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Julia Pasko (Moskau)



Mit Lesen fängt das Leben an. Leserfiguren als kompositorische und intertextuelle Zentren in Ulla Hahns Das verborgene Wort und Ljudmila E. Ulickajas Sonečka



Life begins with reading. Readers as compositional and intertextual centers in Ulla Hahn's Das verborgene Wort and Ljudmila E. Ulickaja's Sonečka
Our culture is a culture of reading and books. By analyzing poetics of reading and studying pretext peculiarities in Hahn's Das verborgene Wort and Ulickaja's Sonečka, the article suggests to consider the readers in both works as the central element of the intertextual and compositional organization of the novel.


1 Leseforschung, Leserfigur und Auswahl der Texte

Lesen gehört zu den wichtigsten universalen Kulturtechniken. Es ist "die wesentliche Voraussetzung für die kulturelle Entwicklung des Menschen und die Formierung von Gesellschaften" (Rautenberg/Schneider 2015: VII) und erfüllt zudem eine identitätsbildende Funktion (Kuhn 2015: 833f.). Das Leseverhalten und der Umgang mit Gelesenem können historische Epochen und ihre Denkweisen widerspiegeln, soziale und kulturelle Wandelprozesse markieren.




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Nicht umsonst beschäftigte das Thema des Lesens und der Literatur viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen, stand im Mittelpunkt sowohl autobiographischer als auch künstlerischer Reflexion bei Hermann Hesse (Aus Indien, 1913), Ulrich Plenzdorf (Die neuen Leiden des jungen W., 1973), Bernhard Schlink (Der Vorleser, 1995), Umberto Eco (Il nome della rosa, 1980), Tatjana N. Tolstaja (Izjum, 2002) u. a., wurde aber auch zum Untersuchungsgegenstand vieler Forschungsbereiche so unterschiedlicher Disziplinen wie der Literaturwissenschaft und der Neurobiologie.

Die Literaturwissenschaft setzt sich oft mit einzelnen Motiven und Leserfiguren aus verschiedenen Werken im Kontext der Weltliteratur, mit der Darstellung des Lesens in der Literatur und mit Besonderheiten des Lesevorgangs auseinander (Stocker 2007). So beschäftigt sich beispielsweise Günther Stocker auch mit dem Lesen als kultureller Praxis und der Lesekultur selbst. Die Historiker untersuchen die Geschichte des Lesens, die Verbreitung der Bücher und des Buchdrucks. Die Frage "Wer hat gelesen?" ist auch von Bedeutung, manchmal wird eine konkrete Epoche unter die Lupe genommen (Schön 2003). Das Thema des Lesens und der Lesekultur nimmt einen bedeutenden Platz in den Untersuchungen von Soziologen und Medienforschern ein, dabei überschneiden sich zum Teil die Themenkomplexe mit den Fragen, die die Historiker stellen: Was wird gelesen? Wie? Von wem? In welchem Alter? usw. Wenn aber Historiker diachron bei ihren Untersuchungen vorgehen, so arbeiten Soziologen synchron und konzentrieren sich auf einen relativ kurzen Zeitabschnitt. In den letzten Jahren wird das Thema "Die Zukunft des Buches im Medienzeitalter" aktiv diskutiert, wie man es den Sammelbänden und Konferenzbeiträgen ansieht. Eng verbunden ist dieser Forschungsbereich mit der Pädagogik, die sich gezielt auf die Förderung des Lesens in Schulen und unter den Jugendlichen im Allgemeinen und im Literaturunterricht im Einzelnen konzentriert. In der Psychologie geht es in erster Linie um die Wahrnehmung der Texte und die Bedeutungskonstruktion (Christmann 1989, Christmann 1999), dabei wird auch psychoanalytischen Untersuchungen des Lesens Aufmerksamkeit gewidmet, die Neurobiologie rückt unter anderem die Mechanismen des Lesens (z.B. die Besonderheiten der Augenbewegungen) in den Vordergrund. Eine besondere Erwähnung verdient die Arbeit von Wolfgang Iser Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, eine interdisziplinäre Studie, die auf den Untersuchungen aus den Bereichen der Hermeneutik, Kommunikationspsychologie, Semiotik und Literaturwissenschaft beruht und das Spannungsfeld zwischen Text, Autor und Leser erörtert (Iser 1994).




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Das Ziel der vorliegenden Studie besteht in der Analyse der Leserfiguren als inhaltlicher, kompositorischer und intertextueller Zentren in literarischen Texten. Die Fokussierung auf diesen Aspekt erlaubt, die Poetik des Lesens in jeweiligen Texten zu untersuchen und seine Rolle bei der Identitätsbildung zu beobachten, die Rolle und Funktionen der Intertextualität in diesem Zusammenhang zu erläutern. Darüber hinaus kann diese Analyse einige Erkenntnisse über das Leseverhalten und Leseverhältnis in der deutschen und russischen Kultur liefern, zum Teil über psychologische Besonderheiten des Leseverhaltens. Mit "Leserfigur" ist der fiktionale Leser gemeint, wie ihn Robert Stockhammer beschreibt:

Der fiktionale Leser hingegen ist jede Figur in einem fiktionalen Prosatext, die wesentlich als lesende charakterisiert wird. […] Das sind zum Einen Figuren, von deren Lektüren ausführlich erzählt wird, zum Anderen auch solche, die von Büchern entscheidend geprägt sind, welche sie (wie eben Don Quijote) schon vor Beginn der Handlung gelesen haben (Stockhammer 1991: 9).

Diese Definition war der Ausgangspunkt für die Auswahl von literarischen Texten für diese Studie. Außerdem haben auch folgende Merkmale dazu beigetragen: die Handlungszeit der ausgewählten Werke, die Intensität, mit der auf das Thema des Lesens eingegangen wird, die Fülle an intertextuellen Elementen, Lesen als formbildendes Prinzip im Text und im Leben der Protagonistinnen und die besondere Aufmerksamkeit, die dem Lesen in ihrer Kindheit und Jugend zuteilwird, was laut Günther Stocker oft vorkommt:

Unsere intensivsten Leseerlebnisse fallen meist in die Phase der Kindheit und Jugend und so nimmt es nicht wunder, dass sich zahlreiche Autorinnen und Autoren mit dem kindlichen Lesen beschäftigt haben, sei es in Form persönlicher Leseerinnerungen, sei es in Form fiktionaler Texte (Stocker 2007: 253).

Diesbezüglich zeigen sich interessante Parallelen in den Biographien beider Schriftstellerinnen: Ljudmila Ulickaja wurde 1943 in Baschkirien geboren, ist eine ausgebildete Biologin und begann erst in den 1980er Jahren, ihre literarischen Werke zu veröffentlichen. Ulla Hahn ist drei Jahre jünger als ihre russische Kollegin, wurde 1946 im Sauerland geboren und ist promovierte Germanistin. Beide sind also in der Nachkriegszeit aufgewachsen und kennen das Leben in der Provinz, was in den Texten zu spüren ist. Beide Schriftstellerinnen haben ihren literarischen Weg in den 1980er Jahren mit Kleinformen begonnen. Den internationalen Ruhm hat Ljudmila Ulickaja zunächst mit Erzählungen und erst später mit Romanen als Meisterin des feinen Stils und "weiblicher Tschechow" (Ahrndt 1997) erworben. Interessanterweise wurde sie im Westen früher bekannt als in Russland: 1994 wurde ihre Erzählung Sonečka mit dem französischen Prix Médicis ausgezeichnet, was ihren großen literarischen Erfolg sowohl im Heimatland als auch in Europa begründete.




