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Julia Genz (Witten/Herdecke)



Dantes Dilemma – Zur Problematik von Erzähler- und Autorschaft in Conrad Ferdinand Meyers Die Hochzeit des Mönchs



Dante's Dilemma. The role of Narrator and Author in Conrad Ferdinand Meyer's The Monk's Wedding.
In the research literature, Dante, the narrator of C.F. Meyer's The Monk's Wedding, is treated as an example of an author who successfully asserts the autonomy of his art over against princely sovereignty. This autonomy is questioned in the present article by judging Dante's manner of narration, which is characterized by resentments toward his audience, to be a mirror of the situation of the writer in the 19th century, who finds himself in various dependencies (publishers, readership, etc.). Dante's reactions to his audience will be related to Meyer's reactions towards socio-historical and typographical innovations of his time.


1 Dante als Souverän?

In vielen Novellen Conrad Ferdinand Meyers tritt ein Erzähler vor einer Zuhörerschaft auf und verweist in dieser Konstellation auf den Ursprung der Gattung im geselligen Charakter der italienischen Novelle. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass der prominenteste Erzähler in Meyers Werk ein italienischer Dichter ist, wenngleich es zunächst erstaunen mag, dass Meyer ausgerechnet Dante für diese Aufgabe wählt. Er erscheint im erzählerischen Rahmen der Novelle Die Hochzeit des Mönchs (SW XII), um vor der Hofgesellschaft des veronesischen Fürsten Cangrande della Scala eine Geschichte zum Besten zu geben.




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In der Forschung wurde vor allem die Position Dantes als erzählerischer Souverän hervorgehoben. Schon für Benno von Wiese war Meyers Dante ein "nahezu mythisches Wesen […] zugleich aber auch [ein] strenge[r] und unbestechliche[r] Richter der Sünden einer bereits zynisch gewordenen Gesellschaft, [und ein] Ermahner und Erzieher auch noch der unumschränkten fürstlichen Souveränität" (von Wiese 1962: 179).1

Aber auch in neueren Arbeiten, etwa in Andrea Jägers Meyer-Monographie von 1998, beansprucht Dante "für sich als Erzähler uneingeschränkte Souveränität. Er ist der Herr der Wertungen, die er in seiner Literatur trifft" (Jäger 1998a: 278). "Mit Dante, einer unanfechtbaren literarischen Autorität," so schreibt sie weiter, "reklamiert Meyer für sich, daß der Sinn einzig ästhetischer Natur ist und es ebenso einzig der fiktionalen Souveränität des Dichters obliegt, diesen zu setzen" (ebd.: 279). Selbst ein medienhistorisch ausgerichteter Aufsatz wie der von Stefan Scherer (Scherer 2011: 247) reproduziert noch das Urteil von Dantes Souveränität.

Diese Einschätzung beruht nicht zuletzt auf einer Assoziation des historischen Autors Dante und dessen Aura mit der literarischen Figur in Meyers Novelle. Dieser Artikel beleuchtet ebenfalls die Rolle Dantes als Erzähler, allerdings zweifelt er die These von Dantes uneingeschränkter Souveränität an, da dieser in der Novelle einige Verhaltensweisen zeigt, die ihn gerade nicht als Souverän ausweisen. Vielmehr zeigt er Dante in einem Spannungsfeld aus fürstlicher Macht, literarischer Konkurrenz, Zuhörerwünschen und besonderen Kommunikationsbedingungen. Zunächst lässt sich feststellen, dass Dante als Erzähler genau der gleichen "Zweiteilung" der Bewertung unterliegt, die Sjaak Onderdelinden für Cangrande konstatiert (Onderdelinden 1974: 130). Cangrande verkörpert demnach auf der Ebene der Binnenerzählung in Gestalt des Tyrannen Ezzelin die Wende von Gerechtigkeit in Grausamkeit und Renaissance-Zügellosigkeit sowie in Gestalt des Mönchs Astorre von Ehrbarkeit in Zweiweiberei (Carol Klee Bang zit. nach Onderdelinden 1974: 128). Während das Identifikationsangebot mit Ezzelin für Cangrande dabei noch relativ schmeichelhaft ist, ist dasjenige mit dem Mönch Astorre, der wie Cangrande zwei Frauen liebt, eher beleidigend (vgl. Jahraus 2003: 232).

Wie diese Zweiteilung in Bezug auf Dante als Figur und als Erzähler aussehen könnte, soll weiter unten geklärt werden. Einen ersten Hinweis gibt dabei Tamara Evans, die davon spricht, dass Meyer Dante "systematisch entmythologisiert", ihn "vom Sockel herunter[nimmt]" und "als Bürger dieser Welt" präsentiert (Evans 1980: 114).




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Dantes poetisches Talent und seine dichterische Freiheit bleiben weitgehend unangetastet. Der Mensch jedoch – und wichtiger wohl noch: unser tradiertes 'Image' von Dante als einem erhabenen, olympischen Poeten wird gleich auf den ersten Seiten der Novelle ironisiert (ebd.: 115).

Um die Figur Dante in ihrer Darstellung richtig einschätzen zu können, untersuche ich zunächst ihre Bewertung durch andere Figuren oder den Erzähler des Rahmens sowie Dantes Selbstsicht und seine eigenen Bewertungen. Diese Wertungen übertrage ich mithilfe von Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes auf verschiedene Positionen innerhalb eines Kräftespiels im sozialen Raum. Ein anschließender Blick auf die Situation des Schriftstellers im 19. Jahrhundert hilft dabei, Funktion und Bedeutung der ambivalenten Bewertungen Dantes in der Novelle zu klären und auf die Bedeutung für Meyers Schreiben zurückzuspiegeln.

2 Bewerten des Erzählens

Die Werturteile über Dante betreffen nicht nur seine Person, sondern ebenso seine erzählerische Leistung. In Conrad Ferdinand Meyers Novellen werden häufiger Erzähler von ihren Zuhörern bewertet, das Urteil fällt dabei nicht immer günstig aus. Beispielsweise wird der Erzähler Hans der Armbruster in der Novelle Der Heilige (SW XIII: 25 f.) von seinem Zuhörer Burkhardt getadelt, dass er abschweife oder dass manche Dinge unglaubwürdig seien.

