtschilderer in besserer Erinnerung halten müssen" (Knobloch 1987: 364). Eben dies tat Franz Hessel mit Julius Rodenberg in Spazieren in Berlin, dessen Untertitel in der Erstausgabe Ein Bilderbuch in Worten lautete. Trotz seines profunden Wissens hat auch Knobloch die intertextuellen Referenzen in Spazieren in Berlin nicht bemerkt. Lobend hebt er jedoch hervor, dass die DDR der Berliner Rodenbergstraße (Prenzlauer Berg) nach ihrer Umbenennung in der NS-Zeit ihren 1901 erhaltenen Namen zurückgegeben und damit Geschichtsbewusstsein bewiesen habe (ebd.: 356). Kritisch blickt Knobloch allerdings auf die 1973 in Ost-Berlin erfolgte Einebnung von Rodenbergs Grab.

Was Bernd Witte in Bezug auf Hessels Position festgestellt hat, gilt ebenfalls für Rodenbergs Berliner Spaziergänge. Die Stadt sei "für ihn ein Erinnerungsort der besonderen Art […] In ihr tritt ihm die Geschichte der vielen Generationen, die vor ihm an diesem Ort gelebt haben, plastisch und sinnlich vor Augen" (Witte 2011: 224). Rodenberg und Hessel bewegen sich in einer Stadt, die nicht zum Verweilen einlädt. Beide treten weniger als Akteure denn als aufmerksame Beobachter eines kulturellen Paradigmenwechsels hervor. Sie nehmen eine mentale Standortbestimmung des historisch bewussten Menschen in einer beschleunigten Modernität vor.




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2 Komposition und Wahrnehmungsmodus

Der Band Bilder aus dem Berliner Leben enthält acht Texte Rodenbergs, von denen fünf (Sp: Der Verdächtige = Bi: Sonntag vor dem Landsberger Tor; Sp: Rundfahrt = Bi: Im Herzen von Berlin; Sp: Der Kreuzberg = Bi: Die Kreuzberg-Gegend; Sp: Norden = Bi: Der Norden Berlins; Sp: Friedrichstadt = Bi: Unter den Linden) nicht nur diejenigen Stadtteile in den Mittelpunkt stellen, die Hessel in fünf entsprechenden Kapiteln besucht, sondern auch von Hessel behandelte thematische Schwerpunkte setzen. Diese kompositorischen Kongruenzen lassen sich erweitern, da Hessel mehrmals Stadtteile oder Lokalitäten in der von Rodenberg vorgegebenen Reihenfolge aufsucht. In die Kreuzberg-Gegend schildert Rodenberg zum Beispiel zunächst Kreuzberg mit dem Viktoriapark und sodann Tempelhof und die Hasenheide. Diese Komposition greift Hessel auf. Nach Der Kreuzberg folgen bei Hessel sofort die Kapitel Tempelhof und Hasenheide. Bemerkenswert ist auch, dass Hessels Rundfahrt, das mit Abstand umfangreichste Kapitel in Spazieren in Berlin, in thematischer Hinsicht dem längsten der obigen fünf Rodenberg-Texte entspricht: Im Herzen von Berlin.

In Die letzte Pappel stimmt Rodenberg ein Loblied auf das prämoderne Leben an. Er entwirft das Bild eines ländlichen Berlins, das sich als ein Ort des Idylls und des Verweilens manifestiert: "Gärten waren da, mit kleinen, niedrigen, einstöckigen Häuschen und gemütlichen Leuten darin, denen man in die Fenster sehen konnte, wenn man vorüberging. […] Still war es hier wie auf dem Lande" (Rodenberg 1987: 6). Die Entwicklung Berlins von einer preußischen Residenzstadt zur urbanen Metropole des neugegründeten Deutschen Reichs führt dazu, dass "die Wiesen sich in Baugrund verwandelten" (ebd.: 7). Land wird zum Spekulationsobjekt und zur Konkretisierung der urbanen Verdichtung der modernen Großstadt Berlin.

"Mit einem süßen Reiz der Wehmut" (ebd.: 15) betrachtet der Spaziergänger Rodenberg "Reste der Vergangenheit" (ebd.: 27) und "Andenken aus alter Zeit" (ebd.: 16) – Hessel nennt diese "Erinnerungsstücke" (Hessel 2011: 26) –, sieht sich aber in den von der "baulichen Umgestaltung Berlins" (Rodenberg 1987: 193) geprägten Gründerjahren vor allem mit einer "sich überstürzenden Menge des Neuen" (ebd.: 7) in einer sich "nach Osten und Westen, nach Süden und Norden" (ebd.: 193) ausdehnenden Urbanität konfrontiert. Rodenbergs Suche kreist zunächst um Orte, an denen "kein Durchgang und Verkehr ist" (ebd.: 31). Er möchte die Kultur in Zeit und Raum verankert sehen und tritt als Fürsprecher kultureller Kontinuität auf.