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Heutzutage zählt sie zu bedeutendsten russischen Schriftstellerinnen neben Tatjana N. Tolstaja, Dina I. Rubina, Ljudmila St. Petruševskaja, Viktorija S. Tokareva und Elena S. Čižova. Ulla Hahn wurde in erster Linie durch den relativ erfolgreichen Gedichtband Herz über Kopf (1981, 17. Auflage 2011) bekannt. Nach mehreren Lyrikbänden und dem kurzen Roman Ein Mann im Haus (1991) veröffentlichte Ulla Hahn 2001 den Roman Das verborgene Wort, der viele positive Kritiken bekommen hat und als "Epos" (Hage 2001: 181), "Familiensaga" und "eine große Skulptur" (Schulz 2001) bezeichnet wurde. Das verborgene Wort ist der erste Roman in der Trilogie über das Leben und den Werdegang von Hildegard Palm, der zweite Roman Aufbruch ist 2009 erschienen, der dritte Roman Spiel der Zeit wurde 2014 veröffentlicht.

Zwischen den Werken von Ulla Hahn und Ljudmila Ulickaja liegen fast zehn Jahre: 1992 ist die Erzählung Sonečka in der Zeitschrift Novyj mir (Neue Welt) erschienen, 2001 der Roman Das verborgene Wort. Beide Werke schildern das Leben einer Leserin, in beiden Werken ist die Nachkriegszeit ein historischer Hintergrund, vor dem die Handlung spielt, trotz alledem stehen nicht die allgemeine Geschichte und ihre verschiedenen Ereignisse im Mittelpunkt, sondern die Geschichte einer einzelnen Persönlichkeit, in deren Porträt das Bild der Zeit zum Vorschein kommt. Die genannten Gemeinsamkeiten, deren Palette von Sujetstrukturen über gleiche Handlungszeit bis zu Ähnlichkeiten in den Biographien der Schriftstellerinnen reicht, legen den Vergleich der beiden Texte nahe.

Kurz zum Inhalt der Werke: Hildegard Palm oder Hilla, wie sie sich nennt, ist 1945 in der Familie eines Arbeiters geboren und wurde von ihren Eltern und ihrer Großmutter streng im katholischen Glauben erzogen. Seit ihrer Kindheit fällt sie in ihrer Familie und in ihrer Umgebung auf, ihr Vorstellungsvermögen, ihre Liebe zum Wort in Klang und Schrift, später ihre Affinität zur Bücherwelt machen sie fast zu einer Außerirdischen in ihrem Dorf. Gleichzeitig öffnet Lesen für Hilla einen Weg zur Ausbildung und zum selbstbestimmten Leben. Der Roman Das verborgene Wort setzt somit die Tradition des deutschen Bildungsromans fort und schildert das Erwachsen- und Selbstständigwerden einer Persönlichkeit.

Sonečka von Ljudmila Ulickaja ist dagegen eine Erzählung ('povest'), die fast das ganze Leben einer Frau, einer besessenen Leserin darstellt, von ihrer Kindheit, in der sie ins Lesen wie in Ohnmacht versinkt, bis ins hohe Alter, in dem das Lesen sie am Leben hält.




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2 Zur Poetik des Lesens in Sonečka und Das verborgene Wort: Lesen ist Leben

Abgesehen davon, dass die Werke verschiedene literarische Gattungen darstellen, vereinigt die beiden Texte ein wesentliches Merkmal, das bereits oben erwähnt wurde und die Poetik dieser zwei Werke bestimmt: Die Protagonistinnen sind als Leserfiguren, als geborene Leserinnen dargestellt, deren Charakter, Persönlichkeit und Leben durch Lesen geprägt sind. Auf diese Weise entsteht ein Spiegelverhältnis zwischen den realen Lesern und den genannten Texten, indem die Leser Texte eigentlich über sich selbst lesen – das Leseerlebnis vereinigt die realen Leser und die lesenden Protagonistinnen im Werk. Die Literatur und das Lesen werden zum zentralen Thema der Literatur, und somit beobachtet die Literatur sich selbst (Stocker 2007: 22). Die vergleichende Analyse der Texte von Ljudmila Ulickaja und Ulla Hahn ergibt, dass die Einstellungen zum Lesen und dessen Wahrnehmungen bei Sonečka und Hilla bestimmte Ähnlichkeiten aufweisen.

Das Erste, was dabei auffällt, ist, dass Schriftsteller und fiktive Figuren für Hilla und Sonečka genauso lebendig wie Verwandte, Freunde und Familienangehörige sind:

Отзывчивость ее к печатному слову была столь велика, что вымышленные герои стояли в одном ряду с живыми, близкими людьми, и светлые страдания Наташи Ростовой у постели умирающего князя Андрея по своей достоверности были совершенно равны жгучему горю сестры, потерявшей четырехлетнюю дочку по глупому недосмотру (Ulickaja 2002: 6).


Ihre Empfänglichkeit für Gedrucktes ging so weit, daß die erfundenen Gestalten neben lebenden, ihr nahestehenden Menschen existierten; die lichten Leiden von Natascha Rostowa am Bett des sterbenden Andrej waren für sie ebenso wirklich und echt wie der brennende Schmerz der Schwester, die aus dummer Unachtsamkeit ihre vierjährige Tochter verlor (Ulitzkaja 1994: 40).

Hilla in Das verborgene Wort schreibt Briefe an Friedrich Schiller:

Friedrich, schrieb ich, und sah ihn vor mir, einen mittelgroßen, schlanken Mann mit träumerischen Augen und feingezeichneten Brauen; in seine Nase war ich verliebt und sein Haar, das für mich, auch als ich wußte, daß es rot war, in weichen, dunklen Herzjesulocken auf die Schultern fiel. Und manchmal schimmerte durch sein ewig junges Gesicht das des Großvaters, der auch Friedrich geheißen hatte, Fritz (Hahn 2009: 236).

Lesen von schöngeistiger Literatur ist eine Besonderheit, die Hilla und Sonečka von der Umgebung unterscheidet, sogar absondert. Sie sind dadurch den anderen handelnden Personen gegenübergestellt, diese Gegenüberstellung verwandelt sich manchmal in Rivalität, wie es im Roman von Ulla Hahn der Fall ist. Diese Rivalität wird in Konfliktszenen beschrieben, aber viel deutlicher kommt sie im Sprachgebrauch vor: Hillas Familie spricht kein Hochdeutsch, nur Dialekt, während Hilla für das Recht kämpft, Hochdeutsch sprechen zu dürfen. Das Lesen findet in Hillas Familie keine Anerkennung und kein Verständnis, es wird für ein unpraktisches, unnützes Ding gehalten; der Roman von Ulla Hahn liefert in diesem Sinne ein konkretes Bild von der Sprach- und Lesekultur der Nachkriegszeit in einem bestimmten gesellschaftlichen Milieu.




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Aber an diesen Textabschnitten sieht man auch einen wesentlichen Unterschied zwischen zwei Leserinnen, und zwar in der Wahrnehmung von zwei Realitäten, die sie von Kindheit an umgeben: wirkliche Realität und literarische Realität. Bei Sonečka dominiert die literarische Realität sehr stark die Wirklichkeit. Das zeigt nicht nur das oben angeführte Fragment, sondern auch der Beginn der Lektüre: Das Einzige, was im Mittelpunkt steht, sind Sonečka, ihre Bücher, ihre Gefühle, ihre Welt. Diese Einstellung ändert sich erst mit der Heirat, als das Gelesene und Ausgedachte in den Hintergrund tritt und alltägliche Kleinigkeiten Sonečka voll und ganz in Anspruch nehmen.