Auch der humanistische Erzähler Poggio Bracciolini in Plautus im Nonnenkloster (SW XI), der in einer ähnlichen Situation wie Dante am Hof von Cosimo de Medici eine Facetie über eine Novizin zum Besten gibt, wird von seinen Zuhörern zunächst spöttisch empfangen und von seinem Gastgeber am Ende dadurch unausgesprochen getadelt, dass er lediglich mit einer Schale, die von einem Satyr umklammert wird, entlohnt wird (SW XI: 134 und 163).

In Die Hochzeit des Mönchs wird ebenfalls der Plot aus Plautus im Nonnenkloster erwähnt, in dem es um eine angehende Nonne geht, die ihr Gelübde zurückzieht, als sie ihren verschollenen Geliebten in der Kirche erblickt. Dante erfährt diese Geschichte, als die Hofgesellschaft ihm berichtet, was bisher erzählt wurde. Die Geschichte der Nonne wird in der Rahmenerzählung der "kecke[n], etwas üppige[n] Paduanerin" Isotta in den Mund gelegt, deren "Geschwätze" jedoch "von dem Munde Dantes zerschnitten" wird (SW XII: 9).




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Obwohl Isotta ihre Erzählung für Dante lediglich nochmals zusammenfasst, wird sie durch die Formulierung "Geschwätze, das zerschnitten wird" kritisiert. Will man die Bezeichnung "Geschwätz" nicht auf den Inhalt beziehen, den Meyer ja immerhin für Wert befunden hat, als eigenständige Novelle auszuführen, so wird damit die Erzählweise Isottas abgewertet.

Klargestellt wird mit dieser Wertung, dass nicht jeder, der erzählt, auch zum Erzähler berufen ist. In Schwebe bleibt dabei, ob Dante oder der Erzähler hinter Dante diese Wertung vornimmt. Die Kritik scheint sich allerdings eher gegen die gedankenlose Plauderei Isottas, also gegen die performativen Anteile ihres Diskurses, zu richten, als gegen ihren hypotaktischen Satzbau, der auch Dantes Erzählweise selbst kennzeichnet. Ziel der Kritik ist es dabei, eine Differenz "im literarischen Feld" zu markieren, das sich dem Soziologen Pierre Bourdieu zufolge zwischen gesellschaftlichen Strukturen und Akteuren aufspannt und innerhalb dessen die Akteure um ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital kämpfen: "Eine jede soziale Lage ist mithin bestimmt durch die Gesamtheit dessen, was sie nicht ist, insbesondere jedoch durch das ihr Gegensätzliche: soziale Identität gewinnt Kontur und bestätigt sich in der Differenz" (Bourdieu 1987: 279).

Dante als anerkannter Dichter strebt danach, sich durch Monopolisierung des symbolischen Kapitals (d.h. Formen gesellschaftlicher Anerkennung, Prestige), von nicht etablierten Konkurrenten abzusetzen. Diese Bemühungen richten sich offenbar gegen die weibliche Erzählerfigur, denn eine weitere Geschichte über das Motiv des entkutteten Mönchs, die ebenfalls ein Meyersches Thema behandelt, aber vom 'treuherzigen' Kriegsmann Germano erzählt wird, unterliegt keiner negativen Kritik: In der Geschichte des "jungen Manuccio, welcher über die Mauern seines Klosters sprang, um Krieger zu werden" (SW XII: 9), scheint die Geschichte Hans des Armbrusters aus Der Heilige auf. Dieser Gesprächsbericht ist viel knapper gestaltet als die ausführlichere, Raum beanspruchende Erzählweise Isottas. Damit wird eine Gender-Frage berührt, auf die ich später noch einmal zurückkomme.

Dante wird somit in der Novelle zwar als der berühmteste, jedoch nicht als der einzige Erzähler eingeführt. Die Ehre seines Berufsstandes steht gewissermaßen auf dem Spiel, die er gegen eine Vielzahl von begabten und unbegabten, sympathischen und unsympathischen Konkurrenten zu behaupten hat.

In dem historisch ausgebildeten Raum miteinander koexistierender und daher konkurrierender Werke, die durch ihre Wechselbeziehungen den Raum möglicher Positionierungen, Fortsetzungen, Überholungen, Brüche umreißen, weist das durch Besetzung einer distinktiven, erkennbaren Position bekannt gewordene und anerkannte Werk durch eine Evaluation in actu seinerseits den anderen ihren Platz zu, indem es über die Entwicklung ihres distinktiven Wertes entscheidet (Bourdieu 1999: 380, Hervorhebungen i. Orig.).




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Das vorgegebene Thema des geselligen Erzählabends lautet "plötzlicher Berufswechsel mit gutem oder schlechtem oder lächerlichem Ausgang" (SW XII: 8). Dieses Thema kann ebenfalls auf die Rahmenhandlung bezogen werden, denn auch Dante bekommt gewissermaßen von Cangrande della Scala einen Berufswechsel aufgezwungen, indem er eben nicht als ernsthafter Ependichter der Divina Commedia (1321) etwas vortragen soll, sondern als prosaischer Dichter im Stile Boccaccios: "Laß dich zu uns herab und erzähle, Meister, statt zu singen" (SW XII: 8). Statt geistlicher Literatur oder Epik ist weltliches Erzählen mit der entsprechenden frivolen Thematik im Stile Boccaccios gefragt. Dante muss also, um in der Terminologie Bourdieus zu bleiben, seine bisherige Strategie, mit der er "Epoche gemacht" hat, modifizieren (Bourdieu 1999: 249), um Distinktionsgewinne zu erzielen.

Dante löst diese Aufgabe durch eine Kombination von Belehrung und Unterhaltung, die die Zielsetzungen von Boccaccios Erzählweise chiastisch vertauscht: während bei Boccaccio hinter der Fassade des Belehrenden Unterhaltendes aufscheint, ist bei Dante das Verhältnis von prodesse und delectare, also von Belehren und Unterhalten umgekehrt, indem er "unter dem Vorwand einer leichten Abendunterhaltung wesentlich Belehrendes anzubieten hat" (Onderdelinden 1974: 130). Dante führt sich allerdings zunächst als Belehrender ein, indem er seinen Sitz abseits der Gesellschaft wählt und von diesem aus "die Gesellschaft wie ein Richter oder eher noch wie ein Schulmeister [beherrscht]: er fragt, die andern antworten, und er begutachtet die Antwort: 'Er tat recht', 'Sie tat gut'. Auch der Fürst ist von diesem Schulmeistern nicht ausgenommen" (Merian-Genast 1973: 62f.).2

In seiner primären Funktion als Unterhalter der Hofgesellschaft rückt Dante in Konkurrenz zum Narren Gocciola, dessen Kunst ausschließlich das delectare verkörpert. Diese Konkurrenz von Dante und dem Hofnarren fand Meyer in einer Anekdote überliefert, die in Karl Streckfuß' Übersetzung von Dantes Divina Commedia (dt. Göttliche Komödie) abgedruckt ist: "Als einst Can della Scala sich selbst von einem Possenreißer unterhalten ließ und sah, daß sein Hof sich sehr an den Schwänken desselben belustigte, fragte er den Dichter: Wie kommt es, daß ein so abgeschmackter Narr allen besser gefällt als du, den man für einen Weisen hält?" (Dante 1834: Sp. 19f.).

