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Marie-Therese Kampelmühler (Wien)



Eine art aufblühen. Zu Barbara Köhlers Übertragung von Gertrude Steins Tender Buttons



Translation of ambiguous modern prose poems. A dialogue between texts.
Zarte knöpft, Barbara Köhler's translation into German of Gertrude Stein's Tender Buttons illustrates the difficult task to be performed by those who attempt to translate what may be considered untranslatable due to the original text's ambiguous language and its tight constraints regarding sound. Referring to Walter Benjamin's text Die Aufgabe des Übersetzers (The Task of the Translator) the analysis adopts a perspective based on a non-historical 'kinship of languages', on a 'vital connection' between an original text and its translation and focuses on two essays by Stein and Köhler as well as on one of Stein's poems and its translation by Köhler. By this means the dialogue between the original text and the translation can be rendered visible. Not only does Köhler's translation present an option beyond the translation concepts of a 'domesticating' and a 'foreignizing' practice. It also indicates the issue of otherness and strangeness.


1 Einleitung

Im Jahr 1914 veröffentlichte Gertrude Stein den Band Tender Buttons, der aus einzeiligen bis hin zu seitenlangen lyrischen Prosastücken besteht, die den Kapiteln Objects, Food und Rooms zugeordnet sind. Die in ihrer Sprache stark auf Ambiguität, Rhythmik und klangliche Effekte angelegten Stücke lassen sich als sprachliche Stillleben lesen,1 deren Entstehung im Umfeld der kubistischen Avantgarde und der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu lokalisieren ist (vgl. Köhler 2004: 139–143), und markieren einen Meilenstein der experimentellen Dichtung. Die deutsche Dichterin und Übersetzerin Barbara Köhler legte mit Zarte knöpft (2004)2 eine Übertragung des Bandes vor, mit der sie nicht nur auf besondere Weise Steins Poetik aufnimmt und weiterführt. Darin wird zudem eine Reflexion über die Frage nach Übersetzbarkeit sichtbar.




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Auf mehreren Ebenen rückt dabei das Thema der Differenz ins Blickfeld. Nicht nur zeigen die Begriffe difference und change das thematische Programm von Tender Buttons an (vgl. Köhler 2004: 133f.; Hadas 1978: 58)3 und erweist sich die "Grammatik der Differenz" als eines der Kernthemen poetologischer Beschäftigung im lyrischen Werk Köhlers (vgl. Dahlke 2007: 705). Auch stellt sich hier die bekannte Frage nach dem Verhältnis von Original und Übersetzung als eine nach der "Systemdifferenz der Sprachen und des zeitlich/örtlich gesetzten kulturellen Abstandes" (Koppenfels 1985: 139). Die verschiedenen Ausformungen sprachlicher Mehrdeutigkeit im Ausgangstext als Spezifikum moderner Dichtung (vgl. Bode 1988)4 lenken den Fokus wiederum auf die innersprachliche Differenz5 und werfen die Frage auf, wie im Falle des Sprachwechsels mit dieser umzugehen sei (vgl. Handwerker 2004: 366).6

Durch das Konzept des poetischen Dialogs eröffnet sich die Möglichkeit, über eine derart vielschichtige Differenz nachzudenken und jene Übersetzungsbewegung, jene Verwirklichung, Wirklichwerdung der Beziehung (vgl. Rainer 2015: 14) zu konturieren, die zwischen Original und Übersetzung zur Sprache kommt. Vor dem Hintergrund von Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers (1921), dem Vorwort zu seinen Übertragungen von Charles Baudelaires Tableaux parisiens, kann jene "Lebendigkeit und Mobilität" der Sprache der Übersetzung in den Blick genommen werden, die sich aus ihrer "[g]rundsätzlich[en] Ansprache an andere Sprachen" ergibt (Rainer 2015: 12). Eine solche Lektüre von Übersetzung und konkret von Köhlers Übertragung7 bietet, wie sich erweisen soll, bei der Suche nach der Bewegung, nach dem "Zwischen", das "zwischen Über- und -setzung Einzug" hält (ebd.: XII), die "Nahegelegenheit" (Stein 2004: 37), eine "überhistorische Verwandtschaft der Sprachen" (Benjamin 1972: IV, 13)8 in Betracht zu ziehen – und wählt damit einen von Grund auf anderen Weg als jene Lektüre, welche mit Kategorisierungen zur Einordnung einer Übersetzung arbeitet, die aufgrund der ebenso rasterartig erfassten Übersetzungsverfahren angesetzt werden.9 Die Übersetzung, die dieses "verborgene Verhältnis" der Sprachen nicht "herstellen", aber "darstellen" kann, "indem sie es keimhaft oder intensiv verwirklicht" (ebd.: 12), vermag sprachliches Leben zu erzeugen. Es ist die Übersetzung, "welche am ewigen Fortleben der Werke und am unendlichen Aufleben der Sprachen" (ebd.: 14), vielleicht einer "art aufblühen" (Köhler 2004: 133), sich zu entzünden vermag.

Unter diesem Aspekt wird Übersetzung weder primär als Abbildung eines Verstehensprozesses der Übersetzerin gedacht (vgl. Turk 1987: 265) – ist möglicherweise nicht bei moderner Dichtung die Frage nach der Übersetzbarkeit von Nichtverstehen dringlicher? –, noch soll in erster Linie der "kunstvolle Bezug auf den Prätext" (Koppenfels 1985: 139) durch sie sichtbar werden. Darüber hinaus ist vor dem Hintergrund von Benjamins Übersetzer-Aufsatz die Verwandtschaft der Sprachen zu erwägen, die sich in ihrer jeweiligen "Art des Meinens" in einer nie zu vollendenden Bewegung "zum Gemeinten" (Benjamin 1972: IV, 14) ergänzen (vgl. Rainer 2015: 13). "Möglichkeiten zweier sprachen lassen sich so zeigen", schreibt Barbara Köhler über ihre Übertragungen der Tender Buttons, einem doppelsinnigen sprachlichen Ereignis, "ihre differenz zeigt sich, ihre ähnlichkeiten, ihre verwandtschaft, beweglichkeit, eigenarten der fremden sprache, der eignen. Möglichkeiten, die sich nur als eigene entdecken, entfalten lassen. Die sich ereignen: eventuell [Hervorh. i. O.]." (Köhler 2004: 153)




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2 Gedicht : Übersetzung : Dialog

Sobald sich in der klassischen Übersetzungskritik die Frage nach der Poetik einer Gedichtübersetzung stellte, operierte diese zumeist nach dem Maßstab von treuer, also wörtlicher, und freier Übertragung und inkludierte dabei mitunter überaus subjektive Wertungen zu Ungunsten des literarischen Eigenwerts einer Übersetzung (vgl. Koppenfels 1985: 139).10 Diesen Maßen nicht gleichzusetzen, ihnen jedoch verbunden sind zwei historische Übersetzungsideale, die Angela Sanmann in ihrer umfassenden Studie Poetische Interaktion zu französisch-deutschen Lyrikübersetzungen nach 1945 bei Friedhelm Kemp, Paul Celan, Ludwig Harig und Volker Braun herausarbeitet. Die Übersetzungspraxis der vier Dichter impliziere eine Reflexion dieser Paradigmen: Zum einen das "Primat der Einbürgerung" (Sanmann 2013: 5), das insbesondere dem französischen Klassizismus als Ideal galt, und bei dem in einer imitierenden Übersetzungspraxis das (antike) Original im Sinne einer Aneignung für die Zielsprache in freierer Form nachgedichtet wurde (vgl. ebd.: 14). Zum anderen das im deutschen Sprachraum um 1800 verbreitete Paradigma der sprachmimetischen Verfremdung der Zielsprache, deren Fokus auf der Vermittlung der Eigenheiten der Ausgangssprache lag (vgl. ebd.: 27–33).

Zu einem die beiden Pole betreffend ähnlichen Befund kommt schon Lawrence Venuti, wenn er im Rekurs auf Friedrich Schleiermacher die Übersetzenden vor die Wahl stellt zwischen "a domesticating practice, an ethnocentric reduction of the foreign text to receiving cultural values, bringing the author back home" und einer "foreignizing practice, an ethnodeviant pressure on those values to register the linguistic and cultural differences of the foreign text, sending the reader abroad" (Venuti 2008: 15). In beiden Praktiken, auch in der Verfremdung der Übersetzungssprache mit dem Ziel, das 'Fremdartige' am Originaltext gerade nicht zu glätten, sondern hervorzuheben, erkennt Venuti einen gewaltsamen Akt am Originaltext, der Sprache des Originals und der Kultur, in der es entstanden ist, ist doch dieses als 'fremd' Erkannte der Verfremdung stets eine Konstruktion, indiziert durch die je individuelle Situation der aufnehmenden Kultur (vgl. ebd.: 14–16).

Ab Mitte des 20. Jahrhunderts ist eine Abkehr von normativen Übersetzungskonzepten anzusetzen. Damit wird die Aufmerksamkeit verstärkt dem "kreative[n] Potential des Übersetzers" (Sanmann 2013: 69) zuteil. Die Übersetzung "versteht sich als Manifestation einer spezifischen Lesart des Ausgangstexts" und erhebt als Resultat der Wechselwirkung, die der "individuelle[n] Auseinandersetzung mit dem Original und dessen spezifischen sprachlichen und kulturellen Elementen" entspringt, "keinen Anspruch auf objektive Gültigkeit" (ebd.: 75). Eben diesen je individuellen Auseinandersetzungen widmet sich Sanmann mit ihrer Studie zu den dezidiert dialogischen Übertragungsstrategien der Dichter Kemp, Celan, Harig und Braun, die sie dem Typus des poète traducteur zuordnet – jenes übersetzenden Lyrikers also, der durch seine Übertragung eine individuelle, nicht normierbare Lesart des Originaltextes entwickelt, die seiner eigenen Poetik Rechnung trägt. Eine Übertragung, die sich am ästhetischen Programm der poetischen Interaktion, einer Wechselwirkung zwischen der Poetik von AutorIn und ÜbersetzerIn, ausrichtet, zielt in diesem Sinne nicht darauf ab, dem Originaltext als dessen 'treue' Kopie zu dienen, sondern ist ihrerseits eine "interpretationsbedürftige Gedichtfassung. Diese bleibt zwar stets auf das Original bezogen, insistiert aber auf ihrer eigenen Literarizität." (ebd.: 4). Mit der Betonung der eigenen Übersetzerstimme geht nicht nur eine dementsprechende Abkehr von jenen Verfahren einher, welche die Unsichtbarkeit der Übersetzerin anstreben. Die übersetzten Gedichte werden darüber hinaus zu "Resonanzräumen […], in denen sich semantische und klangliche Dimensionen des Originals vertiefen und vervielfachen […]." (Ebd.)




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Als weiterer wichtiger Reflexionspol, der neben den Idealen der Einbürgerung und Verfremdung auf die Konzeptualisierung und Praxis poetischer Interaktion maßgeblichen Einfluss hatte und eine Brücke zwischen den Übersetzungsepochen des 18. und 20. Jahrhunderts bildet, ist Walter Benjamins und Rudolf Borchardts theoretische und praktische Arbeit über und an Übersetzung zu nennen (ebd.: 43).11 Insbesondere im Übersetzungsdenken von Walter Benjamin wird vielfach ein Denken des Dialogs offenbar, das sich nicht lediglich auf die Wechselwirkung der Poetiken von AutorIn und ÜbersetzerIn beschränkt, sondern für das Verhältnis der Sprachen und, in ethischer Erweiterung des Übersetzungsbegriffs (vgl. Rainer 2015: XVI; 128), für die Frage nach dem/der Anderen geöffnet wird. Dabei wird "das andere als fremdes, seltsames, vorderhand unverständliches" (Köhler 2004: 134) aufgefasst, Differenz wird derart radikalisiert gedacht. Eben dieses Denken nimmt die folgende Analyse zu ihrem Ausgangspunkt.