Etwas ganz Anderes entdeckt man bei Ulla Hahn. Die kleine Hildegard ist sich der "wirklichen" Realität sehr bewusst. Das wird bei der Beschreibung von vielen Details sichtbar, nicht zuletzt auch dank der Dialoge: Man hört also die handelnden Personen, hört diese wirkliche Realität. Ähnlich erscheinen auch bei Ljudmila Ulickaja die Dialoge etwas später, nach Sonečkas Bekanntschaft mit ihrem künftigen Mann, was den Lesern erlaubt, die Wirklichkeit näher und genauer zu empfinden. Aber schon in den zitierten Textabschnitten sieht man diesen Unterschied ganz deutlich: Während bei Sonečka die Familienangehörigen und handelnden Personen aus Lev N. Tolstojs Vojna i mir (1868f., dt. Krieg und Frieden) in einer Reihe stehen (sowohl gedanklich als auch syntaktisch), grenzt Hilla die wirkliche Realität und literarische Realität voneinander ab. Obwohl sie Friedrich Schiller als ihren großen Freund empfindet, findet sie in ihm Züge einer real existierenden Person. Aber auch diese Abgrenzung rettet Hilla von der späteren Lesekrise nicht: Sie bekommt die Diskrepanz zwischen zwei Realitäten zu spüren. Das erlebt sie auf eine krankhafte Weise, und es vergeht einige Zeit, bis sie sich wieder ihren Büchern zuwendet.

Die Beschreibung des Lesens in beiden Werken ist mit konkreten Metaphern verbunden, die auch als Leitmotive betrachtet werden können. Das Lesen wird immer als Tauchen beschrieben, als Flucht vor der Realität. In der Erzählung von Ljudmila Ulickaja ist Literatur und Lesen ein Ozean; die Werke und ihre Schriftsteller sind seine Wellen (Ulickaja 2002: 9). Die Flucht kommt auch im Roman Das verborgene Wort vor, denn Hilla flieht oft vor der Wirklichkeit: "In meinem Kopf hatte ich alles. Denken war Weg-Denken, Schön-Denken, Anders-Denken. Denken war Flucht in den Kopf, in die Freiheit. Freiheit war im Kopf und nur dort" (Hahn 2009: 238).

Das Lesen ist somit eine Fort-Bewegung von der Realität in einen anderen Raum, in eine andere Dimension, was eine Assoziation mit Lewis Carrolls Alice's Adventures in Wonderland (1865) (Carroll 2003: 9) und der Episode des Fallens ins Kaninchenloch hervorruft.




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Das ständige Lesen ist ohne Zweifel ein Konstruktionsmittel der inneren Welt beider Protagonistinnen, die ihre Verkörperung in konkreten Räumen findet. Für Sonečka wird ein solcher Raum die Bibliothek, in der sie nach ihrer Ausbildung als Bibliothekarin arbeitet:

Она закончила библиотечный техникум, стала работать в подвальном хранилище старой библиотеки и была одним из редких счастливцев, с легкой болью прерванного наслаждения покидающих в конце рабочего дня свой пыльный и душный подвал, не успев насытиться за день ни чередой каталожных карточек, ни белесыми листками требований, которые приходили к ней сверху, из читального зала, ни живой тяжестью томов, опускавшихся в ее худые руки (Ulickaja 2002: 9).


Sie absolvierte die Bibliotheksfachschule, begann im Magazin einer alten Bibliothek zu arbeiten und gehörte zu den seltenen Glückspilzen, die am Ende des Arbeitstages ihren staubigen, stickigen Keller mit leisem Schmerz ob der Unterbrechung eines Vergnügens verlassen, denn sie konnte sich nicht satt sehen an den aufgereihten Katalogkarten und den weißen Bestellzetteln, die von oben aus dem Lesesaal zu ihr herunterkamen, und nicht genug bekommen von der lebendigen Last der Bücher, die sich in ihre dünnen Arme senkten (Ulitzkaja 1994: 42).

Hilla fühlt sich wohl, wenn sie in eine Buchhandlung geht und ungestört Bücher sucht, ein ganz besonderer Ort aber ist für sie ein kleiner Holzschuppen neben dem Haus ihrer Eltern, den sie eigentlich auch in eine Bibliothek verwandelt hat. Diese Räume sind für Sonečka und Hilla eine materialisierte Darstellung ihrer textualisierten inneren Welt und ihrer ‚Flucht in den Kopf‘. Die Bibliothek ist im bestimmten Sinne eines der Leitmotive in der Weltliteratur. In der Prosa, besonders in der philosophischen Prosa wird sie als Gestalt der Welt, als ihr unentbehrlicher Teil angesehen, wie z. B. bei Jorge Luis Borges in La biblioteca de Babel (1941), dem Werk, das seinerseits Umberto Eco zu seinem Roman Il nome della rosa (1980) inspirierte, in dem die Klosterbibliothek eine zentrale Rolle spielt und als Sammlung der menschlichen Weisheit dargestellt wird.

Zwei grundlegende Fragen müssen in Betracht gezogen werden, wenn man über Leserfiguren spricht, und zwar: Was wird gelesen? Wie wird gelesen?

Zur Frage Was? gibt es eine interessante Beobachtung: Der Roman von Ulla Hahn ist nicht nur ein Bildungsroman, eine fiktive Biographie, sondern gleichzeitig eine "Lektürebiographie",

denn die einzelnen Phasen ihrer [der Protagonistin – J. P.] Lebensgeschichte werden teilweise mit literaturgeschichtlichen Epochen parallelisiert, dieser literarische Bildungsweg beginnt mit der Mündlichkeit des Erzählens und führt über Märchen, biblische Geschichten, Heiligenlegenden und Jugendbücher bis zum aufklärerischen Versuch, sich mit Worten Rechas aus Lessings Nathan der Weise dem Vater zu erklären (Braun 2012: 131).




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Wobei man die Phase "der Mündlichkeit des Erzählens" etwas präzisieren muss, denn Hillas Lebens- und Lesebiographie beginnt mit Geschichten, die ihr Großvater und sie in den Steinen lesen, alles beginnt mit dem Buchstein ("Boochsteen"):

Ich starrte auf meine Hand, den Stein, Hand und Stein durch gräulichen Schleim miteinander verbunden. Tauchte den Stein in die Wellen. Durch sein unscheinbares, stumpfes Grau schlängelten sich feine weiße Linien, immer wieder unterbrochen, ineinander verschlungen, sich kreuzend: Der Stein war beschrieben! Beinah wie auf den Linien im Schreibheft der Cousinen, fast so gerade wie die Zeilen in Anianas Buch. […] Der Stein war ein Wunder. Einer hatte diesen Stein in ein Buch verwandelt (Hahn 2009: 12f.).

Dieser Buchstein ist für die kleine Hilla eine visuelle Verkörperung von allen Geschichten, die sie bisher gehört hat und gleichzeitig ihr erstes Buch. Nicht umsonst beginnt der Roman mit dieser Episode, denn das ist der Anfang ihrer persönlichen Lesergeschichte. Bemerkenswert ist, dass dem Roman ein Epigraph vorangeht: "Mit Schreiben und Lesen fängt eigentlich das Leben an" (Hahn 2009: unpaginiert). Hillas Leben hat mit dem Buchstein angefangen, dadurch hat sie sich eine bestimmte Leseart angeeignet, die später in ihre Weltwahrnehmung eindringt und die Poetik ihres Weltbildes schafft. Und im Mittelpunkt dieses Weltbildes steht die klassische Literatur.