Dante als Exilierter ist abhängig von der Gunst Cangrandes, wie auch der Narr und die beiden zuhörenden Frauen des Fürsten, seine kräftige Ehefrau und seine zarte Geliebte, abhängig von den Launen des Fürsten sind. In dieser Hinsicht spiegelt das Paar Dante – Gocciola im Rahmen in grotesker Verzerrung das Frauenpaar der




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Rahmenhandlung,3 die offizielle Gattin Diana und die Geliebte Antiope, auch in physiognomischer Hinsicht. Während die Statur des kleinwüchsigen Narren und sein kindliches Temperament mit dem zarten Bau und dem Wesen der Geliebten Cangrandes korrespondieren, mutiert Dantes Schattenbild zu einer herben und großen weiblichen Gestalt, in der unschwer eine Persiflage auf Diana zu erkennen ist: "Das Schattenbild Dantes glich einem Riesenweibe mit langgebogener Nase und hangender Lippe, einer Parze oder dergleichen" (SW XII: 8). Der weibliche Schatten Dantes symbolisiert also nicht nur seine – wenngleich ironisierte – dichterische Souveränität in der Gestalt der Parze4, sondern auch seine Abhängigkeit von der Gunst seines Gönners und Mäzens. Die Ähnlichkeit mit Diana erklärt Dantes erkennbar starke Abneigung gegen den Narren und Antiope und seine relative Sympathie mit der Fürstin.

3 Selbstsicht Dantes

Das Paar Dante und Gocciola wird jedoch nicht nur in den beiden Frauen des Rahmens gespiegelt, sondern auch in der Binnenhandlung durch die beiden Bräute des entkutteten Mönchs Astorre, denen Dante ebenfalls die Namen Diana und Antiope gibt. Darüber hinaus reflektiert die Überblendung von Dante, der mythologischen Parze als Geburtshelferin und Diana, der in der Binnenerzählung aufgrund des Handlungsverlaufs die Mutterschaft voraussichtlich versagt bleibt, die Metaphorik institutioneller Mutterschaft. Diese Metaphorik lässt sich auf den Literaturbetrieb übertragen, der, wie viele mütterlichen Körperschaften, vor allem Söhne, Dichtersöhne, zeugt (vgl. Hörisch 1996: 144). Da die Binnenhandlung jedoch relativ verschachtelt und in diesem Kontext nicht von Belang ist, sei hier nur eine für unser Thema aufschlussreiche Nebengeschichte der Binnenerzählung erwähnt.

In diesem erzählerischen Exkurs äußert sich Kaiser Friedrich II. gegenüber seinem Kanzler Petrus de Vinea und seinem Schwager Ezzelino da Romano ketzerisch über das Christentum. Dies wird dem Papst hinterbracht; unklar bleibt, ob Ezzelin oder der Kanzler den Verrat begangen haben. Dante erzählt, dass Ezzelin daraufhin eine Bulle des Papstes erhält, in dem nach dem Wahrheitsgehalt der ketzerischen Äußerung gefragt und Friedrich II. verdammt wird. Dante leitet den päpstlichen Brief mit den Worten ein: "Zuerst gab der dreigekrönte Schriftsteller dem geistreichen Kaiser den Namen eines apokalyptischen Ungeheuers" (SW XII: 41).

Diese Formulierung ist aus zwei Gründen interessant: Erstens stellt Dante durch das Epitheton "dreigekrönt" für den Leser eine Analogie zwischen dem Papst und sich selbst her, denn wie der Papst durch seine Tiara dreigekrönt ist, hat auch Dante Anteil an einer gekrönten Dreiheit, indem er zusammen mit Giovanni Boccaccio und Francesco Petrarca die berühmten tre corone fiorentine, die drei florentinischen Kronen der Dichter Italiens, repräsentiert.




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Dabei ist diese Analogie ein Hinweis für die Leser von Meyers Novelle und nicht Teil von Dantes Wissen: Denn die Rahmenhandlung, deren Zeitpunkt durch den Aufenthalt am Hof Cangrandes wohl irgendwann zwischen 1312–1318 beschränkt werden kann (vgl. Leeker 2014), liegt noch vor dem literarischen Ruhm der beiden anderen Autoren – Petrarca erblickt 1304 das Licht der Welt, Boccaccio erst 1313. Jedoch lässt sich dieser Stelle auch entnehmen, dass sich Dante bewusst mit dem Papst vergleicht, und das ist der zweite Grund, warum der päpstliche Brief von Interesse ist:

Meyer lässt nämlich Dante für die Wiedergabe dieses Schreibens, in dem Friedrich II. verurteilt wird, einen Duktus wählen, der an die Divina Commedia denken lässt, über die sich Dante und Cangrande kurz zuvor unterhalten haben. Über seine Divina Commedia sagt Dante zu Beginn der Erzählung:

'Wo [Friedrich] übrigens in meiner Fabel auftritt, ist er noch nicht das Ungeheuer, welches uns, wahr oder falsch, die Chronik schildert, sondern seine Grausamkeit beginnt sich nur erst zu zeichnen, mit einem Zug um den Mund sozusagen –' 'Eine gebietende Gestalt', vollendete Cangrande feurig das Bildnis, 'mit gesträubtem schwarzen Stirnhaar, wie du ihn in deinem zwölften Gesange als einen Bewohner der Hölle malst' (SW XII: 12).

