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Timothy Attanucci (Mainz)



Urs Büttner (2015): Poiesis des 'Sozialen'. Achim von Arnims frühe Poetik bis zur Heidelberger Romantik (1800–1808). (Studien zur deutschen Literatur 208). Berlin / Boston: De Gruyter.


Den Titel von Urs Büttners Dissertationsschrift Poiesis des 'Sozialen'. Achim von Arnims frühe Poetik bis zur Heidelberger Romantik (1800–1808) wird man so interpretieren dürfen: Es geht in diesem Buch hauptsächlich um die Erzeugung von Sozialität und deren Regularitäten – und Achim von Arnims 'frühe Poetik' ist ein besonders prägnantes Beispiel dieser komplizierten Konstruktion. Natürlich ist sie nicht das einzige. Ein aktuelleres Beispiel aus der europäischen Zeitgeschichte – die so genannte Singende Revolution (Laulev revolutsioon, S. 1), die 1988 zur Unabhängigkeit Estlands führte – leitet die Studie ein; weitere Beispiele führt Büttner in einem knappen historischen Abriss unter dem Titel "Von der Romantik bis zur Gegenwart" (29–36) an. Dort finden sich etwa Hölderlins 'vaterländische' Hymnen, sein Empedokles-Drama und seine Sophokles-Übersetzungen, die Musik Liszts und Wagners, Georg Fuchs’ Münchner Künstlertheater (1910/11), Gruppen wie der Dürerbund oder der George-Kreis, die von Heinrich Vogeler gegründete Kommune und Arbeitsschule Barkenhoff (1919–1923), Guy Debords Situationismus oder Joseph Beuys Free International University (1973). Aus der Heterogenität der angeführten Beispiele wird bereits ersichtlich, wie breit, vielleicht auch wie ausufernd das Konzept einer Poesis des 'Sozialen' aufgestellt ist.




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Dass die theoretische Erörterung des Konzepts zunächst in systematischer (Kapitel 1 und 2) und dann in diskurshistorischer (Kapitel 3) Perspektive fast die Hälfte des Buches einnimmt, erklärt sich aus diesem Umstand. Breit definiert wird dabei auch der durch einfache Anführungszeichen markierte Begriff des 'Sozialen'. An dem aus "postfundamentalischer" (63) Sicht angeblich gerade wegen seiner hohen Unbestimmtheit geschätzten Abstraktum hebt Büttner als entscheidenden Vorteil hervor, dass seine Bestimmung dem jeweiligen "Gegenstand der Darstellung […] überlassen" werden kann oder muss (64). Das 'Soziale' wird insofern in seiner etymologisch-ursprünglichen Vagheit belassen und als das 'Folgende' (lat.: sequi) – "sprich eine Bewegung, die eine Verbindung zwischen Akteuren einschließt" (62) – bestimmt. Politik, Wirtschaft und Religion dürfen dann allesamt als Formen des 'Sozialen' gelten, keine hat jedoch einen Vorrang, auch nicht die Kunst, die auf ihre Weise 'sozial' verbindet. Mit Blick auf die Kunst bzw. die Literatur wird zudem in der Definition der Poiesis des 'Sozialen' auf die Doppeldeutigkeit der Genitivkonstruktion hingewiesen (89): Sie besteht einerseits in einer Poetik des 'Sozialen', die Gesellschaftliches darstellt, und andererseits im 'Sozialen' der Poetik, zu verstehen als soziale Pragmatik eines poetischen Projekts. Deshalb nennt Büttner – im Anschluss an Andreas Reckwitz (Reckwitz 2008: 129f.) – seine Methodik eine "praxeologische Diskursanalyse" (66).

Der hohe Anspruch dieses theoretischen Programms wird an den Bausteinen erkennbar, aus denen es sich zusammensetzt: Da sind zum einen die Foucault’sche Diskursanalyse und die Luhmann’sche Systemtheorie, zum anderen sind da vergleichsweise neuere Ansätze wie Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie und Charles Taylors Konzept des 'social imaginary'. Die Verbindung Latour/Taylor überzeugt insbesondere mit Blick auf den neuen Ansatz einer praxeologischen Diskursanalyse. Doch wenn auch die Idee eines 'social imaginary' und die Möglichkeit einer kulturwissenschaftlichen Analyse dieses 'bildlichen' Diskurses sofort einleuchtet, so bleibt doch die Frage, wie sich ein solches Bildreservoir vermittelt und welche Verbindungen aus dieser Vermittlung entstehen. Der treue Anhänger Foucaults wird hier bemerken, dass der Begriff des Dispositivs – sowie seine pragmatischen Aspekte – geopfert wurde; er wird indirekt durch den Neologismus "Dispositionsraum" (87) ersetzt. Auch mag sich ein Systemtheoretiker fragen, ob Latours Akteur-Netzwerk-Theorie wirklich gebraucht wird, wenn immer wieder nur auf die "fünf Fragen des Sozialen" rekurriert wird.1 Zu den theoretischen Vorentscheidungen Büttners zählt aber weniger eine inhärente Kompatibilität zwischen den Theorien als vielmehr eine hypothetische Angemessenheit der Theorie an ihren Gegenstand, die aus dem Justemilieu zwischen Ähnlichkeit und Distanz entsteht. So dürfen Latours Konzept der 'Versammlung' (assemblage) oder Taylors 'social imaginary' ihrerseits als Poetiken des 'Sozialen' gelten. Dies führt dazu, dass die neueren Theorien den historischen Gegenstand weniger erklären als vielmehr übersetzen. Voraussetzung für eine erfolgreiche Übersetzung ist freilich, dass die Zielsprache dem Leser wesentlich vertrauter ist als die Ursprungssprache.