Für Hilla besitzen die Steine und die Zeichen, die sie darauf zu erkennen scheint, auch etwas aus einer anderen Realität; sie verbinden sie mit der Welt der Geschichten, die ihr Großvater lesen kann und die sie selbst zu lesen lernt.

Interessanterweise beginnt die Erzählung von Ljudmila Ulickaja auch mit einer "Lesegeburt": Sonečka las ununterbrochen zwischen sieben und siebenundzwanzig Jahren, versank in den Werken von Ivan S. Turgenjev, Nikolaj S. Leskov, Fëdor M. Dostojevskij und verschlang sie:

А Сонечка […] пасла свою душу на просторах великой русской литературы, то опускаясь в тревожные бездны подозрительного Достоевского, то выныривая в тенистые аллеи Тургенева и провинциальные усадебки, согретые беспринципной и щедрой любовью почему-то второсортного Лескова (Ulickaja 2002: 8f.).


[…] sie weidete ihre Seele auf den Weiten der großen rußischen Literatur, tauchte mal in die beunruhigenden Abgründe des verdächtigen Dostojewski, mal in die schattigen Alleen Turgenjews oder in die kleinen, von der prinzipienlosen und großherzigen Liebe des aus irgendeinem Grunde zweitrangigen Leskow erwärmten Provinzgüter (Ulitzkaja 1994: 42).

Die Fragen "Was wird gelesen?" und "Wie wird gelesen?" sind ineinander sehr stark verwoben, weshalb die zweite Frage schon behandelt und teilweise erläutert wurde. Wie schon oben gesagt, konstruieren gelesene Texte eine zusätzliche Realität, die den Protagonistinnen oft lebendiger erscheint als Wirklichkeit, in der sie leben.




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Besonders deutlich tritt das bei Ljudmila Ulickaja hervor, denn die Autorin zeigt reales Geschehen nebenbei in einem Zug und konzentriert sich auf das besondere Lesetalent, das Sonečka schon als kleines Mädchen aufweist. Erst später, wenn sie heiratet und Mutter wird, tritt das Lesen allmählich in den Hintergrund. Dieser Kontrast hebt die Rolle der Bücher in der Kindheit und Jugend von Sonečka stark hervor. Ulla Hahn dagegen fixiert alles sehr genau. Wirklichkeit und literarische Realität existieren parallel, den beiden Realitäten wird ähnlich großer Raum eingeräumt, wobei man anmerken muss, dass die literarische Realität primär ist, denn sie hat mehr Einfluss auf die innere Welt von Hilla. Günther Stocker meint, dass dies für die meisten, wenn nicht alle "Leseerfahrungen" zutrifft: "Dadurch, dass die fiktiven Welten von den Lesenden selbst geschaffen werden, verschwinden die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt für das Ich" (Stocker 2010: 109).

Außerdem gibt es noch eine wichtige Besonderheit: Dem Lesen und allem, was damit verbunden ist, wird eine sakrale und magische Bedeutung zugeschrieben. Schon der Buchstein ist ein magisches Element; die Fähigkeit ihn zu lesen wird als Wunder interpretiert. Wie man weiß, spielen konkrete Gegenstände für kleine Kinder eine wichtige Rolle; ihnen wird auch oft etwas Magisches und Zauberhaftes zugeschrieben. Die oben angeführte Beschreibung von Hillas Lesegeburt lässt aber auch an die magische Rolle der Steine und der Schrift im Altertum denken:

Im Alten Orient war der Stein einer der ältesten Beschreibstoffe. Die Steine wurden in diesen Kulturen für heilig gehalten. Hier wie in Griechenland und Rom gab es einen Kult der Steine, eine Religionsform, die fast überall auf der Erde zu belegen ist. Die Steine galten als Gewächse der Mutter Erde und damit als beseelt. Weit verbreiten war der Glaube an die Geburt von Göttern und Menschen aus Steinen. Deshalb besaßen im Alten Orient bestimmte Steine als Träger einer schriftlichen Botschaft von sich aus magische Kraft (Speyer 1991: 72).

Diese sakralisierte Wahrnehmung der Steine verbindet den Text des Romans mit dem Epigraph, das einer Wachstafel mit Schulübungen aus Mesopotamien (4. bis 5. Jahrhundert n. Chr.) entnommen wurde. Der Stein kann aber auch gleichzeitig als Symbol der christlichen Kirche interpretiert werden:

Ich aber sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein. (Mt 16,18–19 [Nestle-Aland 2007: 45])




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Hillas Bewusstsein erlebt eine Erschütterung, wenn sie das Lesen lernt und sich sehr intensiv mit Wörtern, ihrem Klang und ihrer Schreibweise auseinandersetzt, denn Sprache steht bei ihr auf einer höheren Stufe als Gott: "Sprache war allmächtig. Allmächtiger als der liebe Gott. […] Sprache war gerecht. Gerechter als der liebe Gott. Es gab nicht gut und böse. Nur richtig und falsch" (Hahn 2009: 62f.).

Das Schreiben, das Füllen der Tafel mit Zeichen und Wörtern und dann willkürliches Wegwischen schenken der kleinen Hilla das Gefühl "göttlich" zu sein. Diese Episoden der Auseinandersetzung mit der Sprache, der Versuche, sie sich anzueignen und ihrer Herr zu werden, sind eine Variation zu den ersten Sätzen des Evangeliums nach Johannes:

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang an war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. (Joh 1,1–4 [Nestle-Aland 2007: 247])

Dies zeigt einerseits, wie sehr das Kind von der Familie und ihrer religiösen Erziehungstradition abhängt, andererseits Versuche, sich von dieser Tradition loszulösen. An einer Stelle vergleicht das Mädchen Wörter wiederum mit Steinen, die man beim Aussprechen genauso werfen kann.

Die Beschreibung von Hillas Lesegeburt betont die Wichtigkeit des Lesenlernens nicht nur für einen einzelnen Menschen, sondern erinnert daran, dass in jeder Schriftkultur das Lesenlernen einer Initiation gleich ist,

einem ritualisierten Übergang vom Zustand der Unselbständigkeit und der beschränkten Verständigung zur Fähigkeit, mit Hilfe der Bücher am kollektiven Gedächtnis teilzunehmen und sich mit einer kulturellen Tradition vertraut zu machen, die sich mit jedem Leseakt weiter erschließt (Manguel 2014: 110).

Diese sakralisierte Wahrnehmung der Sprache und der Lesefähigkeit transformiert sich mit der Zeit, und später baut Hilla einen Altar für Friedrich Schiller. Die Sakralisierung der Sprache, des Lesens und der Schriftsteller verschwindet, aber die Existenz der Bücherwelt bleibt in Hillas Bewusstsein sehr stark präsent. Somit ist der Stein ein bedeutendes Leitmotiv im Roman Das verborgene Wort, ein Kultursymbol, das heidnischen und christlichen Glauben in sich vereinigt, und ein zentraler Gegenstand in der Entwicklung Hillas, der interessanterweise in Hillas Wahrnehmung heidnische und christliche Elemente in ihrer Beziehung zur Sprache und Literatur vereinigt und auf diese Art und Weise zum Spiegel ihrer Weltanschauung wird. Außerdem sind Steine auch an der graphischen Strukturierung des Textes beteiligt, denn sie trennen die Kapitel in der ersten Ausgabe vom Roman und im zweiten Teil der Trilogie Der Aufbruch. Elemente des Sakralen in Bezug auf die Literatur und Bücher sieht man auch in Sonjas Weltanschauung:




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Многие годы она рассматривала писательство как священнодействие […] (Ulickaja 2002: 9)

Viele Jahre betrachtete sie die Schriftstellerei als eine heilige Handlung […] (Ulitzkaja 1994: 42)


Прослужив отрешенно-монашески несколько лет в книгохранилище, Сонечка сдалась на уговоры своей начальницы, такой же одержимой чтицы, как и сама Сонечка, и решилась поступать в университет на отделение русской филологии (Ulickaja 2002: 11).


