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Florian Mehltretter (München)



Sara Springfeld / Norbert Greiner / Silke Leopold (Hg.) (2016): Das Sonett und die Musik. Poetiken, Konjunkturen, Transformationen, Reflexionen. Heidelberg: Winter.



Das Sonett gilt als die erste metrische Gattung innerhalb der (zunächst) romanischen Lyrik, die nicht mehr mit Blick auf einen musikalischen Vortrag konzipiert ist und insofern keine Weise (Melodie) vorsieht. Und doch ist es von Anfang an möglich, das Sonett auch zu singen, zunächst mit Hilfe formelhafter Melodien, später auch auf der Basis ausgearbeiteter Kompositionen. Der hier zu besprechende Band erkundet diesen scheinbaren Widerspruch und gewinnt daraus eine breite Palette von Themen, die historisch vom Mittelalter bis in die Moderne, sprachlich vom Italienischen über das Englische, Spanische, Französische, Deutsche bis zum Russischen und hinsichtlich der behandelten Phänomenfelder von der Musikalität und der Formsprache des Sonett-Textes selbst über seine möglichen und tatsächlichen Vertonungen bis hin zu seiner Rolle in der Oper reicht.

Der einleitende Artikel von Silke Leopold orientiert sehr genau über die musikalische Geschichte des Sonetts und denkt insbesondere über die Relation von Textform und musikalischer Form nach; so erschließt sich beispielsweise aus der Bevorzugung zyklischer Formen in der Musik des Hoch- und Spätbarock unmittelbar, warum das Sonett hier so gut wie keine Rolle mehr spielt (13), während es in der Klassik mit der zweiteiligen Arienform wieder in den Bereich des Möglichen rückt (15). Unterschiedliche Arten des Umgangs mit Textsymmetrien im neunzehnten Jahrhundert (Schubert, Liszt) und die Rolle des Sonetts und insbesondere des elfsilbigen Verses seiner italienischen Variante in Arnold Schönbergs Zwölftonmusik (21) ergänzen diese sehr erhellenden Überlegungen zu Text- und Musikform.




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Ungleich schwerer zu fassen scheint die Klanglichkeit des Sonetts selbst, deren Modellierungen Rüdiger Görner in seinem Beitrag durch die Jahrhunderte verfolgt, bis hin zu Rilkes späten Sonettentwürfen, die er als "sprachliche Klangform nach-orphischer Prägung" (35) fasst. Felix Sprang hingegen macht den sehr anregenden Vorschlag, das Sonett nicht von seinem Klang, Rhythmus oder seiner Architektur her zu entwerfen, sondern von der seine Gestalt wesentlich bestimmenden Volta, denn sie erst verleiht unserem Verständnis seiner Form einen Inhalt. Er beschreibt die Entwicklung der Volta im italienischen und englischen Sonett und erkundet dabei auch Nebenaspekte wie die Homonymie des Volta-Begriffs mit der Bezeichnung einer im 16. Jahrhundert als gewagt empfundenen Tanzdrehung (43) oder des Umschlagpunktes einer Geschoßbahn in der Ballistik (45). Sehr anregend zeigt er die Rolle der Volta bei der Epigrammatisierung des Sonetts in der Renaissance, wie sie sich nicht zuletzt im englischen couplet zeigt, und am Ende sogar die Wirkung des Ausbleibens einer gleichwohl erwarteten Volta in einem Sonett von Carol Ann Duffy von 1993 (56). Christine Faist analysiert sodann einen kleinen Zyklus von Sonettvertonungen von José Luis Turina von 1992, der sich im Spannungsfeld von "Vergangenheitsvergegenwärtigung [...] und Aktualitätsbezug" bewegt und dabei auf selbst wieder die Geschichte ihrer Gattung reflektierende Sonette zurückgreift (98).

In den meisten Fällen wendet sich in diesem Band je ein Team aus Literatur- und Musikwissenschaft einem gemeinsam erschlossenen Bereich zu. So besonders eindrücklich Marc Föcking (Romanistik) und Joachim Steinheuer (Musikwissenschaft) in ihrer Erkundung des Vanitas-Sonetts in der Frühen Neuzeit. Föcking zeigt, dass der meditative, antinarrative hic-et-nunc-Bezug der Vanitas-Thematik diese zu einem idealen Thema für Lyrik macht, was jedoch aufgrund der Entwicklung der Pragmatik des Sonetts (mittelalterliches Korrespondenz-Sonett, quasi-narrative Zyklusbildung im Petrarkismus) erst in der Spätrenaissance zu einer nennenswerten Produktion von Vanitas-Sonetten führt – wenn nämlich das (Reue-) Sonett seiner gewohnten Kontexte enthoben wird (113) und sich auch neue Thematiken wie die Ruinen Roms erschließt (119). Joachim Steinheuer ergänzt diesen Blick um sehr präzise Analysen von Vertonungen italienischer Vanitas-Sonette zwischen 1550 und 1650. Neben Verfahren der Mimesis semantischer Gehalte und interessanten Phänomenen musikalischer Intertextualität (136) werden hier vor allem die formalen Optionen zwischen Durchkomposition und 'strophischer' Vertonung verfolgt.