Dante legt also dem Papst seine eigene Formulierung in den Mund und erhebt damit seine Erzählung aus dem Schatten des bloßen delectare, also der bloßen Unterhaltung, auf die Höhe des päpstlichen Banns. Wird Dante zu Beginn der Novelle noch mit dem Hofnarren verglichen, so wählt er selbst für sich den Papst als Vergleichsgröße. Dabei geht es Dante nicht um den ernsthaften Glauben an eine kirchliche Autorität (vgl. auch Merian-Genast 1973: 70f.), da er den Einfluss der Kirche in seiner Geschichte um die Entkuttung des Mönchs der Lächerlichkeit preisgibt, sondern um reines Machtkalkül. Die Macht über sein Publikum übt Dante mit den einem Schriftsteller zur Verfügung stehenden Mitteln aus: "'Auch die übrigen Gestalten der Erzählung', fuhr er mit lächelnder Drohung fort, 'werde ich, ihr gestattet es? […] aus eurer Mitte nehmen und ihnen eure Namen geben: euer Inneres lasse ich unangetastet, denn ich kann darin nicht lesen'" (SW XII: 12). Die Institution Kirche ist zudem ein Garant für eine problemlose Vereinigung von sozialem, kulturellem und symbolischem Kapital mit ökonomischem Kapital, worauf ich später zurückkomme.

Es versteht sich, dass Dante das Innere seiner Zuhörer nicht unangetastet lässt, sondern in literarischer Überformung deren Schwächen und Eitelkeiten offenlegt, wobei die Anwesenden durch ihre Kommentare verraten, wie sehr er mit seinen Charakterisierungen ins Schwarze getroffen hat. Vor allem macht er die Rivalität zwischen den beiden Frauen Cangrandes sichtbar, an deren wachsender Erregung er sich mit geradezu boshafter Freude labt: "Dante für sein Teil (sic!) lächelte zum ersten und einzigen Mal an diesem Abende, da er die beiden Frauen so heftig auf der Schaukel seines Märchens sich wiegen sah" (SW XII: 64).




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4 Dantes Dilemma

Dass Dantes Selbstvergleich mit dem Papst als urteilender Instanz nur bedingt stimmt, wird im anschließenden Gespräch zwischen Cangrande und dem Schriftsteller deutlich, als nämlich Cangrande Dante fragt, was er denn über Friedrich II. selbst denkt:

'Traust du dem unsterblichen Kaiser jenes Wort von den drei großen Gauklern zu? […] Ich meine: in deinem innersten Gefühle?' Dante verneinte mit einer deutlichen Bewegung des Hauptes. 'Und doch hast du ihn als einen Gottlosen in den sechsten Kreis deiner Hölle verdammt. Wie durftest du das? Rechtfertige dich!' 'Herrlichkeit', antwortete der Florentiner, 'die Komödie spricht zu meinem Zeitalter. Dieses aber liest die fürchterlichste der Lästerungen mit Recht oder Unrecht auf jener erhabenen Stirne. Ich vermag nichts gegen die fromme Meinung' (SW XII: 43f.).

Dante ist in seinen Urteilen gerade nicht frei wie der Papst, sondern erweist sich mit dieser Begründung als abhängig von der öffentlichen Meinung. Er beugt sich dem Geschmack und dem Urteil seiner Leser, auch wenn diese nicht mit den Vorstellungen von Adligen wie Cangrande della Scala übereinstimmen.

Eine Erklärung für dieses Verhalten lässt sich aus Dantes florentinischer Herkunft herauslesen: Florenz ist im 13. und 14. Jahrhundert eine Republik mit demokratischen Tendenzen, die phasenweise durch die reichen Kaufleute der Stadt regiert wird, jedoch immer unter Herrschaftsansprüchen von Kaiser und Papst leidet. Dante wird bekanntlich aus Florenz verbannt und ist in Verona von der Gunst Cangrandes abhängig, er befindet sich also als Schriftsteller immer an der Schwelle von fürstlicher zu bürgerlicher Abhängigkeit.5

5 Meyers Dilemma?

Damit gerät der Dante, den Meyer schildert, in die Situation des Schriftstellers gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Denn erst zu diesem Zeitpunkt sind deutschsprachige Autoren nicht mehr nur von der Gunst des Fürsten abhängig und schreiben nicht mehr für eine adlige Hofgesellschaft, sondern "die Rolle des Wohltäters und Gönners übernahm in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein ungreifbares Wesen […]: das Publikum" (Bosse 1981: 78).

Somit wird Dante zum Alter Ego Meyers. Denn die Erfahrung, dass das Publikum unter Umständen schwieriger zufriedenzustellen ist als ein adliger Souverän, musste auch Meyer machen. Beispielsweise hatte sein Verleger Haessel generell "für die




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knappe Prägnanz des Meyerschen Stils im Grunde kein Verständnis" (SW XII: 249), ein Kritikpunkt speziell in Bezug auf Die Hochzeit des Mönchs betraf die Dantefigur, die schon während der Entstehung der Novelle in den Jahren 1883 und 1884 geäußert wurde: Die Freundin und Schriftstellerin Louise von François etwa fand in Briefen vom 19. November 1883 und 9. Januar 1884 u.a. Dante ungeeignet zum Fabulisten und bezeichnete den Mönch der Binnenerzählung als "klägliche[n] arme[n] Teufel" (SW XII: 250). Meyer zeigte sich in einem Antwortbrief vom 22. November 1883 von dieser Kritik betroffen und verunsichert, fragte, ob er sich mit dem Plot vergriffen habe und sprach bereits vom "schlechten Omen" für den Erfolg seiner Novelle (SW XII: 250).

Der Dante-Kenner Felix Liebeskind monierte, dass Meyers Dante zu wenig mit der historischen Persönlichkeit übereinstimme (vgl. SW XII: 250 f.). Auch Paul Heyse stimmte in einem Brief vom 10. November 1884 in diese Kritik ein:

Nun haben Sie es gar gewagt, den größten Epiker zum Erzähler zu wählen, […] und lassen ihn neben archaistischen Wendungen sich der modernsten Palettenkünste bedienen, während wir in der Vita nuova ein Exempel haben, wie er und seine Zeitgenossen sich betrugen, wenn sie mit der deutlich ausgesprochenen Absicht zu erzählen an eine Geschichte gingen (SW XII: 251).