Nach ein paar Jahren abgeschiedenen, nonnenhaften Dienstes in der Bibliothek ließ sich Sonetschka von ihrer Chefin, einer ebenso beseßenen Leserin wie sie selbst, zu einer Bewerbung zum Philologiestudium an der Universität überreden (Ulitzkaja 1994: 43).

Der Grad der Sakralisierung des Lesens entspricht wahrscheinlich dem Stellenwert, den das Lesen in der russischen und europäischen Kultur besitzt, das Element des Heiligen bleibt in Sonečkas Wahrnehmung viel länger.

Bei Hahn ist das Lesen mit dem Grundmotiv des Steins verbunden, bei Ulickaja wird das Lesen vom Motiv des Tauchens begleitet: Sie "taucht" in die Bücher, später "taucht" sie in die Bibliothek, – diese Metapher schildert die Wahrnehmung des Lesens, die gerade für kindliche Leseerlebnisse charakteristisch ist und auf eine Symbiose mit dem Text hinweist (Graf 1998: 101).

Aus den angeführten Beobachtungen und der vergleichenden Analyse von zwei Texten kann man schließen, dass sich Sonečka und Hilla in den Texten wie in einem besonderen geistigen Raum befinden, der aber zum Teil in konkreten Räumen und Gegenständen materialisiert und verwirklicht wird, – daraus wird eine Wechselwirkung von Materiellem und Immateriellem ersichtlich. Es entsteht eine räumliche Antithese, die die Gegenüberstellung von der Begrenztheit des eigentlichen Raums und der Weite des Text-Raums unterstreicht, wobei ein Buch als Brücke zwischen diesen Welten existiert. Dabei muss erwähnt werden, dass zusammen mit den Leserfiguren auch der Prozess des Lesens selbst ins kompositorische Zentrum des Textes rückt: Mit dem Lesen als Handlung sind Wendepunkte in beiden Werken verbunden, wodurch eine zusätzliche Dimension eröffnet und konstruiert wird.




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3 Leserfiguren als Aktualisierungsmechanismen des intertextuellen Lesens

Literarische Texte, die von Protagonistinnen gelesen werden, prägen und formen nicht nur ihre innere Welt, sondern auch die Welt des literarischen Textes. Die Konzentriertheit der Texte im Kopf der Leserinnen führt zur konzentrierten Präsenz der literarischen Texte im Werk. Die Leserfiguren sind somit nicht nur ein Element der Komposition des literarischen Textes, sondern auch ein Instrument, um literarische Texte im Bewusstsein des Lesers zu aktualisieren und neben dem eigentlichen expliziten Lesen auch das implizite Lesen zu fördern.

Dieses Instrument besteht aus einigen Aktualisierungsmechanismen. Das sind in erster Linie onomastische Signale, die laut Jörg Helbig zu expliziten Markern der Intertextualität gehören (Helbig 1996: 113–115), zu denen Erwähnungen der Namen von Schriftstellern und handelnden Personen aus anderen Werken zählen. Die onomastischen Signale geben uns als Lesern in erster Linie die Informationen darüber, was die Protagonistinnen lesen. Bei der Analyse der Erzählung von Ljudmila Ulickaja unter diesem Blickwinkel stellt sich heraus, dass Sonečka in erster Linie klassische Literatur gelesen hat: Gleich am Anfang werden Nataša Rostova und Andrej Bolkonskij aus Vojna i mir (Krieg und Frieden) von Lev Tolstoj erwähnt, deren Schicksal für Sonečka genauso bedeutend ist wie das ihrer Verwandten und Familienmitglieder. Eine wichtige Rolle spielt in der Erzählung die Gestalt von Evgenij Onegin aus dem gleichnamigen Versroman (1833) von Aleksandr S. Puškin, denn durch Puškins Werk wird die Geschichte von Sonečkas erster Liebe erzählt. Die literarische Gestalt von Onegin wird auf die eine der handelnden Personen der Erzählung projiziert, und zwar auf Wit'ka Starostin, Sonečkas Mitschüler, in den sie sich eines Tages verliebt hat (Ulickaja 2002: 16–18). Die Geschichte der ersten Liebe wird somit durch das Sujet von Puškins Versroman gelesen, d.h. mithilfe der onomastischen Signale wird ein konkretes Sujet aktualisiert und ein bestimmter intertextueller Kontext geschaffen. Es werden also gleichzeitig zwei Geschichten gelesen: der Text von Ulickaja explizit (unmittelbar vor den Augen), der Text von Puškin implizit. Dieses doppelte Lesen oder Lesen im Lesen trägt dazu bei, dass der explizite Text durch den impliziten – oder der Folgetext durch den Prätext – interpretiert wird. Wenn Wit'ka Starostin Onegin ist, dann wird Sonečka automatisch zu Tatjana Larina, die unter der unerfüllten Liebe leidet. Umso bedeutender und interessanter wird diese Projektion, wenn man bedenkt, dass Tatjana auch eine besessene Leserin war und ihre Welt aus Gelesenem geschaffen hatte. Die die Protagonistin charakterisierende Versunkenheit in das Lesen und in ihre Bücher spiegelt sich auch in ihrer Verliebtheit wider:




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Sie starrt ihren Geliebten die ganze Zeit an, und die Wendungen, mit deren Hilfe der Junge charakterisiert wird, schaffen den Eindruck einer literarisierten Wahrnehmung des Geschehens: "der dreizehnjährige Ritter", "der hartherzige Held", "brutaler Onegin (ebd.)". Sogar die Enttäuschung der ersten Liebe ging "klassisch" vorbei: Sonečka wurde krank und hatte einige Zeit ein sehr hohes Fieber. Puškin und seine Werke spielen eine bedeutende Rolle in der Komposition der Erzählung und unterstützen ihre doppelte Rahmenstruktur. Der erste Rahmen beruht auf dem Motiv des Lesens, denn die Erzählung beginnt mit Sonečkas Leseohnmacht, in die sie seit ihrer Kindheit versinkt, und endet mit derselben Versunkenheit ins Lesen, wenn Sonečka nach dem Tod ihres Mannes und der Abreise ihrer Tochter allein bleibt. Dieser erste Rahmen greift wiederum das Thema des Tauchens, Fallens und der Flucht auf, das eins der wichtigsten Leitmotive im ganzen Werk ist.