Für ein solches Denken des Dialogs bestimmend ist das Verhältnis von Original und Übersetzung und der Sprachen zueinander, das Walter Benjamin in Die Aufgabe des Übersetzers entwirft. Dieses Verhältnis beruht auf folgenden Vorannahmen. Zum einen löst Benjamin eine Beziehung zwischen Kunstwerk oder Kunstform und den Aufnehmenden auf. "Nirgends erweist sich einem Kunstwerk oder einer Kunstform gegenüber die Rücksicht auf den Aufnehmenden für deren Erkenntnis fruchtbar." (Benjamin 1972: IV, 9) Die Kunst, so die Ausführung, setze das leibliche und geistige Wesen des Menschen voraus, dessen Aufmerksamkeit jedoch keineswegs. Dies gilt für Original und Übersetzung: "Wie das Original lässt sich die Übersetzung weder in Beziehung auf einen Leser/eine Leserin verstehen, noch aus dieser Beziehung. In dieser Beziehungslosigkeit dem Original gleich, ist die Beziehung, die in einer Übersetzung Gestalt annimmt ohne Rücksicht, auch ohne Rücksicht auf das Original [Hervorh. i. O.]." (Rainer 2015: 1) Die Übersetzung, die keine Rücksicht auf das Original nimmt, nicht zurückblickt, ist in diesem Sinne mehr als Neuanfang denn als Fortsetzung des Originals zu denken (vgl. ebd.).

Dies führt zu einer weiteren Annahme: "Übersetzung ist eine Form. Sie als solche zu erfassen, gilt es zurückzugehen auf das Original. Denn in ihm liegt deren Gesetz als in dessen Übersetzbarkeit beschlossen." (Benjamin 1972: IV, 9) Widerspricht diese Bestimmung der Übersetzung als Form zunächst einem behaupteten "Rangunterschied im Bereiche der Kunst" (ebd.) zwischen Original und Übersetzung, so entspringt ihr auch die Frage nach Übersetzbarkeit, die im Wesen gewisser sprachlicher Werke liegt. "Übersetzbarkeit eignet gewissen Werken wesentlich – das heißt nicht, ihre Übersetzung ist wesentlich für sie selbst, sondern will besagen, daß eine bestimmte Bedeutung, die den Originalen innewohnt, sich in ihrer Übersetzbarkeit äußere." (Benjamin 1972: IV, 10) Übertragen auf das Verhältnis der Sprachen zueinander bedeutet Übersetzbarkeit diesen "Möglichkeit, Sprachoffenheit, ein Über(-sich-selbst-hinaus-)Setzen." (Rainer 2015: 7) Durch die Übersetzbarkeit des Originals steht die Übersetzung mit diesem




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im nächsten Zusammenhang. […] Er darf ein natürlicher genannt werden und zwar genauer ein Zusammenhang des Lebens. So wie die Äußerungen des Lebens innigst mit dem Lebendigen zusammenhängen, ohne ihm etwas zu bedeuten, geht die Übersetzung aus dem Original hervor. Zwar nicht aus seinem Leben so sehr denn aus seinem 'Überleben'. (Benjamin 1972: IV, 10)

Der Gedanke vom Leben und Fortleben der Kunstwerke, den Benjamin in "völlig unmetaphorischer Sachlichkeit" (ebd.: 11) verstanden wissen will, deutet auf die Fähigkeit der Übersetzung hin, Leben zu erzeugen, das im Sprachkörper sein Wesen als sprachliches Leben ausdrückt (vgl. Rainer 2015: 8). "Leben, nicht nur 'organischer Leiblichkeit' zugesprochen, auch dem 'Wachstum' […] in Sprache, bedarf gewissermaßen dieser Zusprache, Zuerkennung, durch die Übersetzung um als Leben überhaupt erkennbar zu werden. Übersetzen heißt: sprachliches Leben kommt zu seinem Recht. [Hervorh. i. O.]" (Ebd.: 9)

Die Übersetzung kann dieses Verhältnis, den Zusammenhang des Lebens zwischen Original und Übersetzung, zwischen den Sprachen, durch eine "intensive, d.h. vorgreifende, andeutende Verwirklichung" (Benjamin 1972: IV 12) darstellen:

So ist die Übersetzung zuletzt zweckmäßig für den Ausdruck des innersten Verhältnisses der Sprachen zueinander. Sie kann dieses verborgene Verhältnis selbst unmöglich offenbaren, unmöglich herstellen; aber darstellen, indem sie es keimhaft oder intensiv verwirklicht, kann sie es. […] Jenes gedachte, innerste Verhältnis der Sprachen ist aber das einer eigentümlichen Konvergenz. Es besteht darin, daß die Sprachen einander nicht fremd, sondern a priori und von allen historischen Beziehungen abgesehen, einander in dem verwandt sind, was sie sagen wollen. (Ebd.)

Dieses Verhältnis entwirft Benjamin als eine "überhistorische Verwandtschaft der Sprachen" (ebd.: 13), bei der es weder um gemeinsame Vorfahren noch um eine Verbindung über (das) Ahnen geht (vgl. Rainer 2015: 23). Die Verwandtschaft der Sprachen beruht vielmehr darin,

daß in ihrer jeder als ganzer jeweils eines und zwar dasselbe gemeint ist, das dennoch keiner einzelnen von ihnen, sondern nur der Allheit ihrer einander ergänzenden Intentionen erreichbar ist: die reine Sprache. Während nämlich alle einzelnen Elemente, die Wörter, Sätze, Zusammenhänge von fremden Sprachen sich ausschließen, ergänzen diese Sprachen sich in ihrer Intention selbst." (Benjamin 1972: IV, 13f.)12




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Das Verhältnis, in dem die Sprachen zueinander stehen, figuriert jedoch nicht die Utopie ihrer Einheit, sondern "ein differentielles System", in dem die Sprachen "graduell und fließend" in einem "Kontinuum" (Rainer 2015: 19) zusammenhängen. Diesen Zusammenhang der Sprachen kann die Übersetzung "nicht – als Gegenstand – herstellen, sondern nur vorgreifend, im Zögern, darstellen" (ebd.: 46). Das Zögern "[a]ls Prinzip des Übersetzens", das sich von Setzungen entfernt, steht am Anfang von Miriam Rainers gleichnamiger Studie Zögern / Hesitate zum Übersetzungsdenken von Walter Benjamin und durchzieht diese:

Zögern/Hesitate, das diese Arbeit als Merkmal der Übersetzungsbewegung gegen Ideale der restlosen Aneignung ('domestication') und Verfremdung ('foreignization') zu profilieren sucht, öffnet die disjunktive Übersetzungsbewegung zu einem "Spielraum" […], – in dem sich das Übersetzungsproblem, schlechthinnige Un-/Übersetzbarkeit als Form jedes sprachlichen Gebildes, in seiner reinen Potentialität entfaltet –, und hält den Raum offen [Hervorh. i. O.]. (Ebd.: XIIf.)

Die Geste des Zögerns, die in dieser Übersetzungsbewegung liegt, zeigt einen Weg jenseits von Aneignung und Verfremdung, gerade weil sie disjunktiv ist, weil sie die Übersetzung für ein "oder" offenhält, den Widerspruch in die Sprache hineinnimmt und derart das, was sie trennt, eine Entscheidung zwischen "ja" und "nein", aufhebt (vgl. ebd.: 59). In der Betonung der Übersetzungsbewegung stellt das Zögern mithin nicht lediglich ein Modell dar, mit dem Benjamins Übersetzungsdenken theoretisch reflektiert und weitergedacht werden kann. Das Herausragende an Rainers Buch liegt darüber hinaus darin, Benjamins Übersetzungsdenken auf eine konkrete Übersetzungspraxis hin zu lesen und es mit übersetzerischen Arbeiten der ÜbersetzerInnen und DichterInnen Rosmarie Waldrop und Peter Waterhouse zu verbinden. Ihm darin folgend steht die vorliegende Analyse im Zeichen des Versuchs, Theorie und Praxis der Übersetzung zu vereinen.

Im Hinblick auf die Distanzierung von Setzungen und auf das Streben danach, den Raum offen zu halten, ihn zu weiten, weist die von Zögern getragene Übersetzungsbewegung große Ähnlichkeit mit Barbara Köhlers Verständnis von Übertragen auf. Im Essay NEBENSETZEN: THE OTHER ONE zu ihren Übertragungen von Gertrude Steins Stanzas in Meditation werden Übersetzen und Übertragen einander gegenübergestellt:

Übersetzen: sätze, die sitzen, wörter, die sich nicht von der stelle rühren, an die sie gestellt sind, gestellt werden, wie stühle gestellt: tote dinge, objekte, auf denen sich platz nehmen lässt, platz, den man dann objektiv hat oder nicht hat ("was man schwarz auf weiß besitzt"): einen stuhl […], position als possession und ein vorsitzender, der da das sagen hätte, im chefsessel – the chair. Besitzer, inhaber, eigentümer. 1 zu 1, einer und eins, eindeutig, per gesetz: seins.

Übertragen: etwas auf sich nehmen, es annehmen, tragen, um es weiterzugeben (vielleicht): als last, als auszeichnung; kraft darauf verwenden, energie, die man auch erhalten kann – erhalten als bekommen sowie erhalten als nicht-nachlassen-lassen – hat wohl (aktiv) zu tun mit entropie. Etwas tragen: es bewegen und halten, es in bewegung halten, vorübergehend nur und nicht zu fest, eher lose, doch ohne es fallen zu lassen. Übertragen: eine bewegung, einen impuls, energie [Hervorh. i. O.]. (Köhler 2012: 142)




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Der Unterschied der beiden begrifflich bestimmten Tätigkeiten wird hier als ein Unterschied in der Sprachkonzeption und im Gestus der Tätigkeit, im Grad ihrer Aktivität charakterisiert. Danach ist dem Übersetzen eine gewisse Statik und Passivität inhärent, metaphorisiert durch das Sitzen und den Stuhl, die in engem Verhältnis zu einer Auffassung von Sprache stehen, deren Bestandteile unabänderlich sind (tote dinge), und bei der zwischensprachlicher Transfer als eindeutige Zuordnung gewährleistet ist (1 zu 1, eindeutig). Diese Sprachkonzeption wird verbunden mit in Kraft setzenden Instanzen und einer Logik des Besitzes (ein vorsitzender, per gesetz, Besitzer).

Übertragen erscheint demgegenüber als eine dynamische und aktive Tätigkeit (um es weiterzugeben, aktiv, es in bewegung halten), die stark an die Metapher der physikalischen Übertragung von Impulsen angelehnt ist (energie, die man auch erhalten kann, in bewegung halten, impuls). Übertragen heißt: Bewegung übertragen. Der per gesetz festgelegten Ordnung der 1 zu 1-Äquivalenz der Sprachen wird beim Übertragen die entropie, das physikalisch beobachtbare Streben unbelebter Dinge nach Unordnung, entgegengesetzt. Die Sprache lässt sich hier als ungeordnete, sich Ordnung entziehende deuten, derer man nicht habhaft werden, sondern die man lediglich lose in Bewegung halten kann. Dieses Verständnis von Übertragen ist auch für die Betrachtung von Zarte knöpft entscheidend.