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Hessel unterstreicht, dass das prämoderne Berlin mit modernen Verkehrsmitteln nicht erreichbar sei: "Unser Wagen fährt zu eilig, um das alles anzusehn, wir müssen es auf eine Fußwanderung durch die Straßen und die nahen Gassen am Fluß verschieben" (Hessel 2011: 69). Das Spazierengehen sei die adäquate Form, um Alt-Berlin zu erschließen. Hessel stellt sich die Aufgabe, die "rein erhaltene Vergangenheit" (ebd.: 104) zu lokalisieren und das "Bild der alten Zeiten […] um 1800" (ebd.: 98) freizulegen. Gebäude und Plätze versucht er sich immer "in alten Zeiten vorzustellen" (ebd.: 109). Kulturelle Kontinuität sei dort zu finden, wo die "gute alte Zeit bewahrt" (ebd.: 139) sei. Das Spazieren dient dem Ziel, "etwas der ursprünglichen Bedeutung Entsprechendes" (ebd.: 154) zu lokalisieren: "Ich möchte beim Ersten Blick verweilen. Ich möchte den Ersten Blick auf die Stadt, in der ich lebe, gewinnen oder wiederfinden" (ebd.: 19).

Auch die Methode Rodenbergs besteht darin, vor "ganz in ihrer ursprünglichen Gestalt" (Rodenberg 1987: 275) erhaltenen Berliner Gebäuden stehenzubleiben, um dort Erinnerungen freizusetzen: "Aber mitten in dieser Rast- und Ruhelosigkeit hat sich doch noch hier und dort, in einem geschützten Eckchen, etwas erhalten, was die Züge der alten Zeit bewahrt" (ebd.: 340). Durch seine Stadtspaziergänge wird er selbst ein Teil der Geschichte:

Es ist die Wirklichkeit ergreifender oder erhebender Schicksale, eine lange Kette von Wandlungen, Untergängen und Neubildungen, und indem ich ihnen weit hinaus in die Jahrhunderte folge von dem beschränkten Platz, an dem ich stehe, werde ich ein Teil der Geschichte selber, verkehre mit den Personen und den Dingen, die vor mir gewesen, und kehre bereichert zu denen zurück, die mit mir sind (ebd.: 200).

Rodenberg und Hessel etablieren einen historischen Ort, indem sie verweilen und die Berliner beobachten. Bei Rodenberg heißt es: "Es macht mir das größte Vergnügen, sie zu beobachten, mit einem harmlosen Blick" (ebd.: 18). Hessel greift Rodenbergs Ansatz des "harmlosen Blicks" auf. Hessel erwähnt den "Zeitlupenblick des harmlosen Zuschauers" (Hessel 2011: 19). Es ist das "Schauspiel des Flanierens, ein ungewohntes in dem arbeitssamen Berlin" (Rodenberg 1987: 334), dessen sich bereits Rodenberg bedient. Für Rodenberg und Hessel ist das Flanieren derjenige Fortbewegungsmodus, der die notwendige Distanz zum Tempo der modernen Großstadt schafft und der eine Beobachtung ihrer Stadtteile und Einwohner ermöglicht. Hessels Verfahren, "zwischen den Geschäftigen zu flanieren" (Hessel 2011: 19), lässt ihn die "verdächtige Rolle des Zuschauers" (ebd.: 20) einnehmen. Schon dem bedächtig schlendernden Rodenberg begegnen die Berliner mit dem Misstrauen, das auch Hessel Jahrzehnte später thematisiert: "'Wie kommen Sie hierher? Was haben Sie hier zu tun?'" (Rodenberg 1987: 18). Während Hessel "misstrauische Blicke" (Hessel 2011: 19) erntet und sich während seiner Rundfahrt durch Berlin im beginnenden Zeitalter des Massentourismus "umgeben von echten Fremden" (ebd.: 53) fühlt, wähnt Rodenberg sich als "ein Fremder unter Fremden" (Rodenberg 1987: 18). Die Stigmatisierung des sich in der Großstadt langsam Fortbewegenden ist in beiden Texten evident. Vor allem die vermeintliche Ziellosigkeit lässt Rodenberg und Hessel verdächtig erscheinen.




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3 Berlin in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Die Bilder aus dem Berliner Leben sind geprägt von einem beständigen Schwanken zwischen Akzeptanz und Ablehnung des neuen Berlins:

Auf dem trockenen Bette des Weiland Königsgrabens erheben sich die Strukturen eines anderen Werkes, der Stadtbahn, welche so recht im Geist der neueren Zeit rücksichtslos fortschreitet durch unsere Straßen, zerstört, was ihr im Wege ist, und bald mit ihrem steinernen Ring uns umschlossen haben wird; auch eine Stadtmauer, aber eine andere, als die einst hier gewesen, eine, auf der Leben und Bewegung ist, die den Verkehr beschleunigt, welchen jene gehemmt hat. Oh, über die gute, alte Zeit, wo jeder noch seine Bequemlichkeit und seine Ruhe hatte! […] Wo noch kein Gerassel von Omnibussen war und kein Geklingel von Pferdebahnen, keine Kanalisationsarbeit (ebd.: 22f.).

Die S-Bahn erfährt Rodenberg als gnadenlose Zerstörerin Alt-Berlins. Sie symbolisiert die modernen Beschleunigungsprozesse, so dass er im Bahndamm die Errichtung einer neuen Stadtmauer erblickt. Hessel greift Rodenbergs Ansatz auf, als er erwähnt, dass die S-Bahn "eine Art neue Stadtmauer um das ältere Berlin baut" (Hessel 2011: 142).