Der zweite Rahmen ist mit dem Thema des Nicht-Lesens verbunden, das die glücklichen Jahre von Sonečkas Ehe umfasst. Diese Periode ohne schöne Literatur beginnt mit dem Gespräch über Puškin, in dem sich herausstellt, dass Robert Viktorovič, der Ehemann der Protagonistin, russische klassische Literatur kaum schätzt und nur für Puškin eine Ausnahme macht, jedoch ohne besonderen Respekt, was Sonja schockiert und verwirrt. Die bücherlose Zeit nimmt ihr Ende, als sie von der Untreue ihres Mannes erfährt und sich in die Welt der klassischen Literatur stürzt. Das erste Werk, das ihr in die Hände kommt, ist Puškins Baryšnja-krestjanka (1831) (dt. Das Fräulein als Bäuerin (ebd., 102). Puškins Texte bilden somit einen intertextuellen Hintergrund für die Schilderung von solchen Themenkomplexen wie Ehe, Liebe, Familie. Sie sind ein wichtiges Strukturelement für den literarischen Text und für den Lebenstext von Sonečka. Der doppelte Rahmen unterstreicht zudem das Räumliche als Besonderheit von Sonečkas Lesen, indem sie oft in einen literarischen Text flüchtet, um sich zu retten und die Realität zu vergessen.

So "bietet sich der gelesene Text als Projektionsraum für unsere persönlichen Empfindungen an, als Schatten unserer selbst" (Manguel 2014: 362). Genauso wie man die Geschichte der ersten Liebe von Sonečka durch das Sujet von Puškins Evgenij Onegin liest, wird die Beziehung Tochter – Vater im Roman Das verborgene Wort durch das Werk Nathan der Weise (1779) von Gotthold Ephraim Lessing gelesen. Zwischen diesem literarischen Stück und der unmittelbaren Realität hat Hilla versucht, eine Brücke zu bauen, indem sie sich mit den Worten Rechas an ihren Vater wandte:




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Ich sprang hoch und riss mit leichter Verbeugung vor dem Vater das Gartentor auf, wie ein Schauspieler, der an die Rampe tritt: "So seid Ihr es denn ganz und gar, mein Vater?" "Mein Vater", sagte ich. Zum ersten Mal: "Mein Vater". Zu diesem Mann, der müde, hungrig, verschwitzt, im verschmierten Drillich aus der Fabrik kam. "So seid Ihr es denn ganz und gar, mein Vater?" […]
Zwischen Tür und Angel hielt "mein Vater" inne, und ich sprach weiter. Mit meiner schönsten Aussprache und der besten Betonung, Herzklopfen wie in der Schule nie. "Ich glaubt, ihr hättet Eure Stimme nur vorausgeschickt. Wo bleibt ihr? Was für Berge, für Wüsten, was für Ströme trennen uns denn noch?"
Mit zusammengezogenen Augenbrauen, mit malmendem Kiefer hörte der Vater zu: "Ihr atmet Wand an Wand mit ihr und eilt nicht, Eure Hilla zu umarmen? Die arme Hilla, die indes verbrannte! Fast, fast verbrannte. Fast nur. Schaudert nicht! Es ist ein garstiger Tod, verbrennt. Oh. Ihr müsstet übern Euphrat, Tigris, Jordan […]"
[…], und der Vater hatte mir zugehört, länger als jemals zuvor. Nicht nur mir, auch Recha und Lessing, aber die Worte waren doch aus meinem Mund gekommen, in seine Ohren gedrungen. "Mein Kind, mein liebes Kind", sagt Nathan zu Recha. Esch ben mööd, Kenk, sagte der Vater zu mir. Sekundenlang blickten seine Augen in meine, ehe die scharfe Falte zwischen den Brauen seinen Blick wieder von mir verbarg. Schutzlos und wehrlos, preisgegeben, beinah hilfsbedürftig hatte dieses Esch ben mööd geklungen. Hatte dieser Vater nicht auch gesagt: "Mein Kind. Mein liebes Kind?" Nur in einer anderen Sprache? (Hahn 2009: 208)

Obwohl schon gesagt wurde, dass das Lesen Hilla von ihrer Umgebung abgrenzt und beinahe isoliert, sieht man, dass die Literatur für die Protagonistin zu einem Kommunikationsmittel mit der realen Welt wird. Dadurch wird der aus Büchern geschaffene Raum, von dem am Ende des vorigen Kapitels die Rede war, geöffnet. Gleichzeitig sieht man hier "Identitätsarbeit als Prozess der Selektion von identitätsstiftenden Ressourcen, der Konstruktion persönlicher Teilidentitäten und deren Verbindung zu einer Biografie" (Kuhn 2015: 838). Im Unterschied zu Sonečka reflektiert Hilla über ihre literarischen Projektionen der Texte auf die Realität, sie macht das absichtlich und ist sich dessen immer bewusst. Sie benutzt manchmal literarische Texte als Szenarien für ihr Leben, was man in erster Linie dank der Erzählperspektive merkt: Bei Ulla Hahn ist es die Ich-Perspektive, die Kindereindrücke erzählt und gleichzeitig kommentiert. Dagegen erzählt Sonečkas Geschichte eine dritte Person, eine Beobachterin. Somit ist das Sujet eines Prätextes im bestimmten Sinne eine Matrix oder eine Struktur für ein Sujetelement des Folgetextes, was ein besonderes Phänomen der Intertextualität darstellt und von Manfred Pfister in seiner Arbeit Konzepte der Intertextualität behandelt wird. In seinem Kriteriensystem der intertextuellen Intensität des literarischen Textes gibt es das Kriterium der Strukturalität, nach dem ein Text als "Folie", "strukturelles Muster" für einen anderen Text fungiert:




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Nach diesem Kriterium ergibt das bloß punktuelle und beiläufige Anzitieren von Prätexten einen nur geringen Intensitätsgrad der Intertextualität, während wir uns in dem Maße dem Zentrum maximaler Intensität nähern, in dem ein Prätext zur strukturellen Folie eines ganzen Textes wird (Pfister 1985: 28).

Diese Art der Intertextualität kann man als strukturelle oder paradigmatische Intertextualität bezeichnen, deren Spezifik darin besteht, dass die literarischen Werke nicht direkt zitiert werden, sondern eher ihre Strukturkomponenten übernommen werden: Gattungselemente, Verfahren, die die anderen Autoren in ihren Werken benutzen, Motive, Elemente des Sujets, Eigenschaften und Charakteristiken von Protagonisten.

Ein weiteres Beispiel für die paradigmatische Intertextualität ist das Motiv der weißen Farbe in der Erzählung von Ljudmila Ulickaja. Weiß spielt eine Schlüsselrolle in der Beschreibung von Jasja, einer jungen Frau, in die sich Robert Viktorovič nach vielen Jahren der Ehe mit Sonečka verliebt. Jasja hat helle Haare, graue Augen, weiße Hände, ein eiförmiges Gesicht, ganz aus weißem Holz gemacht. Diese Erscheinung des Weißen und Hellen inspirierte Robert Viktorovič zu einer Reihe von weißen Stillleben, in denen er mit verschiedenen Schattierungen dieser Farbe experimentierte. Auf diese Weise wird Weiß zu einem der Leitmotive in der ganzen Erzählung. Ein solches Leitmotiv kennt man aus der Beschreibung von Lara Gišar, der Protagonistin aus dem Roman Doktor Živago von Boris Pasternak (1957, zuerst auf Italienisch erschienen, auf Russisch 1988). Wie Jasja, hat Lara helle Haare, graue Augen, weiße, schwanweiße Arme und schwebende, leichte und milde Bewegungen, die auch Jasjas "Körpermusik" ausmachen.