3 Übertragen: Barbara Köhler / Walter Benjamin

Lässt sich etwas von Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers auf Köhlers Praxis des Übertragens übertragen, lässt sich eines dem anderen unterlegen? Kann Köhlers den Übertragungen von Tender Buttons nachgestellter Essay MIT EIGENEN WORTEN nicht nur als einer über Steins Poetik, sondern auch und vor allem als einer über die Frage nach den Möglichkeiten einer Übertragung von Gedichten gelesen werden? Ist MIT EIGENEN WORTEN selbst schon eine Art Übersetzung? Zarte knöpft bereits eine Reflexion über Übersetzung?




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Im Zusammenhang mit Gertrude Steins Rosen – ihrem berühmten Satz "Rose is a rose is a rose is a rose."13 –, angelegt schon in den Knospen der tender buttons, macht Köhler die Form eines Kreises aus, der sich nicht schließt: "er wird geschlossen – oder offengehalten, spaltbreit, mit einem button, einem punkt, an dem sich das erste wort im letzten spiegelt, nicht aufgeht, eins nicht im andern verschwindet, sondern verdoppelt wird, verkoppelt, sich verzweigt." (Köhler 2004: 132) Der Gedankenstrich scheidet hierbei zwei unterschiedliche Arten, den Punkt am Ende des ringförmigen, zudem das Emblem auf Steins Briefpapier bildenden Satzes aufzufassen: als einen schließenden und damit Bedeutung endgültig festsetzenden oder als einen offenhaltenden, innehaltenden, der sich freihält "von Inhalt, von einnehmendem Verstehen" (Rainer 2015: XVII). Rose, das erste und das letzte Wort, von dem die Rede ist, ist sich uneins im Kreis, der sich nicht ganz zu schließen vermag, der stets einen Spalt breit offenbleibt, es deutet in unterschiedliche Richtungen.14 Lässt sich das Offenbleiben des Satzes, des Kreises zunächst auf die Begegnung mit mehrdeutigen Wörtern beziehen, so können darin auf einer tiefer liegenden Ebene auch Überlegungen zur Übersetzung erblickt werden: Original und Übersetzung werden dabei als "gleichermaßen original: ursprünglich, schöpferisch und anfänglich" (ebd.: 4) gedacht: Das eine geht daher nicht im anderen auf, es verschwindet nicht darin, erst in einer Verdoppelung, einer Vervielfachung wird die Verkoppelung, die Verzweigung zweier Wörter unterschiedlicher Sprachen sichtbar.15 Dies impliziert nicht nur eine Abkehr von dem Gedanken, Übersetzung wäre derivativ, sekundär und wiedergebend (vgl. ebd.: 1), sondern räumt die Frage ein, was die Übersetzung vermag, wenn es denn nicht das Vermitteln von Mitteilung, das wiederholte Sagen 'Desselben' ist:

Gilt eine Übersetzung den Lesern, die das Original nicht verstehen? Das scheint hinreichend den Rangunterschied im Bereiche der Kunst zwischen beiden zu erklären. Überdies scheint es der einzig mögliche Grund, 'Dasselbe' wiederholt zu sagen. Was 'sagt' denn eine Dichtung? Was teilt sie mit? Sehr wenig dem, der sie versteht. Ihr Wesentliches ist nicht Mitteilung, nicht Aussage. Dennoch könnte diejenige Übersetzung, welche vermitteln will, nichts vermitteln als die Mitteilung – also Unwesentliches. (Benjamin 1972: IV, 9)




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Ist die Mitteilung für Benjamin nicht das Wesentliche an der Dichtung, so kann auch eine Übersetzung, die Mitteilung vermitteln will, nur Unwesentliches vermitteln. Die Übersetzung, der es um das 'Wesentliche' geht – was das sein mag, wird noch zu fragen sein –, vermittelt nicht, sie gibt keine Botschaft wieder, "deren Mitteilbares auf einen Inhalt der Sprachen abzielte. […] Eklatant im Problem der poetischen Übersetzung offenbar ist die Übertragung jenes Nicht-Sagenden, Unsagbaren der Gedichte, da denn gerade Dichtung dem wenig 'sagt', 'der sie versteht.'" (Rainer 2015: 5) Wie ist aber diesem Nicht-Sagenden der Gedichte näher zu kommen, wie wird es denkbar? In ihrem Essay denkt Barbara Köhler darüber nach, was Wiederholung ist und kommt dabei zu einem bemerkenswerten Bild. Folgende Passage kann nicht nur im Hinblick auf das Merkmal der Wiederholung in Steins Tender Buttons und in vielen anderen ihrer Werke gelesen werden, sondern wiederum im Kontext von Übertragung, sind doch Echo und Widerhall zwei zentrale Motive in der Frage nach Übersetzung bei Benjamin (vgl. Sanmann 2013: 55f.; Rainer 2015: 15–17):

Wiederholung ist ja nicht unbedingt bekräftigung. Wiederholung kann unterhöhlung sein. Etwas wiederholen bis es hohl tönt, raum wird im wort, echos unterschiedlicher bedeutungen widerhallen. So beginnen auch wörter zu rosen, was immer das ist.

Eine art aufblühen vielleicht, das entfalten einer blüte, die aus vielen blättern besteht, die sich gleichen, um eine (später fruchtende) mitte herum zu wiederholen scheinen, jedoch in unterschiedlichster richtung und größe; die eine farbigkeit variieren, einen duft, ein aroma entfalten. auf einem holzigen stiel mit dornen. Wörter, die bedeuten, ohne je eindeutig zu sein, sinn ergeben sie nur im plural: sinne.
Rosen. (Köhler 2004: 133)

Vorderhand wird der erste Teil dieser Passage lesbar als ein Deuten von Wiederholung in Steins Werk, in Tender Buttons. Durch die Wiederholung, die den Raum im Wort öffnet, vermögen die vielen Bedeutungen eines ambigen Wortes widerzuhallen – so wird rosen im Absehen von Großschreibung als Verb im Infinitiv lesbar und deutet auf jene Aktivität im Wort hin. Wiederholen heißt also nicht: dasselbe noch einmal sagen. Bei der Frage nach Wiederholung und Wiederholbarkeit wird eine enge Verbindung zu Steins Begriffen repetition und insistence sichtbar und hörbar, die sie in ihrem Essay Portraits and Repetition – Teil ihrer Vorlesungstour Lectures in America (1935) – entwickelt. In diesem Essay, der die Kontinuitäten und Diskontinuitäten der unterschiedlichen Porträts in ihrem Werk, darunter auch die "portraits of things" (Stein 1957: 189) der Tender Buttons, konturiert, heißt es: "Then also there is the important question of repetition and is there any such thing. Is there repetition or is there insistence. I am inclined to believe there is no such thing as repetition. And really how can there be." (Stein 1957: 166) Wird insistence vorderhand als Beharren, Bestehen, Insistieren kenntlich, so zeigen die lateinischen Wurzeln des Wortes seine Ambivalenz an: Es bewegt sich in einem Bedeutungsfeld von "hinstellen, hintreten", "nachsetzen, zusetzen", "bestehen, beharren", aber auch "stehen bleiben, stillstehen" und "(in der Rede) innehalten" (Stowasser 2006, Lemma insisto).16 Heißt to insist also vielleicht auch: innehalten, sich freihalten von Inhalt, zögern?




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Insistence wird hierbei repetition, Wiederholung gegenübergestellt, die für Stein immer als Wiederholung 'Desselben' gedacht wird. Anders verhält es sich mit dem Insistieren, das als Wesen des Ausdrückens stets einen je anderen Akzent, eine je andere, nicht wiederholbare Betonung setzt:

[…] every time one of the hundreds of times a newspaper man makes fun of my writing and of my repetition he always has the same theme, always having the same theme, that is, if you like, repetition, that is if you like the repeating that is the same thing, but once started expressing this thing, expressing any thing there can be no repetition because the essence of that expression is insistence, and if you insist you must each time use emphasis and if you use emphasis it is not possible while anybody is alive that they should use exactly the same emphasis [Hervorh. M.K.]. (Ebd.: 167)

Das Insistieren rekurriert wiederum auf die Lebendigkeit des sprachlichen Gebildes – so spricht Köhler mit Bezug auf Tender Buttons von einem lebendigen Text, "der immer neue, eigne sichten zu öffnen vermag" (Köhler 2004: 152). Wenn etwas Lebendiges im Text vorhanden ist, so ist eine Wiederholung nicht denkbar, denn die Betonung wird immer variiert: "That is what makes life that the insistence is different, no matter how often you tell the same story if there is anything alive in the telling the emphasis is different." (Stein 1957: 166) Nicht nur ist der Unterschied zwischen repetition und insistence einer, der durch Zuhören, "by listening", verstanden werden kann (ebd.: 169). Gleichzeitiges Sprechen und Hören ist für Stein zudem die Erfahrung der größten Lebendigkeit, "of being most intensly alive" (ebd.: 170).

Durch insistence können die Lesenden ermutigt werden, zum einen dem Geschriebenen zuzuhören, zum anderen dieses Zuhören mit gleichzeitigem Sprechen zu verbinden. Dann ließe sich hören,17 wie durch die Wiederholung die Silbenstruktur der Wörter gelockert wird. Die diskreten Bedeutungen, die mit den eigenständigen Wörtern verbunden werden, lösen sich dergestalt in Teile auf, die nur lose zusammengehalten werden – viele verschiedene Bedeutungen hallen wider, schwingen mit (vgl. Marchiaselli 2016: 79).

In einer anderen Schicht spricht die obige Passage des Essays womöglich von Übersetzung. Durch die Begriffe echo und widerhallen werden erneut Verbindungen zur Aufgabe des Übersetzers sichtbar. Eben diese, die Aufgabe des Übersetzers




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besteht darin, diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird. Hierin liegt ein vom Dichtwerk durchaus unterscheidender Zug der Übersetzung, weil dessen Intention niemals auf die Sprache als solche, ihre Totalität, geht, sondern allein unmittelbar auf bestimmte sprachliche Gehaltszusammenhänge. Die Übersetzung aber sieht sich nicht wie die Dichtung gleichsam im innern Bergwald der Sprache selbst, sondern außerhalb desselben, ihm gegenüber und ohne ihn zu betreten ruft sie das Original hinein, an demjenigen einzigen Ort hinein, wo jeweils das Echo in der eigenen den Widerhall eines Werkes in der fremden Sprache zu geben vermag. (Benjamin 1972: IV, 16)

In diesem Bild wird, wiederum Rainers Lektüre folgend, eine Differenzbewegung offenbar: Die Stimme der Übersetzung vernimmt ein Echo aus ihrer eigenen Sprache. Bei diesem handelt es sich um keine identische Wiederholung, sondern um Differenz. Das Übersetzen zielt dementsprechend nicht auf eine sprachliche Totalität ab, sondern darauf, eben diese Intention auf bestimmte sprachliche Gehaltszusammenhänge zu finden. Daher steht die Übersetzung nicht wie das Original gleichsam, also dem ähnlich, was gleich ist, im innern Bergwald der Sprache, sondern allein diesen Zusammenhängen gegenüber. Darin wird das Hineinrufen der Übersetzung kenntlich als ein "Hineinreden in die Zusammenhänge, wie ein Dazwischenreden, das jene unterbricht" (Rainer 2015: 15). Die Stimme der Übersetzung ist selbst kein Echo. Sie ruft in den Bergwald, nicht "um Stimme zu bleiben, nicht um als Stimme zu bestehen […], sondern um sich, in einer Differenzbewegung, in differierender Wiederholung, die schon die eigene Stimme stets durchwaltet, selbst fremd zu werden." (Ebd.: 16) Auch in Köhlers Essay eröffnen sich Möglichkeiten erst durch eine Bewegung, die dem Sich-selbst-fremd-Werden ähnlich ist und ebenso die räumliche Position eines Gegenübers bedingt. "Sich also fremd stellen, nicht zu den gegenständen, so als-ob-objektiv, sondern (demgegenüber) anders. Von der anderen seite, dem gegenüber, mithin keine vertraulichen, 'subjektiven' mitteilungen erwarten, keine geständnisse, keine bestätigung von gewusstem, im gegenteil, im gegenüber, im buch." (Köhler 2004: 135) Beachtlich ist dabei, dass mit dem Sich-fremd-Stellen von der Erwartung von Mitteilungen der anderen Seite, von Bestätigung, in gewisser Weise von Sicherheit abgesehen wird. Um welche Art der Erwartung handelt es sich aber bei der Übersetzung? Und was bedeutet sie für die Frage nach Wiederholung, wenn diese immer schon als differierende, Akzent verschiebende gedacht wird? "Kann es überhaupt Wiederholungen geben, die gleich bleiben? Gibt es gleichere und ungleichere Wiederholungen? Schafft Wiederholung Identität? Vermischt Entitäten? Ist Wiederholung als Wieder-holen eine Form der Erinnerung? Mit jedem Mal erstmaliges Erinnern? Heißt wiederholen auch: anfangen?" (Rainer 2015: 48) Wie ähnlich oder unähnlich sind sich Original und Übersetzung, ist eine Sprache der anderen, angesichts dieser gleicheren oder ungleicheren Wiederholungen?