Im Text In den Zelten revidiert Rodenberg seine negative Bewertung der S-Bahn, denn – so lautet die rhetorische Frage – "ist sie selber nicht ein Werk, welches an Kühnheit der Konzeption und Großartigkeit der Ausführung sich wohl messen darf mit jedem altrömischen Viadukt, dessen Trümmer wir heute noch ehrfurchtsvoll anstaunen?" (Rodenberg 1987: 68). Rodenberg ordnet die S-Bahn in einen historischen Kontext ein. Die Versöhnung mit den Beschleunigungsbewegungen erreicht durch die Ästhetisierung der S-Bahn ihren Höhepunkt. Zwei Zitate mögen als Beleg herangezogen werden: "Auf der Stadtbahn, in schöner Kurve, gleitet ein erleuchteter Zug dahin" (ebd.: 93); "Oben gleitet, leicht und graziös, in kühn geschwungener Linie, Zug um Zug dahin, mit der Dampfwolke hinter sich" (ebd.: 352).

Der Spaziergänger wird mit "der beständigen Bewegung von Menschen und Wagen" (Rodenberg 1987: 154) konfrontiert. Dennoch ist Rodenberg erfüllt von "einem wundersam frohen Vorgefühl der Zukunft" (Rodenberg 1987: 155). Nach Hessels einleitendem Kapitel Der Verdächtige wird in vier Kapiteln das moderne Großstadtleben der späten 1920er Jahre entfaltet. Hessel "will mit der Zukunft anfangen" (Hessel 2011: 23). Die Hauptthemen dieser Kapitel sind Architektur, Technik, Arbeit, Mode und städtisches Nachtleben. Hessels Position entspricht dem anzustrebenden Verhalten zukünftiger Berliner: Kontemplation inmitten der Modernität. "Wir wollen nicht verweilen" (ebd.: 213) schreibt Hessel, für den die Akzeptanz des modernen Tempos auf ein finales Ziel, auf einen Umschlagpunkt ausgerichtet ist (vgl. Lindner 1994).




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Gehuldigt wird nicht dem zeitgenössischen Berlin der 1920er Jahre, sondern einer Zukunft, die Berlin wieder als Ort kultureller Kontinuität und sozialer Beziehungen etablieren soll: "Dieses neue, werdende Berlin vermag ich noch nicht zu schildern, ich kann es nur preisen" (ebd.: 158). Bei Rodenberg lässt sich ebenfalls Sympathie für die Transformation Berlins in eine moderne Metropole feststellen: "Aber das Werdende, Ringende freut das Auge; man hat auch hier das Gefühl, mitten in einer mächtigen Entwicklung zu sein" (Rodenberg 1987: 175).

Hessels Berliner der Zukunft sind dazu in der Lage, das moderne Leben kontemplativ zu betrachten. Hessel strebt den Eintritt in ein neues, von der Gegenwart unterscheidbares Zeitalter an. Die Gegenwart wird als dynamische Übergangsphase interpretiert. Jenseits des Umschlagpunktes soll sich ein neuer, kontemplativerer Großstadtmensch herausbilden. Über Dahlem heißt es: "Dieser Vorort ist eine der Gegenden, wo die Berliner der kommenden Zeit wohnen, ein Menschenschlag, bei dem die Abgehetztheit der Väter, die 'zu nichts kamen', weil sie zuviel zu tun hatten, in eine freie heitere Beweglichkeit sich umzuwandeln scheint" (Hessel 2011: 216). Die moderne Technik ist das Mittel zur Erreichung des Ziels eines kontemplativen Berliners der Zukunft. Der Technik kommt die Funktion einer Beschleunigung der Übergangsphase vor. Im Nachwort fordert Hessel die Berliner dazu auf, die Fragmente ihrer Stadt solange mit einem kontemplativen Blick zu betrachten, bis ihre Ganzheitsästhetik ersichtlich wird.

Hessel muss sich "um die Vergangenheit und Zukunft dieser Stadt kümmern, dieser Stadt, die immer unterwegs, immer im Begriff, anders zu werden, ist" (ebd.: 23). Rodenberg wähnt sich in einem Übergangsstadium: "Wir befinden uns in einem Übergangsstadium, Straßen, Häuser und Menschen; und von dem Alten wird bald wenig genug mehr zu sehen sein" (Rodenberg 1987: 161). Vor allem das Scheunenviertel schildert Hessel gleichfalls als einen Raum des beschleunigten Übergangs: "Wo Altes verschwindet und Neues entsteht, siedelt sich in den Ruinen die Übergangswelt aus Zerfall, Unrast und Not an" (Hessel 2011: 163). Das Provisorische weist Berlin als einen urbanen Raum aus, für den "Abbruch und Aufbau, Ruinenstadt und werdende Stadt" (ebd.: 142) charakteristisch seien.