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Auf den systematisch-theoretischen Teil folgt im dritten Kapitel eine Erkundung historischer "Voraussetzungen der Genese einer Poetik des 'Sozialen' um 1800". Dabei geht es nach Büttner um die "funktionalistische Bestimmung eines Dispositionsraums" (203), eine Formulierung, die Luhmanns 'funktionale Differenzierung' mit Foucaults 'dispositif' zu verbinden versucht. Unter den Stichworten Natur, Mensch und Gesellschaft werden nun großformatige diskursive Veränderungen diskutiert. Dazu gehört das Ende der Naturgeschichte bzw. der 'großen Kette der Wesen' (Lovejoy) und das Aufkommen von Metaphern wie 'Organismus' und 'Gleichgewicht', das Entstehen einer philosophischen und literarischen 'Anthropologie', die das Subjekt als transzendental-empirisches Doppelwesen konzipiert, aber auch der Übergang von einem absoluten 'Staat' zur polizeilichen Verwaltung und Steuerung unabhängiger Teilsysteme wie Politik, Wirtschaft und Recht. Die entsprechenden Ausführungen kommen durchweg souverän und überzeugend daher. Sie sind nicht selten auch originell, z. B. im Unterkapitel zum "Erkenntnisprinzip 'Ahndung'", wo die These vertreten wird, dass der Diskurs um Ahndung/Schwärmerei/Enthusiasmus als Lösung für das Problem der als verschwunden empfundenen Ganzheit der Natur zu lesen ist. Bei diesen übergreifenden Darstellungen wird die Literatur mit ihren besonderen Leistungen – als Quelle von Metapher und Fiktion oder Ort empirischer Darstellung – nicht vergessen. Ein wenig zu kurz kommt jedoch Achim von Arnim, der in diesem Kapitel überhaupt zum ersten Mal auftritt, aber nur als einer unter vielen Autoren, die an den jeweiligen Diskursen beteiligt waren. Diese darstellungstechnische Gewichtung hat zwei sachliche Nachteile: Zum einen könnte der Leser den Eindruck gewinnen, dass Arnim lediglich in eine vorgefertigte Diskursgeschichte eingeordnet wird – was nicht der Fall ist; zum anderen können die einzelnen Erkenntnisse zu Arnims Werk nicht unmittelbar bzw. ohne Redundanz auf die jeweils relevante Diskursgeschichte bezogen werden.

Die entsprechenden, durchaus reichhaltigen Erkenntnisse werden nämlich erst in den folgenden Kapiteln gewonnen. Zuerst geht es dabei um Arnims ersten Roman, um Hollin’s Liebeleben (1800/1801). Büttner zeigt einleitend, wie der vielstimmige Briefroman das 'Soziale', verstanden als Intersubjektivität, nicht bloß abbildet, sondern auch performativ umsetzt. Dass eine Versammlung des 'Sozialen' im Subjektiven nicht möglich sei, beweise der tragische Ausgang von Hollins Liebesgeschichte. Kontrastiv weise aber das positiv zu verstehende Modell in der angehängten Biografie des Schweizer Geologen Horace-Bénédict de Saussure auf Auswege im Objektiven hin. Insbesondere aus der Analyse der Rollenspiele im Roman (Kap. 4.1.4) geht zudem hervor, welch hohes Reflexionsniveau schon der junge Arnim mit Blick auf soziale Handlungen und deren mediale Darstellung (Theater/Roman) erreicht hat.