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Bei Benjamin heißt es, "daß keine Übersetzung möglich wäre, wenn sie Ähnlichkeit mit dem Original ihrem letzten Wesen nach anstreben würde" (Benjamin 1972: IV, 12). Mit dieser Ähnlichkeit ist, wie Rainer aufzeigt, eine andere, tiefere Ähnlichkeit als jene vermeintlich sinnliche angesprochen, die an der Oberfläche der Sprache sich bekundet (vgl. Rainer 2015: 12). Dieser Ähnlichkeit ist mit den für Benjamins Übersetzungstheorie entscheidenden Begriffen der 'Art des Meinens' und des 'Gemeinten' näher zu kommen, die in der folgenden Passage etabliert werden:

In "Brot" und "pain" ist das Gemeinte zwar dasselbe, die Art, es zu meinen, dagegen nicht. In der Art des Meinens nämlich liegt es, daß beide Worte dem Deutschen und Franzosen je etwas Verschiedenes bedeuten, daß sie für beide nicht vertauschbar sind, ja sich letzten Endes auszuschließen streben; am Gemeinten aber, daß sie, absolut genommen, das Selbe und Identische bedeuten. Während dergestalt die Art des Meinens in diesen beiden Wörtern einander widerstrebt, ergänzt sie sich in den beiden Sprachen, denen sie entstammen. Und zwar ergänzt sich in ihnen die Art des Meinens zum Gemeinten. (Benjamin 1972: IV, 14)

Obwohl beide Begriffe, die 'Art des Meinens' und das 'Gemeinte' demselben Verb meinen entspringen, erzeugt dieses auch deren Unterschiedlichkeit. So wird etwa in der 'Art des Meinens' größere Aktivität angezeigt, wohingegen sich das 'Gemeinte' durch Substantivierung aus meinen formt (Rainer 2015: 13). Nicht nur macht Rainer im Rekurs auf den Literaturwissenschaftler Hans-Jost Frey auf die Mehrdeutigkeit des Wortes meinen aufmerksam, das sowohl "im sinne haben, mit etwas durch wort, bild, geberde usw. geäußertem bezeichnen, andeuten, sagen wollen" bedeuten kann, sondern auch "dafür halten, etwas wähnen" (Grimm 1838–1971: XII, Sp. 1924, vgl. Rainer 2015: 13), wobei der zweiten Möglichkeit ein gewisses Unsicher-Sein, eine Beweglichkeit innewohnt. Sie hebt zudem die Präpositionen vor, die mit den beiden Begriffen verbunden sind: "Liegt es am Gemeinten, dass Worte dasselbe bedeuten, liegt es wiederum in der Art des Meinens, dass sie verschiedenes bedeuten." (Ebd.) Mag dies wie ein kleines Detail erscheinen, so zeigt sich gerade darin, was diese beiden Begriffe voneinander trennt: "Im Meinen liegt es – dieses in dürfte wirklich eine Stelle angeben oder das Verwickeltsein in einen Vorgang, die verwickelte Stelle. Das Meinen ist noch etwas so Konkretes, daß es ein Darin gibt und ein Mitgerissenwerden. Am Gemeinten liegt es – hier ist eher von einer Begründung die Rede, von einer Ursache und der Folge. […] – liegen ist hier gar kein Liegen, sondern ein Bedeuten. Es bedeutet: Autorität haben, Bedeutung haben [Hervorheb. i. O.]." (Waterhouse 2015: 147) Dürfte es sich beim Gemeinten "um ein Ergebnis handeln, um etwas Fertiges, Greifbares und Haltbares", so sind das "Meinen und die Art des Meinens" "im Fluß, sind nicht angekommen" (ebd.). Die Art des Meinens wird derart kenntlich als etwas Bewegliches, als das "werden, in dem die dinge sind, der wandel, bewegung, verwandlung" (Köhler 2004: 134).




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Sie zielt vielleicht gerade nicht auf Bedeutung, auf Bedeuten ab und ist somit in Verbindung zu bringen mit Köhlers Wendung vom was zum wie: "Weniger was ein Wort bedeutet als wie es bedeutet. Wie es sich durch den satz bewegt, wie sich der satz durch es bewegt. Nicht fest und zu stellen suchen: was ist der inhalt […]. Die bedeutung ist eine lose [Hervorh. i. O.]." (Ebd.: 139). Zudem klingt darin ein Gedanke von Gertrude Stein an, deren "portraits of any one" retrospektiv mit ähnlichen Fragen begannen: "I began to think about portraits of any one. If they are themselves inside them what are they and what has it to do with what they do. And does it make any difference what they do or how they do it, does it make any difference what they say or how they say it." (Stein 1957: 171) Diese Fragen werden mit Fortschreiten des Textes verbunden mit der Gegenüberstellung von "what anybody does" und der schon angeklungenen "intensity of anybody's existence" – das, 'was jemand tut' wird gegenüber jemandes 'intensiver Existenz' herabgesetzt: "The newspapers are full of what anybody does and anybody knows what anybody does but the thing that is important is the intensity of anybody's existence." (Ebd.: 182) Hierbei dürfte die Zeitung als klassisches Medium der Information, der Mitteilung in erster Linie die Frage nach dem Was beantworten und, mit Bezug auf Benjamin, lediglich Unwesentliches vermitteln. Dementsprechend wäre das Wie in die Nähe des Nicht-Sagenden, Unsagbaren der Sprache zu rücken.

In obigem Abschnitt von Köhlers Essay ist die Rede von einer "art aufblühen", dem

entfalten einer blüte, die aus vielen blättern besteht, die sich gleichen, um eine (später fruchtende) mitte herum zu wiederholen scheinen, jedoch in unterschiedlichster richtung und größe; die eine farbigkeit variieren, einen duft, ein aroma entfalten. auf einem holzigen stiel mit dornen. Wörter, die bedeuten, ohne je eindeutig zu sein, sinn ergeben sie nur im plural: sinne. (Köhler 2004: 139)

Dieses Bild der sich entfaltenden Blüte lässt sich ähnlich lesen wie jenes, das Benjamin in seiner Lehre vom Ähnlichen (1933), einem Text, der sich vielfach auf Die Aufgabe des Übersetzers beziehen lässt und vice versa, mit dem Begriff der "unsinnlichen Ähnlichkeit" verbindet: "Ordnet man Wörter der verschiedenen Sprachen, die ein gleiches bedeuten, um jenes Bedeutete als ihren Mittelpunkt, so wäre zu erforschen, wie sie alle – die miteinander oft nicht die geringste Ähnlichkeit besitzen – ähnlich jenem Bedeuteten in ihrer Mitte sind." (Benjamin 1977: II, 207)




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Mit der Lehre vom Ähnlichen geht Walter Benjamin von der früher vorhandenen "Fähigkeit" des Menschen "im Produzieren von Ähnlichkeiten"18 (Benjamin 1977: II, 204) aus. Dieses "mimetisch[e] Vermöge[n]" (ebd.) ist einem Neugeborenen im Augenblick der Geburt mitgegeben und zeigt sich "vermöge eines Anbildens, das nicht als Nachbildung zu verstehen ist [Hervorh. i. O]" (Rainer 2015: 21), nämlich besonders durch "die vollendete Anbildung an die kosmische Seinsgestalt". Darin wie auch im Astrologen, der "zu der Konjunktion von zwei Gestirnen" tritt, ist ein "Dazukommen eines Dritten" (Benjamin 1977: II, 207) erkennbar. Dieses "führt das 'Nu' der Geburt zusammen mit dem Nu der Wahrnehmung von Ähnlichkeit, es scheint in Benjamins Darstellung mithin als produziere jedes Ähnlichkeit wahrnehmende Aufblitzen bzw. Augen-Blicken Leben [Hervorh. i. O]." (Rainer 2015: 21) Dadurch, dass die Ähnlichkeit nur "flüchtig" wahrgenommen werden kann, ist ihr Erkennen anfänglich und unableitbar und kann "kaum durch reines Auflesen von Ähnlichem erlangt werden, vielmehr geht es um die Darstellung der Bewegung dessen, was Ähnliches erst hervorbringt" (ebd.: 24). Diese vormalige Fähigkeit des Wahrnehmens von Ähnlichkeit hat sich im Laufe der Jahrhunderte 'verwandelt': Die "mimetische Auffassungsgabe" (Benjamin 1977: II, 205) ist aus gewissen Bereichen verschwunden, hat sich in Sprache und Schrift verlagert und "sich in ihnen das vollkommenste Archiv unsinnlicher Ähnlichkeit geschaffen" (ebd.: 209) – sie bewahren die Erinnerung an den vormaligen Zugang der Menschen zur Welt durch natürliche Korrespondenzen. Diese "natürlichen Korrespondenzen" sind grundsätzlich "Stimulantien und Erwecker jenes mimetischen Vermögens […], welches im Menschen ihnen Antwort gibt." (Ebd. 205) Miriam Rainer erkennt in dieser Formulierung das Widerhallen jener Stelle des Übersetzer-Aufsatzes, an der "die Aufgabe des/der Übersetzers/in als Suche nach derjenigen 'Intention auf die Sprache' beschrieben wird, 'von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird [Hervorh. M.R.].'" (Rainer 2015: 26) Über das Erwecken können Echo und Antwort einander angenähert werden. Der Mensch ließe sich dadurch "als Echoraum – als Medium des Echos – begreifen, der dadurch Antwort gibt, dass er sich ähnlich macht. Wie die reine Sprache die stumme Mitte aller Sprachen darstellt, ist das Bedeutete inmitten der unsinnlich ähnlichen Worte, die es bezeichnen sollen, bedeutungslos[.]" (Ebd.)