Die Reaktionen der Kritiker veranschaulichen gut die unterschiedlichen Vorstellungen dessen, was Realismus ist und leisten kann: Während Louise von François und die anderen Kritiker von einem idealistischen Realismusbegriff, oder, wie Volker Dörr treffend formuliert, von einem "realistischen Idealismus" ausgehen (Dörr 2001: 32)6 (beziehungsweise auch von einem poetischen, insofern die "Wahrheiten" über Dante aus seinen Schriften gezogen werden und "dem Poeten eine privilegierte Form der Weltwahrnehmung attestiert [wird]". ebd.: 4), vertritt Meyer in einem Brief an Otto Benndorf vom 6. Dezember 1884 eine eher anthropologische Auffassung des Realismus, der aus der Wahrscheinlichkeit resultiert: "Übrigens (sic!) warum sollte Dante nicht gelegentlich, wie wir Anderen, ein Geschichtchen erzählt haben?" (SW XII: 252).

Allerdings hatten sich die Publikationsbedingungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegenüber denen des 18. Jahrhunderts schon wieder verändert:

Das Buchwesen vom Vormärz bis zur Gründerzeit erscheint von zwei fundamentalen Problemen geprägt: die Auswertung technischer Innovationen, die jetzt erst ermöglichten, Buch und Presse zum – vorerst einzigen – Massenkommunikationsmedium werden zu lassen, und den sehr heterogenen und differenzierten Versuchen, die breitgefächerten Lesebedürfnisse eines anonymen, sich stetig ausdehnenden Publikums zu befriedigen (Wittmann 1982: 111).




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Die Zeit der großen, mehrbändigen Romane, die über Leihbibliotheken und Bücherkolporteure vertrieben wurden, war so gut wie vorbei (Schrader 2001: 7). Gewinnbringende und bekanntheitsfördernde Veröffentlichungen erzielten Schriftsteller wie Keller, Storm und Raabe nur noch über Journale. Die Aufnahme in eine geschmackprägende Zeitschrift war für den Vertrieb der Bücher und die Bekanntheit der Autoren von enormer Relevanz (Schrader 2001: 4). Die Texte wurden als Fortsetzungen angeboten und mussten dem Geschmack der Massen Rechnung tragen (zur Situation des Buchmarkts im 19. Jahrhundert vgl. auch Wittmann 1982: 111 129; zur sozialen Ausdifferenzierung der Leserschaft Schneider 2004: 186 ff.; 207f., zur Veränderung des Verständnisses von Autorschaft infolge ihrer Professionalisierung vgl. Parr 2008: 22–37). In der Deutschen Rundschau, der renommiertesten deutschen Kunstzeitschrift, die sich nicht als Zeitschrift für jedermann verstand und deren Zugeständnisse an den Massengeschmack relativ waren, erschien in zwei Teilen, im Dezember 1883 und im Januar 1884, auch die Hochzeit des Mönchs.

Aufgrund der Präsentation als Fortsetzungsgeschichte über einen langen Zeitraum kamen experimentelle Erzähltechniken und Verwicklungen nicht mehr in Frage (Schrader 2001: 7). Eine Geschichte in Fortsetzungen, der man noch nach Monatsfrist folgen konnte, musste linear und ohne Verwicklungen oder verwirrende Personenvielfalt erzählt werden (ebd.: 7).

Diese Entwicklungen gingen auch an finanziell unabhängigen Schriftstellern nicht spurlos vorüber, wie Schrader betont:

[…] auch ein so Begüterter und aller Massen-Zivilisation Abholder wie Conrad Ferdinand Meyer mußte um seiner rangzuweisenden Bekanntheit willen die bis 1877 (also noch für "Jürg Jenatsch", "Das Amulett" und "Der Schuß von der Kanzel") gewahrte Abstinenz gegen die dem Kunstgenuß schädlichen Journalstückelungen aufgeben und wurde zum Hausautor der "Deutschen Rundschau" (Schrader 2001: 5).

Was das im Einzelnen bedeutete, lässt sich exemplarisch durch die Erfahrungen veranschaulichen, die Storm mit dem einst revolutionären Gartenlaube-Redakteur Ernst Keil machen musste, der sich weigerte, ein höheres Honorar zu zahlen: Denn die von Storm angeführten Argumente, dass er eine bestimmte Menge an Zeit und Arbeit investiert hatte, um eine "über den Wochenblattkontext herausragende Qualität" zu erzielen, galten Keil offenbar weniger "als das verfehlte, doch so viel leichter erreichbare Serienziel, 'eine spannende Geschichte zu erzählen'" (Schrader 2001: 11, zur abweichenden Praxis bei der Deutschen Rundschau vgl. Scherer 2011: 241).




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Storm konstatierte daraufhin in einem Brief an Ernst Keil vom 14.12.1861 resigniert: "Ich habe die Lehre empfangen, daß der industriellen Welt gegenüber man nicht zu sehr auf den künstlerischen Wert eines Werkes pochen darf" (zit. nach Schrader 2001: 11).

Diese schwierigen zeitgenössischen Publikationsbedingungen verarbeitet Meyer in der Hochzeit des Mönchs in vielfacher Hinsicht: Erstens erklärt sich dadurch die Konkurrenz von Dante und Gocciola, die das Verhältnis von Kunst und Kommerz im 19. Jahrhundert spiegelt (der Kommerz-Gedanke war in den Zeitschriften des 19. Jahrhunderts unterschiedlich stark, bei der Gartenlaube stand er natürlich stärker im Vordergrund als bei der Deutschen Rundschau).

Zweitens wird die Verabsolutierung des Publikumsgeschmacks von Meyer kritisiert, die Meyer als Spannung zwischen Dante und seinen Zuhörern reflektiert. So lässt Dante sich vom Äußeren und den Charakteren seines Zuhörerkreises inspirieren, um damit seine Fabel auszuschmücken, was nicht immer schmeichelhaft für die Betroffenen ausfällt. Cangrande verurteilt diese Schärfe in Dantes Bild von Florenz und den Florentinern:

'Mein Dante', hub er an, 'ich wundere mich, mit wie harten und ätzend scharfen Zügen du deinen Florentiner umrissen hast! […] Lasse dir sagen, es ist unedel, seine Wiege zu schmähen, seine Mutter zu beschämen! Es kleidet nicht gut! Glaube mir, es macht einen schlechten Eindruck! […] Mein Dante, ich will dir erzählen von einem Puppenspiele, dem ich jüngst, verkappt unter dem Volke mich umtreibend in unserer Arena zuschaute. […] Mann und Weib zanken sich. Sie wird geprügelt und weint. Ein Nachbar streckt den Kopf durch die Türspalte, predigt, straft, mischt sich ein. Doch siehe! das tapfere Weib erhebt sich gegen den Eindringling und nimmt Partei für ihren Mann. 'Wenn es mir beliebt, geprügelt zu werden', heult sie. Ähnlicherweise, mein Dante, spricht ein Hochherziger, welchen seine Vaterstadt mißhandelt: 'Ich will geschlagen sein!' (SW XII: 56f.).