Die Antizipation einer besseren Zukunft ist ein zentrales Movens in Spazieren in Berlin. Hessel bewertet den Bau moderner Wohnkomplexe wie der Hufeisensiedlung positiv, da die neuen Siedlungen "Hunderte und Tausende aus Wohnungsnot und Mietskasernenelend in Luft und Licht retten sollen" (ebd.: 23). Rodenberg schreibt: "Jedoch andere Vorzüge haben diese neuen Stadtviertel, welche den älteren fehlen. Sie haben mehr Luft, mehr Licht und mehr Grün" (Rodenberg 1987: 103). Rodenbergs Überlegungen münden in ein Lob der Zweckmäßigkeit der neuen Wohnbauten, deren Komfort die Qualität vormaliger "gesundheitsschädlicher" (ebd.) Wohnräume in den Schatten stellt:




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Ich will hier gar nicht auf das Innere dieser Häuser eingehen, von denen die meisten keine Wasserleitung und keine Badestuben, dagegen allesamt dunkle Schlafzimmer, enge Korridore und das odiöse Berliner Zimmer hatten – eine Erfindung, auf welche die Berliner Baukunst stolz sein durfte, ein Durchgangszimmer, durch welches, auch wenn die Familie bei Tische saß und große Feten gab, die ganze Passage ging (ebd.: 102).

Auch Hessel verweist in seinem Tempelhof-Kapitel darauf, dass die neuen Wohnblöcke "ohne Berliner Zimmer" (Hessel 2011: 151) gestaltet würden.

Sozialpolitische Maßnahmen des frühen Wilhelminismus werden von Rodenberg als "Fortschritte" (Rodenberg 1987: 167) bezeichnet: "Wie trefflich in dieser Stadt für die heranwachsende Jugend gesorgt ist, beides, für ihren Unterricht und ihre Gesundheit. […] Ja, ja – die gute, alte Zeit hatte manches, was uns dermalen abhanden gekommen; solche Schulhäuser aber hatte sie nicht" (ebd.: 33). Rodenberg verharmlost offenkundig soziale Probleme des Industriezeitalters: "Für den Wanderer, der hierherkommt, ist es ein erfreuender Anblick, zu sehen, wie für das heranwachsende Geschlecht überall in dieser Stadt gesorgt ist […] unter Fabriken und Schornsteinen, Scharen fröhlicher Kinder zu begegnen" (ebd.: 166).

Fehlende Sensibilität für die Interessen der Arbeiterklasse zeigt Rodenberg bei der Schilderung der Proletarierviertel im Osten Berlins: "Zufrieden und müßig sitzen diese Leute beisammen. Die Frauen stricken, die Männer spielen Karten" (ebd.: 42). Das Ideal bürgerlichen Glücks wird auf die Proletarier projiziert: "So lang es noch frohe Menschen gibt, ist gut sein auf der Welt. Wir können an ihrem Laufe nichts ändern, und das Bild eines mäßigen bürgerlichen Glücks ist mir das liebste von allen Bildern aus dem Berliner Leben" (ebd.: 49). Julius Rodenberg – der Herausgeber der Deutschen Rundschau – glaubt nicht an die politische oder soziale Veränderbarkeit der Berliner Wirklichkeit im zu Ende gehenden 19. Jahrhundert,1 er versucht diese vielmehr zu behindern, indem er auf das Beispiel des 'Wohltäters' August Borsig verweist: "Unter solchen Einflüssen wächst das jüngere Geschlecht der Arbeiter heran, und hier wenigstens scheint kein Boden zu sein für den sozialen Unfrieden, wo der Geist Borsigs gleichsam noch persönlich fortwirkt, und sein Beispiel zeigt, was jeder auf dem Wege redlicher Arbeit zu erreichen vermag" (ebd.: 61).




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In den Vierteln nördlich von Mitte beobachtet Rodenberg, wie die Arbeiter das Bild der modernen Metropole prägen: "Und welches Durcheinander von Pferdebahnwagen, Omnibussen und Menschen! Denn dies ist die Stunde, wo die Fabriken schließen und die Arbeiter heimkehren […] Denn die ganze Schar der Arbeiter wälzt sich hier in dichter Masse dem Wandernden entgegen" (ebd.: 143). Hessel hingegen, der die miserablen Wohnbedingungen der Proletarier unterstreicht, setzt mit seiner Beschreibung der Arbeiter sozialkritische Akzente: "Auch in den Gesichtern derer, die gegen Abend aus den Hallen der Ringbahnhöfe Wedding und Gesundbrunnen kommen und durch die Straßen oder an Zäunen und Baustellen entlang ins Trostlose heimtrotten, steht allerlei geschrieben" (Hessel 2011: 178).

Der Schilderung der heimkehrenden Arbeiter schließt sich – nach der Erwähnung vom "Humboldthain" (ebd.; Rodenberg 1987: 145) in beiden Texten – sowohl in Hessels Kapitel Norden wie in Rodenbergs Der Norden Berlins eine Darstellung des Theaters von Mutter Gräbert am Weinbergsweg an. Hessel besucht das Nachfolgetheater von Gräberts Theater: "Ich war noch am Weinbergweg, wo in alter Zeit Mutter Gräberts berühmtes Stullentheater geblüht haben soll und noch jetzt eins blüht" (Hessel 2011: 180). Rodenberg pointiert, die Prinzipalin Mutter Gräbert "noch gekannt und gesehen" (Rodenberg 1987: 148) zu haben. Er konstatiert eine Kulturzerstörung:

Das Vorstädtische Theater der Mutter Gräbert. Wer weiß jetzt noch von dieser einst so populären Figur und wer noch von ihrem Theater, welches unter dem Namen "Germania-Theater" eine Weile gegen den Wind und das Wetter weiterkämpfte, bis es heut, an diesem Frühlingsnachmittag, als ein vollständiges Wrack vor mir liegt – eine Ruine, von der morgen nichts mehr zu sehen sein wird. Und ich hab es doch in seiner Glorie gekannt […] Freilich, mehr Poesie war in der Welt, als Mutter Gräbert noch lebte und Herr Queva noch sang, da, wo jetzt Fabriken sind, hin- und hergehende Lokomotiven, hohe Häuser, Rauch und Lärm (ebd.: 145, 163).

Hessel unterstreicht, was Rodenbergs kulturpessimistische Diagnose unterschlägt, nämlich die Aufgeschlossenheit der Arbeiter für das Kulturangebot Theater. Hessel erlebt den Theatersaal "voll dankbarer Einwohner" (Hessel 2011: 180) und schildert das Berliner Theaterleben als einen Ort kultureller Kontinuität. Eben diese vermisst Rodenberg am Weinbergsweg.

Hessel besucht "Altberliner Kirchhöfe, wo man noch eine ganze Reihe schöner Grabmonumente zu sehen bekommt" (ebd.: 181). Wenngleich Rodenberg nur abschätziges Interesse am Friedhof der Märzgefallenen (1848) – "Noch ein stiller Ort ist hier […] diese hier haben kein anderes Denkmal als halbeingesunkene Gräber und da und dort einen verwelkten Kranz. Und es ist gut so" (Rodenberg 1987: 39f.) – zeigt, stehen Friedhöfe mehrmals im Zentrum seiner Überlegungen. Beim Besuch des Armenfriedhofs betont er ein fehlendes soziales Netzwerk der sozial Benachteiligten, die in anonymen Gräbern ruhen:




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Die hier ruhen, die meisten von ihnen, mögen wohl weder Freunde noch Verwandte haben; sie lebten einsam und sie starben einsam in dieser großen Stadt, und die Stadt ließ sie hier begraben. […] Und doch ist es ein trauriger Anblick, sie so daliegen zu sehen, ohne Hügel, ohne Rasen, Grab flach neben Grab, jegliches mit einem schwarzen Pfahl zu Häupten und einer Nummer daran (ebd.: 47).

4 Positionen zum Wilhelminismus

Rodenberg fühlt sich einer Generation des Übergangsstadiums zugehörig, die zwischen der Revolution 1848 und der Reichsgründung schwebe und um geistige und mentale Zugehörigkeit und Kontinuität ringe: "Die Welt von 1866 und 1870 verstand die von 1848 nicht mehr […] Wir freilich, in der Dämmerung zwischen den Zeiten, konnten kein deutliches Bewußtsein haben, weder von dem, was darin untergehen, noch von dem, was sich daraus emporringen sollte. Viel später erst, im Rückblick, ist uns alles klar geworden" (ebd.: 319). Während Rodenberg die Revolution von 1848 ablehnt, schildert Hessel mit Wohlwollen, wie Friedrich Wilhelm IV. auf dem Stadtschlossbalkon erscheinen musste, "um die Bürgerleichen zu sehen" (Hessel 2011: 81). Hessel bewertet die Tiergarten-Zelte als "eine Stätte verhalten maßvoller Revolution" (ebd.: 108). Die Zelte lokalisiert er als einen historischen Ort, dem sowohl im März 1848 als auch im November 1918 revolutionäre Bedeutung als Versammlungsort für "Druck- und Redefreiheit" (ebd.) zukam. Die Ablehnung der Revolution von 1848 und die Zustimmung zum Kaiserreich widerspiegelt sich hingegen in Rodenbergs Bewertung der Zelte: "Das Jahr 1848 bezeichnet ihren vollständigen Niedergang. […] Ihr Wiederaufschwung beginnt mit Anfang der siebziger Jahre […] es ist das historische Zelt" (Rodenberg 1987: 94), welches in der Epoche der deutschen Romantiker seine Glanzzeit erlebte. Das Berlin der Romantik wird als ein urbaner Raum kultureller Kontinuität beschrieben.

Im Tiergarten "werden die alten, glücklichen Erinnerungen wach" (ebd.: 132). Das trifft auch auf Hessel zu. Er spaziert durch den Tiergarten, um den Apoll seiner Kindheit wiederzufinden. Das Unterfangen gelingt gerade deshalb, weil Hessel "ohne bestimmte Richtung" (Hessel 2011: 135) geht. Der Tiergarten besitzt für den Abgeschiedenheit von der modernen Großstadt suchenden Spaziergänger Rodenberg besondere Anziehungskraft: "Diesen Weg geht niemand; hier bin ich allein. Die andern lieben die Sonne, die Helligkeit, die breite Straße, den Lärm der Promenade […] ich liebe den Schatten, die Dämmerung, den schmalen Heckenweg, die Stille, die Einsamkeit" (Rodenberg 1987: 51). Franz Hessel beginnt sein Kapitel Tiergarten mit den Worten "Herbstsonntag. Dämmerung" (Hessel 2011: 134). Er registriert die "auf den vielen, vielen ins Halb- und Ganzdunkel verstreuten Bänken an den schlängelnden Pfaden sitzen[den] Liebespaare" (ebd.), auf die zuvor schon Rodenberg aufmerksam gemacht hatte, denn "auf den Bänken, unter Rosen, sitzen Liebende" (Rodenberg 1987: 52).