Dadurch lässt sich der Verwandtschaft zwischen Benjamins und Köhlers Bild der um eine Mitte angeordneten Wörter bzw. Blütenblätter näherkommen. Scheinen die Blätter der Blüte sich um eine (später fruchtende) mitte zu wiederholen, so wird in ihrer Entfaltung offenbar, dass sie dies in unterschiedlichster richtung und größe tun und an farbigkeit variieren. Somit dürfte auch bei den sich gleichenden Blütenblättern von einer differierenden Wiederholung auszugehen sein. Im Inneren der Blütenmitte, beschützt von Klammern, vielleicht den innersten Blütenblättern, ruht die Erwartung des später Fruchtenden. Ähnlich wie die Mitte in Benjamins Bild nicht besteht, ohne Bestand bleibt, weil sie sich erst durch die sich stets erneuerte Ähnlichkeit der Wörter verschiedener Sprachen bildet (vgl. Rainer 2015: 26f.), hat auch die Blütenmitte durch die Orientierung der Erwartung auf ein gedachtes Später keinen Bestand. "Verwandlung", schreibt Köhler, "weiss, anders als das änderung will, ihr Ende nicht, nichts von einem zu erreichenden ziel, einem fest stellbaren ergebnis" (Köhler 2004: 135). Die Wörter verschiedener Sprachen, die nur im plural, nur in ihrem Zusammenstehen sinn ergeben: sinne, lassen sich aus dieser Perspektive als Bild für die einander in unendlicher Bewegung ergänzenden Arten des Meinens begreifen, und "der 'verlust der mitte' durchaus [als] ein gewinn" (Köhler 2004: 149). Darüber hinaus ist auch die körperlich-sinnliche Ebene der sinne zu bedenken. Den "verbindlichen sinn, den kon-sens über die schrift" sieht Köhler in Tender Buttons aufgekündigt




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zugunsten einer mehrzahl der sinne, zugunsten des sehens, schmeckens, hörens der wörter und sätze, ihrer mehrdeutigkeiten, komplexerer rhythmen. Zugunsten dessen, was – auch in der schrift – an sprache alles nicht feststeht. Was leibliches zutun ist: stimme, atem, gangarten, zungenfertigkeiten, puls, handschrift, gehör … all das wandelbare, individuelle, das unwäg-, das unberechenbare, alle eigenart. (Ebd.: 148f.)


4 Ansprache und Anrufung in Tender Buttons

Im Essay zu ihren Übertragungen nennt Köhler Tender Buttons ein "ansprechendes Buch […] – es schafft sich (und bietet gleichzeitig) ein gegenüber, entsprechend. Diesem angesprochenen gegenüber aber wird gegenwart zugesprochen, präsentiert." (Köhler 2004: 137) Es ist das Moment der Stimme, das durch die Gegenwart schaffende Ansprache zum Tragen kommt:

"[A]ls ich mich einliess auf diese gegenwart, wurde eines unabdingbar: das zutun der stimme; dem stillen, einem für-sich-lesen setzen diese sätze maximalen widerstand entgegen, sperren sich, scheinen sich quer zu legen, legen sich in den mund, wollen (… als könnten sätze tatsächlich wollen …) im raum entfaltet werden, in die zeit, im klang." (Ebd.)

Zum einen zeigt sich hierin die bereits im Gedicht "angelegte Dialogizität", befindet es sich doch "immer schon im Sprung außer sich, zwischen Eigenem und Anderem" (Rainer 2015: 104f.) und spricht dadurch ein Gegenüber an. Zum anderen lässt sich in der von Köhler angesprochenen Notwendigkeit der Stimme ein ähnlicher Gedanke begreifen wie jener, den Stein wiederum ihrem Begriff von repetition entgegensetzt: "the talking being listening and the listening being talking" (Stein 1957: 180). Das simultane, in eins fallende Sprechen und Zuhören setzt sie dabei nicht nur mit "being existing" gleich, mit eben diesem Modus hat auch das Schöpferische statt: "creating something" (ebd.) ist allein durch gleichzeitiges Sprechen und Zuhören möglich. Diese beiden Aktivitäten rekurrieren auf den sprachlichen Dialog. Indem Sprechen und Zuhören zusammenfallen, wird die Aufmerksamkeit der Sprache selbst zuteil. Lässt sich davon ausgehen, dass Sprechen stets dialogisch verfasst ist, so wird dadurch die Beziehung sichtbar, die sich durch Sprache konstituiert: "Sprechen ist, nach Franz Rosenzweig, 'dialogisches Sprechen'. Lévinas zufolge stiftet die Sprache somit grundsätzlich die 'Beziehung des Selben zum Anderen'. Das Gedicht ist Sprechen, noch vor der Sprache spricht es, ist Sagen vor dem Gesagten und auch noch danach […]. Im Dialog waltet – Paradoxon des Dialogs – absolute Distanz und Beziehung [Hervorh. i. O.]." (Rainer 2015: 105) Ergibt sich nach Lévinas die Distanz dadurch, dass das Ich und das Du in ihrer Identität absolut voneinander getrennt und inkommensurabel sind, so entfaltet sich andererseits "die außerordentliche und unmittelbare Beziehung des Dia-logs, der diese Distanz transzendiert, ohne sie abzuschaffen, ohne sie zu vereinnahmen […]." (Lévinas 1982: 74f, zit. nach Rainer 2015: 105) Eine Synthese zwischen Ich und Du ist aufgrund dieser Andersheit, die zugleich den Dialog allererst ermöglicht, ausgeschlossen, doch "gerade in der Sprache, im wechselseitigen Ansprechen, öffnet sich ein Übergang, der kein Angleichen zum Ziel hat" (ebd.: 106).




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Im Lichte des Dialogs, der in der Übersetzung mit dem Original aufgenommen wird, muss dieser als "Dialog mit Sprache(n)" gedacht werden: "Beim Übersetzen wird das Gedicht, über das in ihm Gesagte – auch über das in ihm Ungesagte – hinaus, entgrenzt, d.h. öffnet sich für jenes ganz Andere, das weder Sagen noch Gesagen ist [Hervorh. i. O.]." (Rainer 2015: 95f.)

Neben der Ansprache ist den Gedichten von Tender Buttons auch eine Art der Anrufung eigen, die in einem engen Verhältnis zu ihrer Porträt-Form steht. Wie bereits erwähnt, nannte Gertrude Stein die Stücke des Bandes "portraits of things":

I began to make portraits of things and enclosures that is rooms and places because I needed to completely face the difficulty of how to include what is seen with hearing and listening and at first if I were to include a complicated listening and talking it would be too difficult to do. That is why painters paint still lives. (Stein 1957: 189).

Als sprachliche Stillleben wurden die Texte in der Folge aus mehreren Gründen untersucht: Zum einen aufgrund ihrer Überschriften, die sich auf gewisse Art äquivalent zu den Titeln von Bildern verhalten. Sie benennen zumeist Dinge des häuslichen Alltags wie z.B. Karaffe, Kissen, Schirm, Karton, Kleid, Butter und Sellerie. Daneben gibt es Überschriften, die von dieser Tendenz abweichen, so z.B. "A Methode of a Cloak", "Suppose An Eyes" oder "It was black, black took". Meist geben diese Überschriften Anlass zur Erwartung, dass der folgende Text den bezeichneten Gegenstand thematisiert (vgl. Haselstein 2002: 200). Zum anderen, weil die auf- und zugleich angerufenen Gegenstände dem Inventar von Stillleben entsprechen. Angesichts der sprachlichen Beschaffenheit der Stücke, die sich beispielsweise in der Auflösung der Syntax, semantischer Zusammenhanglosigkeit, in Wortspielen durch Homophonie, Anagrammen, Etymologien, Ellipsen und Paronomasien manifestiert, wurde Tender Buttons in die Nähe kubistischer und dadaistischer Verfahren gerückt.19

Ulla Haselstein macht auf die bisher kaum beachtete Widersprüchlichkeit aufmerksam, welche das Diktum der "Porträts von Dingen" in Bezug auf Individualität, Innerlichkeit, Dinghaftigkeit und offene Textstruktur letztlich bedeutet: Dinge bringen, so die These, die Voraussetzungen für eine Porträtdarstellung in der Ermangelung von eigenem Leben, Individualität und Innerlichkeit nicht mit. Anstelle von Repräsentation, die durch den oben umrissenen Sprachgebrauch unterlaufen wird, ist bei Tender Buttons vielmehr von der Figur der Apostrophe auszugehen, bei der die Bezeichnung des Dings im Zuge einer Anrufung zum Namen verwandelt wird. Auf diese Art wird die differentielle Materialität der Sprache ausgestellt. Ein Effekt der Wortspiele sei die sich daraus ergebende "Ähnlichkeit zwischen Wörtern, die dann deren arbiträre Referenz supplementär motivieren" (Haselstein 2002: 203). In Verbindung damit betrachtet Haselstein das Collageverfahren der KubistInnen. Dabei lässt sich zeigen, wie in manchen Stillleben der Tender Buttons das Fehlen eines Subjekts, das die Dinge arrangiert und kontrolliert, zum Bildereignis wird. In gebrauchten und beschädigten Dingen erkennt sie einen Verweis auf die Zeitlichkeit und Verletzbarkeit des menschlichen Körpers. Diesen Gedanken führt sie weiter:




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Die symbolische Äquivalenz zwischen dem Ding und dem Körper, die sich diese Stilleben zunutze machen, wird bekanntlich in der cartesianischen Tradition ausgearbeitet. Diese begreift den Körper als eine Sache […], die von der in ihrem Inneren unsichtbar wirkenden Vernunft gesteuert wird. Dekonstruktion und feministische Philosophie haben die geschlechtliche Kodierung dieser Konstruktion gezeigt. Bezieht man solche Überlegungen in die Analyse von Tender Buttons mit ein, so wird deutlich, daß – in Übereinstimmung mit der Gattungstradition des Stillebens – alle Dinge, die Tender Buttons in den Überschriften aufführt, der kulturell als weiblich markierten Sphäre angehören. Schon deshalb können sie als Symbole eines weiblichen Körpers gelesen werden. (Haselstein 2002: 208).20

Der folgenden, in mehreren Beobachtungen verwickelten Betrachtung des Gedichts COLORED HATS aus dem Kapitel Objects werden eben diese Perspektiven von Ansprache und Anrufung zugrunde gelegt. Diese, eine von vielen möglichen Lektüren, begibt sich auf die Suche nach der dialogischen Struktur des Gedichts, versucht die mehrzahl der sinne zu bedenken, fokussiert auf den (Sprach)Körper.

COLORED HATS.

Colored hats are necessary to show that curls are worn by an addition of blank spaces, this makes the difference between single lines and broad stomachs, the least thing is lightening, the least thing means a little flower and a big delay a big delay that makes more nurses than little women really little women. So clean is a light that nearly all of it shows pearls and little ways. A large hat is tall and me and all custard whole. (Stein 2004: 36)

Der Titel COLORED HATS deutet in mehrere Richtungen. Durch 'color' ("any of the constituents into which light can be separated as in a spectrum or rainbow", OED 2017) wird über die physikalische Definition von Farbe eine Verbindung zu light sichtbar: Als Sinneseindruck des Menschen verdankt sich Farbe dem Licht. Mitgedacht wird dabei der speziell für Steins Porträts wichtige Sehsinn. Durch hats eröffnet sich ein Feld der Bekleidung, des Bedeckens, des Ver- und Entüllens, das in diesem Text nicht nur thematisch, sondern auch diskursiv umgesetzt wird: Wird colored womöglich bewohnt von dem lateinischen Wort 'colo' ("wohnen, ansässig sein", Stowasser 2006) in diesem Kapitel der Wohngegenstände? Oder blicken mit die zwei kleinen Buchstaben 'o' in colored zwei Augen aus dem Porträt? Öffnet 'or' den Raum für Widerspruch? Ist 'ore' ein Anfang? Ver- oder bedeckt ein hat einen ihm ähnlich klingenden 'head'?