Aus Thomas Borgstedts grundlegendem Beitrag zur Geschichte der Sonetttheorie vornehmlich in Deutschland erfahren wir freilich, dass diese Frage nach der 'Strophigkeit' von Sonettvertonungen dahingehend korrigiert werden muss, dass das Sonett einstrophig ist, ist es doch aus einer vereinzelten Kanzonenstrophe entstanden (169). Borgstedt folgert daraus, dass das Sonett weniger 'liedhaft' ist als die Kanzone, weil es keine strophische Wiederholung vorsieht (172). Allerdings ist die Stollensymmetrie des Sonettes ähnlich wie bei der Kanzonenstrophe (oder beim evangelischen Kirchenlied) durchaus ein Dispositiv musikalischer Wiederholung; besser als von strophischer sollte man vielleicht von stolliger Struktur sprechen. In Deutschland gerät das Sonett schnell (etwa bei Philipp von Zesen) in das Spannungsfeld zweier inkompatibler Gattungen: des Liedes und des Epigramms. Die durchkomponierten Sonettvertonungen der Madrigalisten verbindet Borgstedt vor allem mit der Tendenz zum (in sich ja nicht symmetrischen) Epigramm (wobei die Nähe des Madrigals zur gehobenen motettischen Varietas-Ästhetik ohnehin strophische Vertonungen weniger wahrscheinlich macht). Im 18. Jahrhundert wird die Geschichte des Sonetts dann wesentlich von seiner Konfrontation mit dem neuen Leitbegriff des 'Natürlichen' bestimmt – sei es, dass die Gattung als diesem Ideal nicht entsprechend verworfen wird, sei es, dass sie ihm gemäß uminterpretiert wird, etwa bei Gottsched (177). Im Gegensatz zum romanischen Raum, wo das Sonett als 'klassizistisch' gilt, wird in Deutschland das Sonett als mittelalterliche, antiklassizistische Gattung "zur lyrischen Paradeform" der Romantik (179). Der wichtigste Theoretiker des Sonetts um 1800, August Wilhelm Schlegel, führt die Sonettform freilich nicht so sehr auf das sonst der Romantik so teure Lied (oder die Kanzone) zurück als vielmehr auf mathematische und damit abstrakt philosophische Prinzipien. Sara Springfeld ergänzt diesen Blick auf das deutsche Sonett und seine Theorie um eine Untersuchung des sehr geringen Bestandes von Sonettvertonungen in der deutschen Musik des 17. Jahrhunderts; auch hier spielt die Frage der Wiederholungssymmetrie eine zentrale Rolle.




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Die Zusammenarbeit des russischen Symbolisten Wjatscheslaw Iwanow und des Komponisten Alexander Gretschaninow und die daraus entstandenen Römischen Sonette untersucht Henrieke Stahl. Stefan Weiss erkundet die Traditionslinien der Aneignung von Shakespeares Sonetten in der russischen Musik einschließlich des gegenwärtigen Popsongs, wo sie eine überraschend große Rolle spielen. Eine weitere interdisziplinäre Paarung ist Shakespeares Sonett 66 gewidmet: Norbert Greiner befasst sich mit der übersetzerischen Rezeption des Sonetts in Deutschland; Dorothea Redepenning verfolgt den Weg des Textes nach Russland zu Boris Pasternak und zu seiner Vertonung durch Dmitrij Schostakowitsch (1942), die mit äußerster Schlichtheit Raum für das Wort lässt, aber zugleich auf Traditionen musikalischer Semantik verweist (290).

Die letzten beiden Beiträge untersuchen Sonette in Opern. Sonja Fielitz betrachtet aus anglistischer Perspektive das von dem Librettisten Boito in Verdis Falstaff eingeführte Sonett "Dal labbro il canto estasiato vola", das weder in Shakespeares Drama noch in dessen Sonetten vorgebildet ist und in der Oper als poetischer Moment der Vereinigung der Liebenden in selbstreflexivem Gesang inszeniert wird. Hartmut Schick hingegen erschließt anhand der Rolle des Sonetts "Kein Andres, das mir so im Herzen loht" Richard Strauss' Oper Capriccio (Libretto von Clemens Krauss und vom Komponisten) in höchst anregender Weise neu. Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Vertonung dieses (von Hans Swarowsky nach dem Französischen des Pierre de Ronsard beigesteuerten) Sonetts ist der "Dreh- und Angelpunkt" dieser letzten, auf die ganze Geschichte ihrer Gattung zurückblickenden Oper von Richard Strauss (317). Die Vertonung wird zu einem wesentlichen Handlungselement und zugleich zum Fokus historischer Reflexion, nicht zuletzt durch die intertextuelle Tiefe und kompositorische Besonderheit ihrer fünftaktigen Perioden (323).

Wie aus diesen Ausführungen leicht zu ersehen, markiert der Band einen neuen Stand der Forschung zu einem interessanten, weil wichtige systematische und historische Linien verbindenden Gegenstand. Ihm ist eine dem entsprechend breite Rezeption in Literatur- und Musikwissenschaft zu wünschen.