Dante lässt sich nicht anmerken, wie sehr ihn diese Worte verletzen, lediglich seine Miene verrät es: "Als er [sein Haupt] wieder erhob, war seine Stirn vergrämter, sein Mund bitterer und seine Nase länger" (SW XII: 57). Cangrande ist feinfühlig genug, um zu bemerken, dass er eine Grenze überschritten hat, und bietet dem Dichter sogar seinen Platz am Feuer an:

Alle wurden es inne und Cangrande, der von großer Gesinnung war, zuerst: Hier sitzt ein Heimatloser! Der Fürst erhob sich, den Narren wie eine Feder von sich schüttelnd, trat auf den Verbannten zu, nahm ihn an der Hand und führte ihn an seinen eigenen Platz, nahe dem Feuer. 'Er gebührt dir', sagte er und Dante widersprach nicht (SW XII: 57).




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Diese Szene ist allerdings weniger als eine Allegorie der Allmacht des Erzählers zu werten, wie Jahraus (2003: 234) meint, sondern eher eine Geste des Mitleids.7

Die Einwürfe und Nachfragen seiner Zuhörer nimmt Dante meist mit Unwillen zur Kenntnis: So widerspricht er oft, wenn jemand versucht, einen Vorschlag über den Fortgang der Handlung zu machen, oder verzieht verächtlich die Miene, wenn ein anderer versucht, einen Exkurs einzuschieben. Letztlich zeigt Dantes Abhängigkeit von Cangrande jedoch, dass der Autor sich nicht ohne Weiteres über die Wünsche seiner Zuhörer hinwegsetzen kann.

Drittens wird mit der Kritik an der Erzählerin Isotta in der Rahmenhandlung der Blick auf die seit 1860 wichtiger werdende Gruppe der Schriftstellerinnen gelenkt, die ihren Platz in der Autorenlandschaft des 19. Jahrhunderts zu beanspruchen beginnt und dabei gerade auch in den Gattungen 'Novelle' und 'Erzählung' reüssiert (dieser Platzanspruch wird durch die Wertung "Geschwätz" als "wortreicher Rede" sinnfällig ausgedrückt, damit wird gleichzeitig der für weibliches Schreiben weit verbreitete Vorwurf des Dilettantismus reproduziert, vgl. Parr 2008: 75–80).

Viertens reflektiert Meyer das Schreiben in Fortsetzungen und unter Termindruck für die Zeitschriften. Die Gattung Novelle ist dabei als Reflexionsmedium besonders geeignet, teilt sie doch mit den aufkommenden Massenmedien die Notwendigkeit narrativer Umorientierungen, wie die Übersetzung "neue Zeitung" für "Nouvelle" sowie ihre vorherrschende Publikationsform in Magazinen und Zeitungen im 19. Jahrhundert andeuten (vgl. Theisen 2000: 225, zu den Familienzeitschriften ab 1850 vgl. Scherer 2011: 230ff.).

Fortsetzungsgeschichten und Termindruck führen beispielsweise dazu, dass der Autor im Korrekturprozess den Überblick über seine Erzählung verlieren konnte, da bestimmte Manuskriptteile schon an den Verlag abgeschickt waren und der Autor auf diese Weise jeglicher Gesamtübersicht verlustig ging (vgl. Schrader 2001: 25). Meyer thematisiert diese Schwierigkeit, als Dante nach einer Unterbrechung des Erzählflusses einen Fehler begeht: "Befriedigt, fast heiter setzte Dante seine Erzählung fort. [']Endlich entdeckten die beiden den entmönchten Mönch, welcher, wie gesagt, den Rücken an den Stamm einer Pinie lehnte['] – 'An den Stamm einer Zeder, Dante', verbesserte die aufmerksam gewordene Fürstin" (SW XII: 35).

Aufgrund der mündlichen Erzählsituation kann ein derartiger Irrtum schnell korrigiert werden, was z.B. bei einer Zeitschriftenpublikation nicht der Fall ist.8 Auch kurz zuvor werden Mündlichkeit und Schriftlichkeit thematisiert, als Dante gegen Cangrande stichelt und seinen Erzählstrang über die Hofnarren Ezzelins plötzlich mit den Worten unterbricht:




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'Ich streiche die Narren Ezzelins' unterbrach sich Dante mit einer griffelhaltenden Gebärde, als schriebe er seine Fabel, statt sie zu sprechen, wie er tat. 'Der Zug ist unwahr, oder dann log Ascanio. Es ist durchaus undenkbar, daß ein so ernster und ursprünglich edler Geist wie Ezzelin Narren gefüttert und sich an ihrem Blödsinn ergötzt habe.' Diesen geraden Stich führte der Florentiner gegen seinen Gastfreund, auf dessen Mantel Gocciola saß, den Dichter angrinsend (SW XII: 35).

Dieser Schreibgestus im mündlichen Erzählen verdient einige Aufmerksamkeit, denn er ist eine weitere Technik, um auf den Erzählvorgang und die Konstruiertheit der Erzählung aufmerksam zu machen. Zudem verrät er etwas über die Stellung des Erzählers. Um diese Szene besser analysieren zu können, ziehe ich ein Modell zur Mündlichkeit und Schriftlichkeit von Peter Koch und Wulf Oesterreicher (Koch/Oesterreicher 2011) heran, die einerseits eine materielle Realisierung sprachlicher Äußerungen annehmen, die sich dichotomisch entweder in Form von Lauten oder von Schriftzeichen manifestiert. Dieser mediale Aspekt wird andererseits ergänzt durch den konzeptionellen Aspekt von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die die beiden Autoren auch als Nähe- und Distanzsprache bezeichnen.

Die Kommunikationsbedingungen der Nähe sind demnach durch Dialogizität, Vertrautheit der Partner, Face-to-Face-Interaktion, freie Themenentwicklung, Privatheit, Spontaneität, Situations- und Handlungseinbindung und starke emotionale Bindung gekennzeichnet. Die Kommunikationsbedingungen der Distanz sind dagegen: Monologizität, Fremdheit der Kommunikationspartner, raumzeitliche Trennung, Themenfixierung, Öffentlichkeit, Reflektiertheit, Situations- und Handlungsentbindung, geringe emotionale Beteiligung und Fehlen kommunikativer Kooperation (Koch/Oesterreicher 2011: 13).