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Colored hats are necessary to show that curls are worn by an addition of blank spaces. Bereits dieser Anfangsteil des ersten Satzes kann unter eben jenem Aspekt betrachtet werden, den Stein in obiger Passage als "the difficulty of how to include what is seen with hearing and listening" (Stein 1957: 189) bezeichnet. Das Sehen ins Hören und Zuhören miteinzubeziehen scheint nicht nur eine Schwierigkeit zu sein, der Stein im Schreibprozess der Porträts begegnete. Beim Wort genommen, werden damit auch die Sinneswahrnehmungen angesprochen, auf denen sich eine Lektüre des Texts zu gründen vermag. Im Versuch, zu hören vielleicht mehr als zuzuhören, lassen sich Wörter in anderen hören und aus ihnen herausgewahren. Dann lässt sich in addition ("something which is added or joined to another thin" [OED 2017]) womöglich 'audition' ("the action of hearing or listening" [OED 2017]) hören. Im Modus dieser 'audition' werden beispielsweise curls ("a lock of hair of a spiral or convolute form" [OED 2017]) hörbar als 'girls' – ein Wort, das in diesem Text noch ein weiteres Mal in pearls widerhallt. Unhörbar, dafür sichtbar ist in pearls jedoch mehr das Ohr, 'ear'. Hörbar wird auch in worn das Wort 'born' ("to cause to be born, to deliver a child, to bring into existence" [OED 2017]). Das Wort worn von 'to wear' ("to carry or bear on one's body or on some member of it, for covering, warmth, etc." [OED 2017]) trägt ('wears' und 'bears') dementsprechend nicht nur ein anderes Wort mit sich, vielmehr zeigt es durch seine Verbindung mit diesem einen Neuanfang an, ein anderes Wort wird ins Leben gerufen.

Eine solche Lesart wird durch den darauffolgenden Satz noch verstäkt: this makes the difference between single lines and broad stomachs. Analog dazu, wie im vorangegangenen Satz ein zweiter hat in that sichtbar wurde, so beschränkt sich auch this hier nicht auf seine deiktische Funktion, vielmehr tritt daraus das männliche Possessivpronomen 'his' hervor. Dadurch, dass das Wort ein Genus hat, könnte es bereits auf eine Art des geschlechtlichen Unterschieds hindeuten, der in difference zur Sprache kommt: between single lines and broad stomachs. Zwei differierende Entitäten werden nicht nur syntaktisch, sondern auch graphematisch und phonetisch einander gegenübergestellt, und zwar durch die Vokalfolgen i – e – i – e bzw. [ɪ] – [aɪ] in single lines und oa – o – a bzw. [ɔ] – [ɔ] – [ə] in broad stomachs. Trotz dieser Gegenüberstellung stehen sie nicht isoliert, sondern werden durch and verbunden. Das Wort steht wie eine Brücke zwischen den differierenden Einheiten, ohne aber das Zwischen, between, dadurch auszuschalten. Broad stomachs ist mit dem in worn bzw. 'born' erkennbaren Feld der Geburt und des Neuanfangs in Zusammenhang zu bringen. Das Wort broad verweist als Adjektiv ("extended in the direction measured from side to side, wide" [OED 2017]), doch auch als Nomen, im US-amerikanischen Slang für 'a woman' gemeinsam mit stomach im Sinne von "the part of the body containing the stomach, the belly, abdomen" (OED 2017) auf zunächst menschliche Fortpflanzung, die durch das später auftauchende Wort flower auch um die Pflanzenwelt erweitert wird.




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Der nächste Satz stellt im Kontrast dazu keine Differenz sondern ein vermeintlich identitäres Verhältnis aus, das durch Reim und Alliteration bekräftigt wird: the least thing is lightening. Least thing und lightening sollen hierbei als eines gelten, doch sie sind einander lediglich ähnlich. Könnte hier eine Art Verwandlung stattfinden? Lightening lässt in diesem Satz viele Deutungen zu. Es handelt sich um die Present-Participle-Form des Verbs 'to lighten'. Diese trägt erstens die Bedeutung "to reduce or remove the load of, to relieve of a burden" und bedeutet zweitens "to make bright or luminous, to light up, brighten" (OED 2017). Die erste könnte wiederum mit einer Geburt in Verbindung gebracht werden, im Sinne einer Entbindung von einem anderen Körper. Fangen hier die Wörter selbst an, leicht zu werden? So leicht, dass sie zu schweben beginnen, sich nicht mehr festhalten, feststellen lassen? Die zweite Möglichkeit ist mit dem oben benannten Feld von visueller Wahrnehmung, mit Licht und Sehen, verbunden. Durch Aussprache und Schreibung befindet sich lightening jedoch auch in unmittelbarer Nachbarschaft zum Nomen lightning für "Blitz". Kann der Blitz in seiner sich entladenden und erhellenden Form vielleicht die beiden angesprochenen Bedeutungen von 'to lighten' in sich tragen? Etwas blitzt auf an dieser Stelle, beinahe in der Mitte des Gedichts, und beleuchtet für einen kurzen Augenblick die Umgebung, lässt vielleicht etwas Bewegliches wahrnehmbar werden.

Der darauffolgende Satz the least thing means a little flower and a big delay kommt durch das Wort means einer Definition nahe, bei der wiederum zwei Teile zueinander in Beziehung gesetzt werden, diesmal in die eines Äquivalenzverhältnisses. Er setzt dazu an, die Bedeutung von the least thing, womöglich einem leise singenden, zu klären, doch wie ist 'mean' (Webster's 1986) aufzufassen? Verbal wird es gebraucht für "to intend, to signify, to express, to have significance", als Adjektiv mit den Bedeutungen "common, low, humble, ordinary, inferior" (Webster's 1986). 'Common'21 wiederum als "belonging equally to more than one" (OED 2017) betont dasjenige, was zu mehr als einem zugehört, bringt etwas Gemeinsames zur Sprache. In eine ähnliche Richtung geht das Nomen 'mean': "something intervening, intermediate, a middle point" (Webster's 1986). Darin zeigt sich means als etwas Mittleres, das zumindest zwei Entitäten zugehört, diese zwar nicht vermittelt, aber etwas ihnen Gemeinsames zum Vorschein bringt. Means hat sein Echo in der letzten Gedichtzeile, in der me and all steht. Es trägt demgemäß ein me mit sich. And wird in dieser letzten Zeile zu einer Mitte zwischen me und all. In flower ("a complex organ in phenogamous plants, comprising a group of reproductive organs" [OED 2017]) wird vorderhand das Pflanzliche, Fortpflanzliche ersichtlich. Doch gibt es in flower auch einen 'flow'? Ist hier ein Wort im Fluss, in Bewegung? Delay deutet hingegen in eine andere Richtung, wenn es so viel wie "deferring of an action, loitering, waiting, lingering" (OED 2017) heißen kann. Es zeigt ein Zögern an, ein Warten, ein Verweilen. Bei diesem Wort verweilend, lässt sich vielleicht hören, wie es sich bei mehrmaligem Sagen in seine Silben trennt 'delaydelaydelay' und eine 'lady' formt, 'a big lady', die nach einem big delay aus diesem entspringt.




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Auch der letzte Teil des ersten Satzes a big delay that makes more nurses than little women really little women kann in den thematischen Feldern von Geburt, Körper und Geschlecht gesehen werden, indem die vorher benannte große Verzögerung mehr nurses bringt als little women really little women. In seiner verbalen Funktion kann 'to nurse' die Bedeutungen "to rear or bring up, to nurture" tragen, als Nomen nurse bedeutet es "a woman employed or trained to take charge of a young child or children" (OED 2017). Alle kleinen Wörter, die in diesem Text little oder gar least sind, könnten derart großgezogen werden. Erstaunlich bleibt in Verbindung damit allerdings die Wendung makes more nurses, sind doch nurses nichts, was landläufig 'gemacht' wird. Im Großziehen der kleinen Wörter scheint auch ihr Lautwerden vernehmbar, ihr Lärmen, ihr Leben: makes more 'noises'. Die darauffolgende Phrase bildet ein lautliches Kontinuum, das eine Differenzierung von little women und really little women zumindest als bemerkenswert erscheinen lässt. Little ist dabei nicht nur als "of limited physical size" (OED 2017) zu verstehen, sondern über 'lit', die Past-Participle-Form von 'to light', die es mit sich trägt, als "lighted, illumined" (OED 2017).

Der nächste Satz So clean is a light that nearly all of it shows pearls and little ways wird durch die Wiederholung früherer Elemente wie light, shows und little mit dem ersten Satz verbunden. Pearls bildet, wie erwähnt, einen Reim auf curls und reiht sich damit in eine Kette mit dem ungenannten 'girls'. In pearls lässt sich das darin enthaltene 'ear' lediglich sehen, wohingegen es im kurz zuvor stehenden nearly sichtbar und hörbar ist.

Aus mehreren Gründen wirkt der letzte Satz A large hat is tall and me and all custard whole wie eine Conclusio zu den beiden vorangegangenen. Er weist in seiner Bündigkeit eine starke rhythmische Konturierung auf und lässt eine Verbindung zwischen den Reimwörtern tall – all und zwischen den lautlich ähnlichen Wörtern all – whole erkennen. An das in diesem Text singulär auftauchende Personalpronomen me schließt sich die Frage nach der Sprecherposition an. Versteckt erscheint es bereits zuvor im Wort means, das lautlich mit der hier verwendeten Kombination me and korrespondiert. Unter diesem Blickwinkel ließe sich eine Untersuchung verdeckter Personalpronomina durchführen. Diese ergäbe für den letzten Satz beispielsweise 'us' im kurz darauffolgenden custard ("a dish made by baking a mixture of beaten eggs (or egg yolks), milk (or cream), and other sweet (or savoury) ingredients" [OED 2017]).




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5 Interessen und nahegelegenheiten: Zwischensprache der Übertragung

Im Zusammenhang mit dem, was ein kubistisches Bild übersetzt, bemerkt Köhler:

Das herausstellen und verkanten unterschiedlicher blickwinkel als flächen auf einer fläche, die so vervielfacht, als bildraum zu einer vielzahl räume entfaltet, verflacht wird (difference is spreading), schafft bewegtheit, übersetzt bewegungen des malers, bewegung im/in raum, die dem bild eine dimension zufügt: zeit. Übersetzt bewegung als rhythmus: dem objekt steht kein objektiv gegenüber, kein mechanischer takt, für den allein zählbarkeit zählt; ein subjekt, bewegt und teil der bildwelt, schafft variationen eines sujets […].[Hervorh. i. O.]" (Köhler 2004: 141)

Bei diesem einen subjekt sollte vielleicht von einer "mehrzahl" gesprochen werden, wenn "die antwortende bewegung des betrachters mit in betracht" (ebd.) gezogen wird. Übertragen auf Köhlers Übertragung ist auch bei dieser von einer 'antwortenden bewegung' auszugehen: Das Wort des Originals erweckt durch sein dialogisches Wesen die Antwort der Übersetzung. Die folgende Betrachtung möchte wiederum in einigen Beobachtungen zeigen, wie Köhlers Übertragung einen solchen Dialog mit dem Original darstellt. Darüber hinaus zeigt sich in dieser Übertragung selbst auch eine Reflexion über Übersetzung.

BUNTE HÜTE.