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Das fünfte Kapitel orientiert sich an Arnims von 1801 bis 1804 unternommener Tour durch Europa, auf der er unter anderem seine künftige Frau Bettina Brentano kennenlernte, mit deren Bruder Clemens rheinaufwärts reiste und in Paris Friedrich Schlegel begegnete. Dem 'Bildungs'-Topos treu bleibend, interpretiert Büttner diese Lebensphase Arnims als einen Übergang sowohl in biographischer als auch in werkgeschichtlicher Perspektive. Die Werke, die in dieser Phase entstehen, sind daher Bausteine zu einer Poiesis des 'Sozialen', die erst in der mit Brentano gemeinsam herausgegebenen Sammlung Des Knaben Wunderhorn (1805–1806) vollständig umgesetzt werden wird. Entsprechend liest Büttner die Erzählung Aloys und Rose als eine Fortführung der Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis Individuum/Kollektiv, die Hollin’s Liebeleben prägte. Die tendenziell überschätzten Kollektivmächte in Aloys und Rose werden dann durch die Überlegungen zum Tanz im Kunstgespräch Erzählungen von Schauspielen ausbalanciert. Wie schon bei Schiller (in den Briefen Über die ästhetische Erziehung) gerät der Tanz für Arnim "zum Paradigma der Poiesis des 'Sozialen' überhaupt" (374). Eine konkurrierende bzw. komplementäre Leitfigur zu dieser Poiesis stellt dann in Ariel’s Offenbarungen die Allegorie dar. Sie verspricht durch die lose Verbindung ihrer Elemente, die Sprachen der Natur, der Kunst, und des Volkes zu vereinheitlichen.

Die Vorteile des praxeologischen Ansatzes werden vor allem in den abschließenden Analysen zu Des Knaben Wunderhorn deutlich. Durch eine genaue Lektüre der Paratexte – vom Titel bis hin zu Arnims programmatischem Vorwort "Von Volksliedern" – zeichnet Büttner die Konturen dieses Großprojektes nach, das nichts weniger anstrebt, als das deutsche Volk in seiner Heterogenität zu versammeln. Im Vergleich mit dem prominentesten Konkurrenten auf dem damaligen Buchmarkt, dem volksaufklärerischen Mildheimischen Liedbuch von Rudolph Zacharias Becker, wird deutlich, wie sehr das Wunderhorn sich durch das Wechselspiel von Poetisierung und Popularisierung auszeichnet – sowohl 'Volk' als auch 'Kunst' sollten sich gegenseitig bereichern. Im Wunderhorn kommt zudem dem Gesang als Verkörperung des Wortes eine ähnliche Schlüsselrolle zu wie zuvor dem Tanz oder der Allegorie. Die Lieder sollen nämlich nicht nur auswendig gelernt, sondern auch, der Organismus-Metapher zufolge, einverleibt werden. Daher spricht Büttner vom Buchdruck als bloßem "Zwischenspeicher" (431). Das durchgehaltene enzyklopädische Anliegen Arnims – das schon frühere Projekte wie die 'Meteorologie' oder Ariel’s Offenbarungen auszeichnete – schlägt sich laut Büttner in der emphatischen Narrativik der Lieder nieder. In ihr kommt das soziale Imaginäre ('social imaginary') zur Darstellung, das als Inhalt zur Performanz des Gesangs hinzugedacht werden muss.




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Den Abschluss des analytischen Teils bildet eine Diskussion der zunehmenden Politisierung in den weiteren Bänden des Wunderhorns. Sie ist nach Büttner eine Folge der napoleonischen Kriege. Damit aber geht gerade das 'Soziale' verloren. Büttner hatte es freilich nicht als etwas vom Politischen, Ökonomischen oder Religiösen Unabhängiges oder Bereinigtes dargestellt, sondern eher als eine neutrale Instanz, welche die genannten Bereiche in sich aufnimmt, ohne je von einem von ihnen vereinnahmt zu werden. Ob und wie genau dieses Konzept sich dann von der um 1800 prominent zirkulierenden Vorstellung der ästhetischen Autonomie unterscheidet, wird nicht ausdrücklich thematisiert. Das muss kein Nachteil sein, denn Büttners Analysen haben das Erkenntnispotential seines theoretischen Ansatzes (die Versammlung des 'Sozialen' im 'Imaginären' der Literatur) durchaus überzeugend herausgestellt. Weniger überzeugend fällt jedoch der Schluss des Buches aus, in dem Bernhard Giesens kritische Bemerkungen zur nationalpolitischen Ritualisierung der Versammlung ausführlich herangezogen werden, ohne dass klar würde, wie Büttner zu dieser Kritik steht. Mit anderen Worten: Die gewichtige Frage, was das 'Soziale' letztlich vom Begriff der 'Nation' trennt, wird zwar aufgeworfen, aber nicht direkt beantwortet. Die Antwort, die aus den reichen Erkenntnissen dieses Buches abzuleiten ist, dürfte lauten: Das Besondere an Arnims Poiesis des 'Sozialen' besteht darin, dass sie die Nation weder als Voraussetzung noch als Ziel der Versammlung konzipiert. Das wäre ein Ergebnis, das sich festzuhalten lohnte.


Bibliographie

Reckwitz, Andreas (2008): "Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken". In: Ders.: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld: transcript, 97–130.

Kiss, Gabor (1977): Einführung in die soziologischen Theorien I. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Anmerkungen

1 Vgl. S. 81–85 und Tab. 1, S. 201. Die Heuristik der 'fünf Fragen' geht zurück auf Kiss 1977, 17f.