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Rodenbergs Identifikation mit dem deutschen Kaiserreich wird an seiner Beschreibung der Siegessäule erkennbar: "Die Siegessäule – von allen Siegesdenkmalen Berlins, wenn nicht das künstlerisch untadelhafteste, so doch dasjenige, welches am meisten uns gehört – uns den Lebenden, unsere Säule […] der Helm lodert, die Standarte blitzt, das eiserne Kreuz strahlt" (ebd.). In dieser Passage erweist Rodenberg sich als Hurrapatriot, an dessen Zustimmung zur Reichsgründung 1871 durch Siege in drei vorherigen Kriegen gegen Nachbarländer kein Zweifel aufkommt. Hessel bescheinigt der Siegessäule jedoch, dass sie "trotz der Kanonen etwas Harmloses hat" (Hessel 2011: 106). Der Königsplatz vor dem Reichstag präsentiert sich nun aus Rodenbergs Sicht als ein geschichtsträchtiger Ort: "Dreimal haben diese Kanonen gedonnert und in sechs Jahren der Welt im allgemeinen und diesem Königsplatz insbesondere ein anderes Aussehen gegeben – bunte Siegesmosaiken, wo früher nichts oder, ärger als das Nichts, wo Sand und Wüstenei war" (Rodenberg 1987: 53).

Rodenbergs Spaziergang durch Berlin gerät zur Huldigung des Wilhelminismus und deutschen Nationalismus. "Daß es die nationale Dichtung war, welche der politischen Wiedergeburt unseres Volkes den Boden bereitet hat" (ebd.: 284), wird von Rodenberg betont, der zudem von der "überwältigenden Kundgebung des Einheitsgefühls" (ebd.) spricht. Die Huldigung des Typus des preußischen Offiziers und seiner Kriegslust antizipiert sogar die Kriegsbegeisterung vom Sommer 1914 (Rodenberg starb im Juli 1914): "Mit Stolz blicken wir heut auf den preußischen Offizier, das Muster ebenso sehr der Tapferkeit und Mannszucht, als des ritterlichen Anstandes und höflichen Betragens. […] Was ihnen fehlte, war die Gelegenheit, sich zu zeigen, der Krieg, der Erfolg; und alles dies haben sie seitdem in reichstem Maße gehabt" (ebd.: 334). Hessel dagegen lobt die "lehrreiche Sammlung" (Hessel 2011: 72) eines Antikriegsmuseums in Mitte und plädiert vor allem im Tempelhof-Kapitel für ein demokratisches und antinationalistisches Deutschland. Die politische Naivität Hessels besteht jedoch in dem Irrglauben, Berlin entwickle sich ausschließlich zu einer weltoffenen und kosmopolitischen Stadt. In Anbetracht des untergegangenen Kaiserreichs wähnt er das Ende des deutschen Militarismus gekommen.

Der Bau der Kaiser-Wilhelm-Straße (heute Karl-Liebknecht-Straße) in Mitte schaffe soziale Verbesserungen, beseitige jedoch Alt-Berlin:




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Wie ein Reinigungswerk ist die Demolierungsarbeit der Kaiser-Wilhelm-Straße durch die schmutzigsten und verrufensten Quartiere von Alt-Berlin mitten durch gegangen und hat sie niedergelegt. Und zum ersten Male jetzt wehte die Luft des Himmels herein, schien die Sonne herab in Gassen und Gäßchen, die vom Unrat der Jahrhunderte starrten und durch Jahrhunderte von den dicht angrenzenden Straßen getrennt zu sein schienen. Da ist nicht viel zu lamentieren. Aber mit dem, was niemand bedauert, wurde doch auch manches zum Untergange verurteilt, was ein pietätvolles Herz weniger leicht preisgeben mochte – so mancher Straßendurchblick, der uns ein letztes Bild gab von dem alten, ehemaligen Berlin – so mancher malerische Winkel, auf den man plötzlich stieß, wie auf den übriggebliebenen Rest einer versunkenen Welt – so manches Haus mit historischem Charakter […] es mußte geschehen, wenn dem ungeheuern Wachstum Berlin die freie Zirkulation und Entfaltung gesichert, wenn dem immer stärker anschwellenden Strome seines Verkehrs der Weg gewiesen werden solle (Rodenberg 1987: 190f.).

Rodenbergs Akzeptanz des Verlusts von kultureller Kontinuität beruht auf der Hoffnung der zukünftigen Historisierung der Kaiser-Wilhelm-Straße: "Von den großartigen Baudenkmälern unserer Epoche wird, wenn sie vollendet, diese Straße das großartigste sein, in den Augen späterer Geschlechter vielleicht lange noch das erkennbare Zeichen für das Berlin Kaiser Wilhelms" (ebd.: 192).