Он смотрел на нее долго-долго, пока она медленно пила свой сироп, а он всегда вдумывался в ее белизну, которая ярче радуги сияла перед ним на фоне матовой побелки пустой стены. И блеск эмали кухонной кружки в ее розовой, но все же белой руке, и куски крупного колотого сахара в кристаллических изломах, и белесое небо за окном – все это хроматической гаммой мудро восходило к ее яично-белому личику, которое было чудо белого, теплого и живого, и лицо это было основным тоном, из которого все производилось, росло, играло и пело о тайне белого мертвого и белого живого (Ulickaja 2002: 97f.).


Er [Robert Viktorovič – J. P.] sah sie lange, lange an, während sie ihren Sirup trank und er sich in ihr Weiß versenkte, das vor dem matten Weiß der leeren Wand greller als ein Regenbogen leuchtete. Der Emailleglanz des Bechers in ihrer rosigen, aber dennoch weißen Hand, die groben Zuckerstücke mit den kristallfunkelnden Bruchstellen und der weißliche Himmel draußen – das alles bildete ein Strahlenspektrum, gekrönt von ihrem Gesicht, das weiß war wie ein Ei, ein Wunder an Weiß, Wärme und Lebendigkeit; dieses Gesicht war der Grundton, aus dem alles hervorging, wuchs, spielte und vom Geheimnis des toten und lebendigen Weiß kündete (Ulitzkaja 1994: 141).




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Solche Motive führen auch zur Aktualisierung der Texte in der Wahrnehmung des Lesers, und so findet wiederum implizites oder paralleles Lesen statt.

Wenn wir zum Aktualisierungsmechanismus der onomastischen Marker zurückkehren, so sehen wir, dass er nicht nur auf dem Niveau der handelnden Personen, sondern auch bei den Erwähnungen von Schriftstellern eine wesentliche Funktion erfüllt. Wenn die Namen von handelnden Personen beim Leser ein konkretes Werk in Erinnerung rufen, so aktualisieren die Namen der Schriftsteller ihr ganzes Schaffen in allgemeinen Zügen, ihre wichtigsten und bedeutendsten Werke, was wiederum zur Schaffung des vor kurzem erwähnten intertextuellen Kontextes beiträgt. In Sonečka sind es in erster Linie die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts: Puškin, Turgenjev, Leskov, Dostojevskij, Tolstoj, die Namen, die gerade den Kanon der russischen klassischen Literatur bilden. Die textuelle und kontextuelle Auslastung des Werkes lässt auch beispielsweise gewisse Verbindungen zwischen den Namen von handelnden Personen der vorliegenden Erzählung und Protagonisten aus anderen Werken herstellen.

Bei der Bekanntschaft mit Tanja, der Tochter von Sonečka, denkt man gleich an Tatjana Larina wieder aus Puškins Evgenij Onegin. Die Philologin Natalija Kovtun weist auch auf die Ähnlichkeit der beiden Gestalten hin: Beide sind "traurig, schweigsam", sind oft nachdenklich und meistens allein. Der Name von Tanjas Freundin Jasja erinnert an Asja aus der gleichnamigen Erzählung von Ivan Turgenjev. Und natürlich verfügt der Name Sophia, Sonja, Sonečka in diesem Zusammenhang über viele literarische Konnotationen und lässt die Leser gleich an einige Protagonistinnen aus den Hauptwerken der russischen Literatur denken: Sonečka Marmeladova aus Prestuplenie i nakazanie (1866, dt. Verbrechen und Strafe) von Dostojewskij und Sonja aus Vojna i mir von Tolstoj. Aber es sind nicht nur Namen, die diese literarischen Gestalten vereinigen, es sind auch bestimmte Eigenschaften, die diese Protagonistinnen in eine Reihe stellen: Sanftmut und Treue, Geduld, Selbstaufopferung und Edelmut. Im Kontext der russischen Literatur wirkt diese Gestalt fast archetypisch. Natalija Kovtun geht in ihren Studien noch weiter und behauptet, dass im Werk Ulickajas nicht nur die Motive der russischen Literatur wiederkehren, sondern auch die Themen und Fragenkomplexe der Antike, des Judentums und auch das Motiv der Sophia als Weltseele, die sich in der Gestalt von Sonečka verkörpert (Kovtun 2011).




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Bei Ulla Hahn spielen die onomastischen Indikatoren auch eine wesentliche Rolle. Aber im Unterschied zu Ljudmila Ulickaja wird Schriftstellern und konkreten Werken mehr Aufmerksamkeit als Figuren aus literarischen Werken gewidmet. Wie gesagt, ist Das verborgene Wort eine Lektürebiographie, die in einer Leserin-Geschichte im gewissen Sinne die Geschichte der Literatur darstellt. Die im Roman erwähnten Werke können als Meilensteine in der persönlichen Entwicklung von Hilla bezeichnet werden, und einer der ersten Meilensteine ist Hans Christian Andersens Den lille Havfrue (1837), ein Märchen, in dem die Meerjungfrau ihre Stimme weggibt, um bei ihrem Geliebten, dem Prinzen, bleiben zu können. Diese Unfähigkeit und Stimmlosigkeit bringt Hilla auf eine geniale Idee: Wenn die Meerjungfrau hätte schreiben können, dann hätte sie auch dem Prinzen über alles geschrieben und das Ende des Märchens wäre nicht so tragisch gewesen. Danach prüft Hilla einige Zeit lang auch andere Geschichten und fragt sich, was Lesen und Schreiben in den Geschichten verändert hätten. Das war einer der ersten Schritte auf dem Leseweg, der die Erkenntnis brachte, wie wichtig es im Leben ist, lesen und schreiben zu können.

Bestimmte Autoren spielen im "Literaturwertesystem" von Hilla, der Protagonistin des Romans, eine bedeutende Rolle. Wie in Sonečka sind es in erster Linie die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, also wiederum der klassischen Literatur. Eins der bedeutendsten Lesererlebnisse sind für Hilla die Werke von Friedrich Schiller. Genauso wie für Sonečka die literarischen Gestalten in einer Reihe mit lebendigen Menschen stehen, ist Friedrich Schiller für Hilla ein Gesprächspartner, ein Freund, dem sie ihre Sorgen mitteilen kann. Er verkörpert für sie das Wesen des Kampfes um die Freiheit und die Einsamkeit, und sie fühlt in dem Schriftsteller eine verwandte Seele. Genauso wie in dem Gespräch mit ihrem Vater projiziert sie die Worte von Schiller auf ihr Leben, in erster Linie auf ihre komplizierte Beziehung zu ihren Eltern, von denen ihre Lesesucht nicht verstanden wird:

Er [Friedrich Schiller – J. P.] wusste von Tyrannen manches Lied zu singen. "Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei/und würd‘ er in Ketten geboren." […] Nirgends fand ich mich so tief verstanden wie bei ihm (Hahn 2009: 238).

Seine Werke von der Ballade Der Handschuh bis zum Drama Die Räuber lehrten sie, frei in ihren Gedanken zu sein, was auch ein wichtiger Schritt im Erwachsenwerden war und Hilla stärker gemacht hat. Später begeisterte sich Hilla für die Poesie, und eine der großen poetischen Offenbarungen war für sie Joseph von Eichendorff, der mit seinen Versen aus dem Gedicht Die Wünschelrute ihre innerste und festeste Überzeugung traf:

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort (Eichendorff 1962: 90).