Dabei ist eine gegenläufige Kombination von medialer Mündlichkeit und Schriftlichkeit mit Nähe- und Distanzsprache möglich. Zwar besitzt die graphische Schrift zunächst einmal eine Affinität zur Distanzsprache (etwa in einer juristischen Gesetzessammlung), sie kann aber auch mit nähesprachlichen Elementen verknüpft werden, man denke nur an einen Privatbrief. Das Gleiche gilt für mediale Mündlichkeit und Distanzsprache: So ist ein Vorstellungsgespräch medial mündlich bzw. phonisch, jedoch durch relative Distanz gekennzeichnet.

Bei Meyer lässt sich nun einerseits beobachten, dass mit der fingierten Mündlichkeit zunächst einmal eine nähesprachliche Situation aufgerufen wird. Für Nähesprache




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spricht, dass Dante die Situation der Hofgesellschaft in seine Erzählung einbindet und dass sowohl Erzähler als auch Zuhörer emotional beteiligt sind. Diese mündliche Erzählsituation ist jedoch gleichzeitig mit Distanzparametern durchsetzt. So kann man in der Erzählrunde um Cangrandes Kamin gerade nicht von einer Vertrautheit zwischen Erzähler und Publikum sprechen, denn Dante kommt als Exilierter von außerhalb und kennt seine Zuhörer kaum, sodass er nur vermuten kann, wie z.B. das Verhältnis der beiden Frauen Cangrandes aussieht.9 Zudem wird seine Fremdartigkeit durch die Beschreibung seines Äußeren hervorgehoben: „Jetzt trat in diesen sinnlichen und mutwilligen Kreis ein gravitätischer Mann, dessen große Züge und lange Gewänder aus einer anderen Welt zu sein schienen“ (SW XII: 7). Als Dante über Ezzelins Narren spricht, betont er den gestischen Schreibakt.10 An den Stellen, an denen Dante extrem emotional eingebunden ist, weil er seine Ehre als Künstler gegen die reine Unterhaltung der Hofnarren verteidigt, wählt er ein distanzschaffendes Element. Dies kann man auch an anderen Stellen ersehen, in denen es um Interventionen aus dem Publikum geht: Dante vermeidet, wo er nur kann, Kommunikationsangebote. Er greift beispielsweise erzählerische Vorschläge seiner Zuhörer kaum auf und reagiert gereizt auf Unterbrechungen, selbst wenn sie von Cangrande stammen, dem er auf eine höfliche Intervention ein mürrisches „Du bist der Herr“ (SW XII: 43) entgegenschleudert. Dieses Changieren erklärt sich ein Stück weit damit, dass die Novelle als Gattung zwischen (fingiertem) Diskurs (als situationsgebundene und wechselseitig kommunikative Form) und Text (als situationsentbundene und einseitig kommunikative Form) angesiedelt ist (zur Unterscheidung von Diskurs und Text vgl. Dürscheid 2003: 5). Damit wird die Gattung Novelle zu einer Plattform, die es ermöglicht, in der Interaktion von Dante und seinem Publikum die Zusammenarbeit von Literatur und Literaturbetrieb im literarischen Produktionsprozess zu spiegeln. Sie präsentiert sich als "strukturelles Ereignis im literarischen Feld", anstatt die Entstehung von Literatur "auf den Autor allein" zurückzuprojizieren (Porombka 2006: 75). Dabei ist "Zusammenarbeit" von Literatur und Betrieb nicht harmonisierend gemeint, sondern zeigt Widerstände als wichtige Etappen der Werkgenese.

6 Fazit

Dante wünscht sich offensichtlich vollkommene Souveränität und Bewunderung aus der Ferne von seinem Publikum. Die Bedingungen, unter denen er gezwungen ist, zu erzählen, sind jedoch andere. Während Dante in seiner Selbstsicht den Papst als Vergleichsobjekt wählt und damit Allmachtsphantasien einer fürstlichen Souveränität des Künstlers aufsitzt, stellt ihn die Fremdsicht auf eine Stufe mit dem sozial verachteten Narren Gocciola.




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Meyer wählt mit Dante einen Autor, dessen ästhetische und künstlerische Begabung unbestritten sind. Die künstlerische Qualität Dantes steht nicht zur Debatte, nur die Umstände zwingen den großen Künstler, Kompromisse einzugehen. Dies zeigt schon die Eingangssituation: Dante ist gezwungen, die Hofgesellschaft aufzusuchen, da seine Turmkammer nicht geheizt wurde. Um einen Platz am Feuer zu bekommen, muss er sich auf die Bedingung seines Gastgebers einlassen, eine Geschichte zu erzählen. Er ist eben nicht der unumstrittene Souverän, sondern muss seine erzählerische Souveränität gegenüber seinen Zuhörern verkaufen.

In der Hofsituation Veronas findet Meyer einen plausiblen Spiegel für seine Zeit: Meyer setzt hier eine Untersuchung des "literarischen Feldes" in Szene, "die Struktur des sozialen Raums, [...]  in dem der Autor des Werks selbst situiert war" (Bourdieu 1999: 19), um die Kämpfe um das ökonomische, soziale, kulturelle und symbolische Kapital zu veranschaulichen.