Bunte hüte sind unabdingbar um zu zeigen dass locken getragen werden durch hinzugefügte freiräume, die machen den unterschied zwischen bloßem gestrichel und breiten interessen, mindestens muss was blitzen, das mindestens meint ein kleines blümchen und einen ziemlichen verzug ein ziemlicher verzug der mehr kindermädchen bringt als fräulein richtig kleine fraun. So rein ist ein licht dass es fast allerseits perlen zeigt und nahegelegenheiten. Ein voluminöser hut ist hoch und meins und alle eicreme eins. (Stein 2004: 37)

Der Titel BUNTE HÜTE legt den Gedanken nahe, dass 'bunt' etwas ist, das nur durch Zusammenstellung mehrerer einzelner Farben ermöglicht wird. So klingt etwa in 'bunt' nicht nur das Wort 'Bund', Verbindung von mehreren einzelnen Einheiten, an, sondern darin wird auch die Konjunktion 'und' hörbar. Stehen hier auf der bildlichen Ebene mehrere Hüte zusammen, so sind es auf textueller auch Original und Übertragung, die zusammenkommen.

Bereits im ersten Satz zeigt sich, dass der Dialog mit dem Original auf der syntaktischen und der klanglichen Ebene geführt wird: Die erste Sequenz Bunte hüte sind unabdingbar bildet durch das Alternieren von Vokalen u – e – ü – e – i – u – a – i – a eine Abfolge, die auf den Rhythmus von Colored hats are necessary antwortet. Necessary als "indispensable, vital, essential, requisit" (OED 2017) wurde mit unabdingbar übertragen. Damit verlagert sich der Fokus von der (Lebens-)Notwendigkeit und dem Wesentlichen zum Ding, das in diesem Stillleben porträtiert wird. Unabdingbar scheint auch auf das in der nächsten Zeile folgende getragen werden der Hüte zu deuten, lässt sich daraus doch auch das Auf- und vor allem das Absetzen eines Hutes hören. Im Original ist thing an dieser Stelle also nicht vorhanden. Anderswo im Gedicht liegt der umgekehrte Fall vor: Im Original heißt es the least thing, wo es in der Übertragung mindestens heißt. Auf diese Art korrespondieren die beiden Stellen miteinander. Mit getragen werden nimmt die Übertragung überdies auch sowohl 'wear' als auch das sich darin hörbare 'bear' von in worn auf.




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By an addition of blank spaces lautet in der Übertragung durch hinzugefügte freiräume. Die Kette, die im Original von [æ]- und [e]-Lauten gebildet wird, bildet sich in der Übertragung durch u- und ü- und ei-Laute, die am Beginn durch Bunte hüte bereits angelegt und in um zu zeigen erweitert wurde. Speziell ab der Mitte des Gedichts ist mit einer großen Intensität von ei-Lauten zu rechnen, auf die noch zurückzukommen sein wird. Hervorzuheben ist auch das in diesen beiden ersten Zeilen sich zeigende Aufkommen des z-Lautes, der mit einer ziehenden Bewegung in Verbindung stehen dürfte, die auch noch im Verlauf des Gedichts eine große Rolle spielt. Der 'Zug' wird hörbar in hinzugefügte, etwas zieht in diesem Gedicht, "beschreibt Ziehungen, die die Beziehungen der Sprachen zueinander vorläufig wie – -greifend darstellen" (Rainer 2015: XI). In Zusammenhang damit lässt sich das gefügte des hinzugefügten betrachten. Eine Fuge wird sichtbar, "die enge verbindung zweier aneinander passender theile, die stelle wo diese theile eng verbunden sind" (Grimm 1838–1971: IV, 378). Beschreibt das Wort hinzugefügte eben diese Stelle, an der zwei aneinander passende, zwei zueinander gehörende Sprachen eng verbunden sind?

Freiräume für blank spaces kann im Lichte jener Überlegung betrachtet werden, bei der in der kubistischen Malerei eine Abwendung vom Inhalt stattfand: "Was also zählt, für die kubisten nach Cézanne zählt, ist nicht der inhalt, ist das gewicht, das dem raum gegeben wird, der nicht länger eine gleichförmige leere zwischen den dingen bedeutet. Leer ist das zeichen; seine umgebung erst gibt ihm bedeutung […]." (Köhler 2004: 141)

Der zweite Teil des ersten Satzes die machen den unterschied zwischen bloßem gestrichel und breiten interessen beginnt ebenso wie das Original mit einem deiktischen Ausdruck, nämlich die, das den Klang von this aufnimmt, die männliche Markierung von his allerdings wendet: die als ambiger Artikel, der zunächst für ein Femininum Singular im Nominativ und sodann für sämtliche Genera im Plural im Nominativ stehen kann.22 Damit wären Überlegungen angedeutet, die um Aspekte der syntaktischen Differenz und der Geschlechterdifferenz kreisen. Die lautliche Ähnlichkeit von this makes the und die machen den ist sehr deutlich. Single lines, das zumindest Spuren einer paradoxen Struktur aufweist (single als "unaccompanied or unsupported by others, alone, solitary" [OED 2017] und lines als Pluralform eines Nomens oder als Verb), lautet in der Übertragung bloßes gestrichel. Bloßes umfasst dabei sowohl die eben genannte Bedeutung von single sowie eine Nebenbedeutung, "simple, plain" (OED 2017), die sich im Spektrum von 'schlicht, rein' befindet. Mit gestrichel wird jene Mehrdeutigkeit übertragen, welche die Wortklasse von lines betrifft. Ist gestrichel lediglich ein Phonem bzw. Graphem vom Partizip 'gestrichen' entfernt, so nutzt es zugleich ein nicht mehr produktives Wortbildungsparadigma für Kollektiva (so beispielsweise in 'Gebüsch' oder 'Gebirge'), das in diesem Fall eine leicht negative Konnotation trägt. Überdies ist zu bemerken, dass sich sowohl in lines als auch in gestrichel ein Subjekt verbirgt (I/ich), das im Englischen mit 'eye' homophon ist, womit ein Verhältnis von Gegenstand und Betrachter spurenhaft erwähnt wird.23 Vielleicht auch deswegen ist der ei-Laut ab der zweiten Hälfte des Gedichts so präsent.




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Die Übertragung von broad stomachs zu breiten interessen ist sehr auffällig. Stomach (gr. "originally the throat, gullet, hence the mouth or orifice of any organ, especially of he stomach") bezeichnet zunächst "the internal pouch or cavity in which food is digested" (OED 2017) und wäre damit im Deutschen in die Nähe von 'Magen' und 'Bauch', aber auch 'Hunger' und 'Appetit' zu rücken. 'Interesse' setzt sich aus der lat. Präposition 'inter' ("zwischen, unter, in(mitten)" [Stowasser 2006]) und dem lat. Verb 'esse' ("da sein, vorhanden sein, leben, existieren" [Stowasser 2006]) zusammen. Die oben angedeutete Lesart von stomach als Leben tragender Bauch wäre durch dieses 'inmitten am Leben sein' aufgenommen. Darüber hinaus ist '-essen' homophon mit dem deutschen Verb 'essen', wodurch das Wort auch in einen Kontext der Nahrungsaufnahme gesetzt wird. Über die ursprüngliche Bedeutung von stomach als einer Öffnung, die mit interessen übertragen wird, lässt sich an dieser Stelle auch erkennen, wie eine Übersetzungsbewegung reflektiert wird. So schreibt Köhler in ihrem Essay über Steins Interesse bei Tender Buttons: "Nicht der zugriff auf ein verborgenes, ein enthüllen, ausweiten von wissen auf unbewusstes, ein verfügbarmachen, ist ihr interesse – eher wiederum wörtliches dazwischenkommen (inter esse), eine bewusste gegenbewegung, eine inverse, die die dinge dem zugriff entzieht, nahrung komplett rezeptfrei bereitet, räume aller gewohnheit entkleidet [Hervorh. M.K.]." (Köhler 2004: 148) Sehr deutlich wird 'inter esse' hierbei als ein wörtliches dazwischenkommen aufgefasst, das auch das Interesse der Übertragung sein könnte, von der Köhlers Essay unter anderem handelt. Mit der Übertragung von stomach in interessen wird das Zwischen zu jenem "Ort, an dem (die) Übersetzung lebt" (Rainer 2015: 58). Dies bemerkt Rainer im Rekurs auf ein Zitat der Dichterin und Übersetzerin Rosmarie Waldrop: "[Translation's] ultimate task may be to bear witness to the essentially irreducible strangeness and distance between languages – but its immediate task is exactly to explore this space." (Waldrop 2002: 22, zit. nach Rainer 2015: 58) Damit könnte "die Bewegung der Übersetzung der Erkundung einer unzuvor gesagten Sprache, eines unbesetzbaren Flecks auf der Sprachenlandkarte" (ebd.) entsprechen und als solche begreifbar werden.

Auch in der weiteren Übertragung lässt sich eine solche Erkundung beobachten. Der nächste Teil des ersten Satzes the least thing is lightening, bei dem, wie oben dargelegt, lightening in unterschiedliche Richtungen deutet, lautet in der Übertragung mindestens muss was blitzen. Etwas blitzt also auch in der Übertragung, eine wird Bewegung sichtbar. Haben die Wörter blitzen und blümchen, die durch mindestens verbunden werden, etwas gemeinsam außer ihre beiden Anfangsbuchstaben und -laute? Ist der Blitz ein starkes Licht und wird in blümchen ein schwaches hörbar, ein 'lümchen' (lat. lumen – Licht)?




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Im folgenden Satz wird die innersprachliche Differenz thematisch: das mindestens meint ein kleines blümchen und einen ziemlichen verzug. Hierbei wird means mit meint übertragen und kommt damit einer Erläuterung von the least thing gleich, das sogar mit Artikel (das mindestens) übertragen wird, womit explizit auf den Wortstatus des Wortes hingewiesen wird. Auch nicht zu übersehen ist, dass ein Dialog von means und meint über Pronomina aufgenommen wird. So steckt in means das Personalpronomen me und in meint das Possessivpronomen 'mein'. Die lautliche Kette, die von least thing means gebildet wird, wird durch die Alliteration mindestens meint und die Häufung von [aɪ̯]-Lauten in meint ein kleines aufgenommen. Was passiert in der zweiten Hälfte des Gedichts durch die vielen [aɪ̯]-Laute? Kündigen sie das 'Ei' an, das in der letzten Zeile zur Sprache kommt? Und was ist in dem 'Ei'? Fängt ein Wort im 'Ei' zu wachsen an, oder um das [aɪ̯] herum: 'mein, ein, klein, rein, allerseits, zeigt'?

Inmitten der Doppelungen, die Köhler stets etwas variiert, also mehr insistiert als wiederholt (mindestens / das mindestens hinsichtlich der Wortklasse und einen ziemlichen verzug / ein ziemlicher verzug in Bezug auf den Kasus), findet sich auch eine doppelte Verkleinerung: little flower wird als kleines blümchen übersetzt, wodurch sowohl die Diminuierung durch Adjektiv als auch durch Suffix – eine Möglichkeit, die das Englische nicht bietet – ausgeführt wird.