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Gedichte bleiben nicht nur in den Büchern und Gedanken von Hilla, sie werden im realen Leben angesiedelt und dadurch auf eine gewisse Art materialisiert und verwirklicht: Sie werden vorgetragen und sogar jeden Morgen in die Schuhe als Trost und Unterstützung gesteckt, wie z. B. Der Panther von Rainer Maria Rilke. Dabei merkt man, dass Lesen und Rezipieren von Gedichten für Hilla auch Dazu-Schreiben und Dazu-Dichten ist, denn sie verändert Verse, vertauscht Reime, herrscht über das Gedicht, genauso wie sie in ihrer Kindheit über Buchstaben und Wörter herrschte. Sie ist also eine aktive Leserin, die aktiv den Prozess des Lesens und Interpretierens steuert, was der Konzeption des aktiven Lesens und des offenen Werks von Wolfgang Iser und Umberto Eco entspricht. Im Gedicht Der Panther ersetzte Hilla beispielsweise in der vorletzten Strophe das Wort "betäubt" durch das Wort "erwacht":

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der erwacht ein großer Wille steht (Hahn 2009: 526).

Hillas Umgang mit der Sprache und den literarischen Texten zeigt die Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Zuerst Staunen und Genießen von Buchstaben, Lauten, Wörtern, dann die ersten Werke, Übertragung von Sujets und Problemen auf das reale Leben und Versuche, mithilfe von Büchern die Welt zu verstehen, später Verändern und Anpassen der Texte an die eigene Lebenssituation wie die partielle Aneignung von Gustave Flauberts Madame Bovary (1857) (Hahn 2009: 471–478). Genauso wie Sonečka ist Hilla eine begabte Leserin, ihr Lesetalent besteht einerseits im starken Vermögen, sich mit handelnden Personen und Schriftstellern zu identifizieren, andererseits in der Meinungsselbständigkeit: Die Episode mit Rilke ist ein wunderbares Beispiel für einen aktiven Dialog mit dem Dichter.

4 Fazit

Wie man sieht, sind die Präsenz und das Gewebe von Prätexten im Roman dichter als bei Ulickaja, was dadurch bedingt ist, dass die Prätexte bei Hahn nicht nur paradigmatisch miteinbezogen werden, sondern auch syntagmatisch: Es gibt viele Zitate in erster Linie aus Gedichten, Rilkes Der Panther wird sogar ganz im Text angeführt. Das trägt dazu bei, dass der intertextuelle Kontext oder der Intertext des Romans präziser als in Sonečka ist. Die intertextuelle Intensität des Lesens fordert und fördert das aktive Lesen, das zum abstrakten Mit-Schreiben, Schreiben im Kopf wird. Außerdem korrelieren verschiedene Arten der Intertextualität mit den "Lesestrategien" der Protagonistinnen, zeigen die Herausbildung ihrer Leseidentität und somit die Entwicklung ihrer Persönlichkeit: Ein detaillierter intertextueller Hintergrund bei Ulla Hahn spiegelt Hillas reflektierende, oft realitätsbezogene Auseinandersetzung mit der Literatur wider, ihr Erwachsenwerden, während Sonečka die russische klassische Literatur in erster Linie als Zufluchtsort benutzt.




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Das Motiv des Lesens ist eine textbildende Kategorie und die Leserfiguren stehen nicht nur als Protagonistinnen im Mittelpunkt des Sujets, sondern befinden sich auch im Zentrum der Komposition und im Zentrum des intertextuellen Kontexts, indem sie zahlreiche textuelle Dimensionen in sich vereinen. Mithilfe der Leserfiguren wird das intertextuelle Lesen auf verschiedene Art und Weise aktualisiert. Außerdem zeigt Hilla als Leserfigur in ihrer Entwicklung einige Etappen der Geschichte der Weltliteratur auf, was ihr Erwachsenwerden der Entwicklung der Literatur auf eine interessante Art und Weise als Parallele setzt. Der intertextuelle Kontext erlaubt auch einen Einblick in den Literaturkanon der russischen und deutschen Kultur und zeigt, was gelesen und geschätzt wurde.

Die dargestellten Leserfiguren verkörpern zwei Typen des Lesens, die man in Anlehnung an Roland Barthes' Unterschied zwischen écrivain und écrivant, dem Schreiber und dem Schreibenden, beschreiben kann. Den Ersten sieht Barthes als jemanden, der beim Schreiben eine mechanische Handlung ausführt, für den Zweiten ist Schreiben eine mit Sinn gefüllte Tätigkeit (Barthes 2006: 101–109). Der Schreiber ist im bestimmten Sinne passiv, der Schreibende ist aktiv.

So kann man zwischen den Arten des Lesens unterscheiden, indem man nach der Analogie mit Roland Barthes über lecteur und lisant spricht. Hilla ist eine aktive Leserfigur, lisant, sie projiziert literarische Szenarien auf ihr eigenes Leben, liest ihre eigene Geschichte in Texte hinein, polemisiert gegen den Dichter, befindet sich in einem ständigen Dialog mit ihm. Sonečka dagegen ist lecteur, auch wenn Lesen für sie zu einer Leidenschaft ihres Lebens wurde, liest sie passiv und lässt sich vom Text-Strom in eine imaginäre Welt treiben. Dies kann schon als eine psychologische Charakteristik des Leseverhaltens in jeweiligen Kulturen gesehen werden.

Das Lesen von Texten ist sowohl bei Hahn als auch bei Ulickaja ein Spiegel des Lebens der Protagonistinnen: Die gelesenen Werke, der Umgang damit und die Intensität des Lesens sind bedeutende Faktoren, die den Gemütszustand, die Interessen und Prioritäten von Hilla und Sonečka charakterisieren. Wie das literarische Werk sich im Lesevorgang entfaltet (Iser 1994: 39), so entfaltet sich auch im Lesen das Leben der Protagonistinnen. Bemerkenswert ist, dass Sonja und Hilla nicht nur Bücher und Texte lesen, sondern auch ihr Leben und die Realität um sie herum. Lesen bedeutet Leben, Leben bedeutet Lesen. Sonečka liest sogar ihre Träume, als ob es Texte wären:




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Сонечкино чтение, ставшее легкой формой помешательства, не оставляло ее и во сне: свои сны она тоже как бы читала. Ей снились увлекательные исторические романы, и по характеру действия она угадывала шрифт книги, чувствовала странным образом абзацы и отточия. Это внутренне смещение, связанное с ее болезненной страстью, во сне даже усугублялось, и она выступала там полноправной героиней или героем, существуя на тонкой грани между ощутимой авторской волей, заведомо ей известной, и своим собственным стремлением к движению, действию, поступку… (Ulickaja 2002: 7)


Das Lesen, das zu einer leichten Geistesgestörtheit wurde, begleitete Sonetschka auch im Schlaf: Sogar ihre Träume las sie gewissermaßen. Sie träumte spannende historische Romane; und am Charakter der Handlung erkannte sie die Schrift des Buches, spürte auf unerfindliche Weise Absätze und Interpunktion. Die innere Verschiebung, die mit ihrer krankhaften Leidenschaft zusammenhing, vertiefte sich im Traum sogar, und sie agierte dort als gleichberechtigte Heldin oder Held und existierte auf der schmalen Grenze zwischen dem spürbaren Willen des Autors, den sie von vornherein kannte, und von ihrem eigenen Drang nach Bewegung, Handlung und Taten (Ulitzkaja 1994: 41).

Dies kann auch für Hilla gelten, nur mit einer Präzisierung: Hilla liest nicht ihre Träume, sie liest und erlebt durch die Lektüre gleichzeitig die Realität. Über die Leserfiguren werden wir als Leser aktiv: Wir lesen nicht nur die Geschichte vor unseren Augen, sondern über diese Geschichte andere Geschichten der Weltliteratur und über alle diese Geschichten auch unsere eigene.


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