Die Kunst des Hofnarren, der Dantes Konkurrent wird, steht stellvertretend für die Unterhaltungsindustrie des 19. Jahrhunderts. Die "anti-'ökonomische' Ökonomie der reinen Kunst, die [...] auf der obligaten Anerkennung der Werte der Uneigennützigkeit und Interesselosigkeit sowie der Verleugnung der 'Ökonomie' des ('Kommerziellen') und des (kurzfristigen) 'ökonomischen' Profits" basieren, (Bourdieu 1999: 228), funktioniert bei Meyer nicht mehr. Mit Dante wählt Meyer eine Figur, die zwar über kulturelles Kapital (Bildung) verfügt, als Exilierter jedoch nur bedingt über soziales Kapital (Zugehörigkeit zu einem Netzwerk bzw. einer elitären Gruppe). Darin ist er Meyer vergleichbar, der innerhalb der Literaturlandschaft seiner Zeit isoliert war (vgl. Jäger 1998b 7f.). Da das "kulturelle Kapital" Dantes allein jedoch nicht ausreicht, um auch symbolisches Kapital (soziale Anerkennung) zu generieren, ist er gezwungen, seine Strategie zu ändern. Mit der Wahl des Papstes als Vergleichsgröße wird für Dante ein eleganter Übergang von der "primär religiösen zur monetären Weltordnung" durch die überdeutlichen "Anschlussmöglichkeiten von Münzen an Oblaten" möglich (vgl. Hörisch 1996: 32f.), sodass er, statt wie gewohnt geistliche Thematik anzubieten, ohne Gesichtsverlust im Stile Boccaccios erzählen kann. Dante wird somit zur Symbolfigur der Anpassung an neue Verhältnisse innerhalb des literarischen Feldes,11 der sich in Abhängigkeit von der Politik befindet und sich mit literarischen Konkurrenten, bestimmten Medientechnologien, ökonomischen Veränderungen sowie dem Publikumsgeschmack auseinandersetzen muss.

Dantes Dilemma ist auch Meyers Dilemma: Meyer ist zwar finanziell unabhängig. Will er jedoch verbreitet und wahrgenommen werden, muss er den Bedingungen des




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Marktes Rechnung tragen. Im 19. Jahrhundert gilt für das Publizieren in Journalen, dass zunehmend nähesprachliche Elemente ins Schreiben eindringen: So sind die Autoren gezwungen, stärker auf die Bedürfnisse ihrer Leser einzugehen. Sie müssen diese also emotional einbinden und mit ihnen kooperieren. Zudem werden aufgrund des Termindrucks und der Veröffentlichung in Fortsetzungen die distanzsprachlichen Parameter der Planung und der Reflexion zugunsten einer relativen Spontaneität zurückgedrängt. Die Frustration über die moderne Situation des Künstlers zwischen künstlerischem Anspruch auf der einen Seite und Publikationsbedingungen und Lesererwartung auf der anderen Seite sind in die Novelle, wie gezeigt, eingeflossen. Auch wenn Meyer sich offenbar nur widerstrebend auf die neuen Publikationsbedingungen einlässt – das Zusammenspiel von Literatur und Markt führt nicht zu einer Qualitätsminderung, sondern zu einer "Doppelorientierung" von Medienkonformität und Ästhetik (Graevenitz 1993: 302), zu einem artifiziellen Spiel mit den neuen Bedingungen.


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Anmerkungen

1 Ähnlich fällt auch das Urteil Werner Stauffachers aus, Meyers Dante sei "das Traumbild eines souverän erfindenden Urzählers in archaisch überhöhter erzählerischer Ursituation" (Stauffacher 1975: 51). Auch Kittler spricht von Dantes Souveränität, die "keinem Geheiß" folge und die auch Meyer selbst beanspruche (Kittler 1977: 256).

2 Merian-Genast beschreibt auch ausführlich die ehrerbietende bzw. verächtliche Behandlung Dantes durch die anderen Figuren (vgl. ebd.: 64 ff.).

3 Insofern stimmt eine Beobachtung von Wolfgang Lukas nicht, dass die beiden jeweiligen Protagonisten Dante und Astorre ohne Entsprechung in der Struktur der Verdopplung sind (vgl. Lukas 2000: 65). Korten (2009: 166) sieht dagegen Dante nach dessen eigenen Maßstäben in Astorre gespiegelt.




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4 Natürlich kann man hier auch eine groteske Verzerrung von Giottos Dante-Profil herauslesen (vgl. Evans 1980: 114).

5 Wenngleich Cangrandes Herrschaft nur indirekt zum Ausdruck kommt und er sich eher als "der Erste unter Gleichen" bewegt, ist seine "vornehm zurückhaltende Art […] schöner Schein […], hinter dem sich sein Despotismus verbirgt" (Merian-Genast 1973: 61f.).

6 Zum Realismusverständnis als Konstrukt in Bezug auf die Transformation des historischen Stoffs vgl. Lukas 2007: 154.

7 Merian-Genast beschreibt die Stelle treffend mit "es ist das höfische Taktgefühl, das Cangrande gebietet, einen geistig hochstehenden, aber in der Welt hilflosen Menschen zu ehren und zu beschützen" (Merian-Genast 1973: 67).

8 Ong 1982: 103 weist daraufhin, dass Boccaccios Decamerone dem Leser fiktionale Gruppen von Erzählern anbietet und ihm somit die Illusion ermöglicht, einer der Zuhörer zu sein. Indem Meyer Dante im Stile Boccaccios erzählen lässt, wird nicht nur die mediale Umbruchsituation des 19. Jahrhunderts, sondern ebenfalls die des 14. Jahrhunderts in Italien inszeniert, die durch einen Verschriftlichungsschub hervorgerufen wurde.

9 Dass die mit 'Nähe' und 'Distanz' assoziierten Kommunikationsbedingungen in bestimmten Text- und Diskursarten nicht immer gegeben sind, veranlasst Dürscheid (2003: 15) zu einer Kritik an den Termini "Nähe" und "Distanz" für die Eckpunkte des Kontinuums bei Koch und Oesterreicher (Koch/Oesterreicher 1985). Damit übersieht sie jedoch die metonymische Qualität dieser Bezeichnungen, die eben auch so etwas wie fingierte Nähe denkbar macht.

10 Friedrich Kittler bezieht diese Stelle überzeugend auf den in der Rezeption unsichtbaren Schreibakt des Autors: "Daß die orale Korrektur eine litterale heißt, bezeichnet aufs genaueste die Spaltung zwischen Erzähler des Erzählten und Erzähler des Erzählers und damit die Textkonstitution selber. Denn beim Schreiben ist die Correctio keine rhetorische Figur, die öffentlich geäußert werden muß, um Geäußertes nachträglich zu tilgen, sondern das verborgene, vor der Veröffentlichung liegende Geschäft, das der Leserschaft schlechthin entzieht, was der letzten Fassung vorausgegangen ist. Für dieses Entzogene steht im Text einzig die Feder ein: Metapher der Macht und Metonymie des Begehrens, die die Literatur sind" (Kittler 1977: 272).

11 Insofern ruft Dantes Überblendung mit der Parze und Diana die Metaphorik der institutionellen Mutterschaft auf, die letztlich auch Söhne wie Conrad Ferdinand Meyer hervorbringt.