Hessel bewertet die wilhelminische Architektur kritischer als Rodenberg. Das "Wilhelminische Spiel mit alten Stilen" (Hessel 2011: 62) lehnt er ab. Die Gedächtniskirche wird von Hessel als ein "massives Verkehrshindernis" (Hessel 2011: 114) synthetisch hergestellter Vergangenheit eingestuft, Historismus bedeutet Hessel zufolge fehlende Authentizität: "Ach, wenn hier eine echte alte Kirche stünde" (ebd.), wäre ein Ort kultureller Kontinuität etabliert.

Wie Hessel thematisiert Rodenberg die Transformation der Gegend um den heutigen Bahnhof Friedrichstraße, wo "die vormals ländliche Gegend des Schiffbauerdamms sich mit den Häusern der Friedrich-Wilhelm-Stadt bedeckt hat" (Rodenberg 1987: 214). Hessel schreibt: "Von dieser Gegend habe ich in Ebertys Erinnerungen eines alten Berliners gelesen, wie sie vor hundert Jahren aussah, als der Knabe mit seinem Hauslehrer sich hier erging und auf das jenseitige Ufer blickte, das damals ganz mit Gärten bedeckt war" (Hessel 2011: 190). Nicht nur Ebertys Erinnerungen, sondern vielmehr auch Rodenberg hat Hessels Schilderung des Schiffbauerdamms wesentlich beeinflusst. Rodenberg verweist auf "einen prachtvollen Garten am Schiffbauerdamm" (Rodenberg 1987: 214) und führt weiter aus:




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"So war es hier vor hundert Jahren; und heute? Wo das Moderloch war, da wölbt sich nun das Glasdach über dem Bahnhof der Friedrichstraße; wo das eine Gattertor des Katzenstiegs sich schloß, da steht das Centralhotel, und wo das andere sich schloß, steht das Continentalhotel" (ebd.: 351). Berlin werde "von den beständig zunehmenden Massen des Geschäfts- und Fremdenverkehrs durchflutet" (ebd.: 339). Hinzu kommen moderne Bauten, etwa "Monstrehotels nach amerikanischem Muster" (ebd.: 340). Hessel erwähnt "Monsterspeisehaus" (Hessel 2011: 42), "Monsteretablissement" (ebd.: 56) und "Monsterdeutschland" (ebd.) als Beleg für "das Monströse der Zeit" (ebd.: 155) im Berlin der späten 1920er Jahre.

Rodenbergs Texte kreisen um den "Kontrast der alten und der neuen Zeit" (Rodenberg 1987: 120). Er bleibt nicht in Nostalgie und Melancholie haften. Der gedankliche Prozess der Heimkehr in die Gegenwart wird immer in gemächlichem Tempo vollzogen und mündet in die Akzeptanz der Berliner Gegenwart, die in ihrer Bildsprache an Franz Hessel gemahnt: "Die Flut von Licht, von Menschen und Wagen, geräuschlos auf dem spiegelglatten Asphalt dahinrollend, die Pracht der Läden und der Reichtum der Schaufenster umgibt mich – das Berlin unserer Tage, das große, kaiserliche Berlin" (ebd.). Hessel schreibt:

Wie ein Kleinstädter, der sich in der stillsten Straße seiner Heimatstadt ergeht, blätterte ich mitten im Weltstadtverkehr, häufig gestoßen und angefahren, in diesem lehrreichen Buch, kam gleich an ein herrliches Zitat aus 'Schattenriß von Berlin, 1788' und las angesichts des spiegelglatten Asphalts und in strahlender Erleuchtung (ebd.: 200).

Bei Rodenberg und Hessel wird eine Akzeptanz von Berlin als moderner Großstadt erkennbar. Im Bild des "spiegelglatten Asphalts" wird die intensive Auseinandersetzung Rodenbergs und Hessels mit Berlin als einem urbanen Raum der Beschleunigung sichtbar.

5 Fazit

Der bisher nicht erforschte intertextuelle Dialog Franz Hessels mit Julius Rodenberg lässt sich an den Texten Spazieren in Berlin und Bilder aus dem Berliner Leben nachweisen. Hessels Beschäftigung mit Rodenberg wird als eine intendierte intertextuelle Strategie erkennbar. Hessels Bezugnahme auf die Bilder aus dem Berliner Leben lässt sich anhand zahlreicher intertextueller Markierungen belegen, die sowohl um die Übernahme der Komposition, von Zitatcharakter aufweisenden Passagen, Schlüsselbegriffen und Metaphern als auch um das produktive Aufgreifen von zentralen Themen und Motiven zentriert sind.




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Rodenbergs Bilder aus dem Berliner Leben fungiert als Prätext für Spazieren in Berlin. Die Funktion der Prätextschicht besteht darin, einen neuen Bedeutungszusammenhang zu etablieren. Dieser lässt sich als Einordnung von Hessels Wahrnehmungs- und Fortbewegungsmodus in einen kulturhistorischen Kontext bestimmen. Rodenbergs Texte sind ein übergeordneter Bezugsrahmen für Hessels Auseinandersetzung mit dem permanenten Provisorium Berlin.

Die Stilvermischung in der Architektur unterstreicht den provisorischen Charakter der Modernität. Das Bewahren Alt-Berlins ist in den 1920er Jahren unmöglich geworden, da in ihr die wilhelminischen Auflösungstendenzen der überlieferten Kultur potenziert sind. Nur in der Zukunft werde die kulturelle Auflösung der Vergangenheit einer neuen Wertschätzung weichen. Das Verweilen des Spaziergängers wird sich, so Hessels Hoffnung, in der Zukunft durchsetzen.

Rodenberg und Hessel befinden sich auf ihren Spaziergängen durch Berlin auf der Suche nach der "alten Zeit". Beide versuchen zunächst, Überbleibsel aus der Epoche um 1800 zu lokalisieren. Dabei handelt es sich in erster Linie um Stimmungsbilder wie das der "Liebenden" auf den Bänken im Tiergarten. Der von Rodenberg gewählte "harmlose Blick" wird von Hessel aufgegriffen. Rodenbergs und Hessels prämoderner Fortbewegungsmodus versetzt sie in ein Oppositionsverhältnis zur Modernität. Sie stufen sich selbst als "Fremde" in der modernen Großstadt ein. Beide bewegen sich zu Fuß durch Berlin und beobachten das Großstadtleben, ohne auf ihren Spaziergängen aktiv in dieses einzugreifen. Ihr Eingriff erfolgt vielmehr auf einer gedanklichen Ebene und kommt in der Antizipation der "Zukunft" zum Ausdruck.

Das "Werdende" mag sich zwar nicht genau schildern lassen, aber sowohl Rodenberg als auch Hessel entwickeln konkrete Visionen für das zukünftige Berlin. Bei beiden Autoren stehen Vergangenheit (wie die Hervorhebung der einstigen "Gärten" am Schiffbauerdamm) und Zukunft im Mittelpunkt des Interesses – und weniger "das Monströse" der Gegenwart. Während Rodenberg die Modernität auf dem "spiegelglatten Asphalt" des Wilhelminismus dynamisch dahingleiten sieht, widmet Hessel sich auf diesem "spiegelglatten Asphalt" buchstäblich der kontemplativen Lektüre der "alten Zeit" um 1800. Das Bild des "spiegelglatten Asphalts" evoziert jedoch die Gefahren der Modernität. Sie vermag eher Brüchigkeit als Rutschfestigkeit zu garantieren – dies unterstreicht Hessel mit der variierten Wiederverwendung von Rodenbergs Bildsprache.




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Hier trennen sich die beiden Texte jedoch: Rodenbergs Huldigung des Wilhelminismus teilt Hessel nicht. Er macht vielmehr deutlich, dass die Gegenwart der späten 1920er Jahre auf einen Umschlagpunkt zusteuert, der noch radikalere Brüche mit sich führen wird, als Rodenberg ahnte. Hessels Aufgabe ist, diese mit Positivität zu füllen. Die intertextuellen Verbindungslinien weisen Bilder aus dem Berliner Leben zwar als zentrale Inspirationsquelle für Spazieren in Berlin aus, aber die Originalität von Hessels Text bleibt aufgrund seiner überaus kritischen Bewertung der wilhelminischen Epoche erhalten.

Die Gegenwart bestimmen Rodenberg und Hessel übereinstimmend als eine "Übergangswelt", deren Dynamik das Erreichen einer besseren Zukunft ermöglichen soll. Die Bejahung der Technik beruht auf der Einschätzung, dass die Technik zur wesentlichen Akzeleration der Übergangsphase beitrage. Die Haltung zur Technik weist markante Parallelen auf. Beide kritisieren die infolge des S-Bahnbaus neu entstandene "Stadtmauer". Die S-Bahn wird zum Symbol einer beschleunigten Modernität. Während Hessel die S-Bahn neutral beschreibt, ist sie bei Rodenberg wesentlicher Bestandteil eines emotionalen Spannungsbogens zwischen prämoderner Selbstgenügsamkeit und begeisterter Zustimmung zur modernen Technik.

"Luft und Licht" sind die sozialpolitischen Verbesserungen, die Rodenberg und Hessel in Berlin registrieren. Wohnungen mit guter sanitärer Ausstattung seien wichtiger als das einstige "Berliner Zimmer". Hessel widersetzt sich indes Rodenbergs Idyllisierung der Proletarierviertel des Ostens und Nordens. Franz Hessels Blick ist progressiver, er erkennt zumeist Arbeiterelend und ebenfalls das progressive Potenzial von 1848.


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Anmerkungen

1 Vgl. Knobloch 1987: 359: "Die Zeitschrift erschien in einem unlängst gegründeten Deutschen Reich und wandte sich, liberal und kaisertreu zugleich an das national gesinnte deutsche Bürgertum; hielt es nicht mit der wachsenden Arbeiterbewegung, sondern mit den bestehenden Machtverhältnissen. Soziale Harmonie erschien ihr möglich"; vgl. ferner Köhn 1989: 110: "Seinem liberalen Fortschrittsglauben, der seine Bestätigung nicht nur im veränderten Stadtbild, sondern auch in den neu geschaffenen sozialen Einrichtungen findet, erscheint die soziale Frage nur als ein Übergangsphänomen, dessen Lösung dem Bürgertum auch noch gelingen werde."