Der erste Satz endet mit: einen ziemlichen verzug ein ziemlicher verzug der mehr kindermädchen bringt als fräulein richtig kleine fraun. Das Wort delay wird herbei mit verzug übertragen. Beide Wörter folgen mit Präfix und Stamm einem ähnlichen Wortbildungsparadigma und haben nicht nur die gleiche Silbenanzahl, sondern auch die gleiche Betonung. Wo im Original etwas 'liegt', 'zieht' es in der Übertragung: 'verzugverzugverzug'. 'Fährt' sogar ein 'Zug' (mit Verzögerung, delay)? Das Ziehen wird auch in ziemlich hörbar, in mehrmaligem Sagen ('ziemlichziemlichziemlich') sogar als 'zieh mich'. Das Wort 'nurse' wurde mit kindermädchen übertragen. Das Bedeutungsfeld von 'nurse' hätte womöglich auch 'Schwester, Krankenschwester' oder Ähnliches zugelassen, doch in kindermädchen lässt sich nicht nur das im Original ungenannte 'girl' erkennen. Durch das in kindermädchen enthaltene Wort 'Kind' fängt 'nurse' neu an. Die Frage stellt sich, in welche Richtung das erstaunliche Wort Kindermädchen deutet. Ähnlich verhält es sich mit dem darauffolgenden fräulein richtig kleine fraun. Gibt es eine Verwandtschaft zwischen den Wörter freiräume, fräulein und fraun? Gibt es hier keine dichten Wortgrenzen mehr, werden diese vielmehr geöffnet, lassen Verwandlung zu? Haben die hinzugefügten freiräume etwas zu tun mit dem, was fräulein oder fraun sind? Wird in fraun ein Raum hörbar? Bildet fraun einen Gegensatz zum kurz darauffolgenden rein, gedacht nicht nur in seiner Reinheit, sondern auch in einer Herein- und Hineinbewegung?




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Der zweite Satz So rein ist ein licht dass es fast allerseits perlen zeigt und nahegelegenheiten weist wiederum eine kontinuierliche Verwendung von [aɪ̯]-Lauten auf, die möglicherweise den Dialog mit den Assonanzen clean – nearly und it – little im Original aufnimmt. Besonders bemerkenswert ist an diesem Satz die Übertragung von little ways in nahegelegenheiten. Diese wird ermöglicht durch die Mehrdeutigkeit von 'way' (Webster's 1986), dessen Bedeutungsradius sehr groß ist und von "road, lane, path" im Sinne einer räumlichen Ausdehnung, über "a (nonspatial) course (of action), possibility" bis hin zu 'room to advance, pass or progress (opportunity)" (Webster's 1986) reicht. Die Zusammenfügung nahegelegenheiten inkludiert dabei den ersten ('nahegelegen') und den dritten Bedeutungszusammenhang ('gelegenheiten'). Doch wiederum könnte hierin eine Reflexion der Übersetzungsbewegung erkannt werden. Aufgrund ihrer Verwandtschaft in dem, was sie sagen wollen, können die Sprachen als naheliegende betrachtet werden. 'Nahegelegenheit', mit dem das vielschichtige Wort way übertragen wurde, dürfte eben diese Verwandtschaft der Sprachen zum Ausdruck bringen. Die Übersetzung bietet demgemäß die Gelegenheit, eine solche Verwandtschaft darzustellen.

Im letzten Satz Ein voluminöser hut ist hoch und meins und alle eicreme eins wird Vorangegangenes wie in einer erstaunlichen Schlussfolgerung wiederaufgenommen. Im Kontrast zu big, das mit ziemlich übertragen wurde, wird large hier auffälligerweise mit 'voluminös' übertragen, wodurch ein dreidimensionaler Raum innerhalb dieses Stilllebens eröffnet wird. Doch darüber hinaus wird in diesem Wort auch die Verbindung zur Frage nach Licht in diesem Gedicht sichtbar. Es weist eine Verbindung zu blitz, blümchen und licht auf, denn auch das Wort voluminöser wird durch 'lumen' erhellt. Das englische Wort 'volume' bezeichnet jedoch auch die Lautstärke, womit der Bereich des Hörens miteinbezogen wird.

Das oben bereits angedeutete Auftauchen des Personalpronomens me, das, anders als 'I', den Status eines Objekts hat, ist ebenso im Kontext des sprachlichen Stilllebens zu sehen. Durch das darauffolgende and wurde es in Abstimmung auf das vorangegangene means mit meins übertragen. Hierbei handelt es sich also weder um ein Subjekt noch um ein Objekt, doch Person und Zahl dieses Possessivpronomens stimmen mit jenen von me überein. Das letzte Wort des Textes 'whole' (Webster's 1986), in dem ein Gegenwort zu difference erblickt werden kann, ist vieldeutig: "unhurt, healthy", "having all its proper parts or components", "constituting the total sum or an undivided unit: unbroken, uncut, concentrated" und "complete, total" (Webster's 1986). Merklich wird hierbei der Fokus von der Ganzheit, der Summe mehrerer Einheiten, die in whole angelegt ist, auf das Einssein verlagert. Darin, im ständigen Hinauszögern einer vollendet gedachten Ganzheit, dürfte jener Gedanke sichtbar werden, den Benjamin verstand als das unendliche Ergänzen der Sprachen in ihrer Art des Meinens zum Gemeinten.




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6 Unendliche Verwandlung

"Verwandlung weiss, anders als das änderung will, ihr ende nicht" (Köhler 2004: 135). Sie weiß auch "nichts von einem zu erreichenden ziel, einem feststellbaren ergebnis" (ebd.), schreibt Barbara Köhler wohl auch in Hinblick auf ihre Übertragung von Gertrude Steins Tender Buttons, bei der sie die Wörter vor ihrer Feststellung und Festlegung behütet und den Raum für sprachliche Bewegung offenhält. Über das Konzept des poetischen Dialogs zwischen Original und Übersetzung hat sich die vorliegende Arbeit auf die Suche gemacht nach Verbindungslinien zwischen Köhlers Übertragung und Walter Benjamins Übersetzungsdenken, das nicht nur als Theorie, sondern auch auf eine konkrete Praxis des Übertragens hin gelesen werden kann. In einer überhistorisch gedachten Verwandtschaft der Sprachen ergänzt sich in diesen die Art des Meinens zum Gemeinten, das als Ende, als Ziel und feststellbares Ergebnis denkbar wird. In dieser Ergänzung liegt allerdings auch eine unendliche Bewegung, die eine vollendete Ganzheit stets auf ein gedachtes Später verschiebt. In der Betrachtung solcher Verwandtschaft der Sprachen konnte die Frage gestellt werden nach ihren (Un)Ähnlichkeiten, ihrer Fremdheit und Andersartigkeit. Sprechen, das immer schon dialogisch ist, stellt die Beziehung des Selben zum Anderen her. Das Gedicht, das seinem Wesen nach dialogisch ist, erweckt in diesem Sinn die "antwortende bewegung" (Köhler 2004: 141) der Übersetzerin. Diese zu zeigen hat sich die vorliegende Arbeit zur Aufgabe gemacht.


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Anmerkungen

1 Wenn sie sich denn lesen lassen. Mit dem in der Literaturwissenschaft verbreiteten und beharrlichen Diktum von "Stein's unreadability", und wie Steins Werk landläufigen Lesegewohnheiten zuwiderläuft, beschäftigt sich Natalia Cecire (2015).

2 Der Titel der ersten, ebenfalls im Paralleldruck erschienenen Übersetzung der Tender Buttons ins Deutsche von Marie-Anne Stiebel aus dem Jahr 1979 lautet Zarte Knöpfe (Stein 1979). Ist dieser Titel plausibel aufgrund der Deutung von tender als Adjektiv, so setzt sich Zarte knöpft deutlich davon ab, indem die Wortklasse von buttons als unsicher erkannt wird. Das finale -s könnte entweder als Plural des Nomens button oder als Markierung der dritten Person Singular des Verbs to button gelesen werden. In ihrem der Übertragung nachgestellten Essay bemerkt Barbara Köhler: "Manche substantive verben, sobald auf ihre im deutschen so übliche wie unhörbare großschreibung verzichtet wird […]." (Köhler 2004: 132) Im Englischen, wo die satzinterne Markierung von Nomen durch Großschreibung nicht existiert, ist diese mehrdeutige Struktur schon vorausgesetzt. Auf den erotischen Subtext des Titels und des Textes selbst wurde häufig aufmerksam gemacht. Buttons wäre in dieser Lesart eine Metapher für Brustwarzen (vgl. etwa Ebert 2000: 6f.). – Daniela Seels homophone Teilübertragung ROST PFIFF des Stücks ROASTBEEF aus dem Tender Buttons-Band ist das bis dato jüngste Projekt einer Übertragung ins Deutsche (Seel 2015: 43–54). Dass Steins Werk seit 2017 gemeinfrei ist, könnte womöglich den Anlass für weitere Übertragungen bieten.




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3 Das erste Stück von Tender Buttons mit der Überschrift A Carafe, that is a Blind Glass, das oft als eine Art Lektüreanweisung für das restliche Buch gelesen wird, endet mit dem vielzitierten Satz "The difference is spreading." (Stein 2004: 8), der von Barbara Köhler mit zwei differierenden Sätzen übertragen wird: "Entfalten ist der unterschied, differenz sprüht." (Stein 2004: 9).

4 Vgl. etwa Christoph Bode in seiner grundlegenden Studie zu diesem Thema: "Schwerverständlichkeit und Mehrdeutigkeit – es dürfte schwerfallen, Eigenschaften moderner Literatur zu nennen, über die größere Einigkeit zwischen Publikum, Kritik und Wissenschaft besteht; ja die Assoziation dieser Eigenschaften mit dem Begriff der Moderne ist bisweilen so eng, daß verwickelte, komplizierte Vieldeutigkeit nicht bloß als eine charakteristische Qualität moderner Texte, sondern geradezu als Ausweis, als Kriterium für Modernität aufgefasst wird […] [Hervorh. i. O.]." (Bode 1988: 1).

5 Mit "innersprachliche Differenz" ist hier ein sehr umfangreicher Begriff angesprochen, der über die verschiedenen Ausformungen von ambigem Sprachgebrauch hinausgeht. Inkludiert werden hier beispielsweise auch Wortspiele, Homophonie, Paronomasien, Metonymien, Ellipsen und Anagramme.

6 Brigitte Handwerker bemerkt dazu: "Grob betrachtet unterliegen die Entscheidungen des Übersetzers als Textproduzenten zunächst einmal der Notwendigkeit, dass bei Erkennen einer Mehrdeutigkeit zu prüfen ist, ob die im Kontext plausibelste Lesart als Grundlage der Übersetzung gewählt werden darf bzw. ein nicht-mehrdeutiger ZS-Text [Zielsprachentext, M.K.] vorzuziehen ist oder ob die Lesartenvielfalt einer Invarianzforderung folgend erhalten werden muss." (Handwerker 2004: 366).

7 Dass das gesamte Œuvre von Barbara Köhler unter dem Aspekt des Dialogs betrachtet werden kann und soll, betonten bereits die HerausgeberInnen in der Einleitung des ersten Essay-Bandes zu Köhlers Werk mit dem bezeichnenden Titel Entgegenkommen. Dialogues with Barbara Köhler. Hier heißt es: "It [Köhler's work, M.K.] relies namely to a large degree on dialogue with others and with their work, is less a projection of the ego than the product of the relationships of the moment – though these must, of course, be acknowledged to include the relationships that lone thought engenders in the interior imagined dialogue with its environment, reading matters, forbears, and with language itself. […] Realtionship and its conceptualisation, dialogue, communication, mediation – the dynamic process that our title Entgegenkommen implies: these are all themes taken up in the various contributions to this […] collection […] [Hervorh. i. O.]." (Paul/Schmitz 2000: 4f.).

8 Stellennachweise von Walter Benjamins Schriften lediglich mit Band- und Seitenangabe verweisen hier und im Folgenden auf die Ausgabe der Gesammelten Schriften von Benjamin. Genauere Angaben finden sich im Literaturverzeichnis.

9 Eine solche Lektüre unternimmt etwa Juliane Schöneich (2012), indem sie nach den Kriterien mehrerer Übersetzungstheorien vier Verfahren von Köhler bei ihrer Übertragung der Tender Buttons ausfindig macht und diese jeweils mit Beispielen versieht: Reduktion, Recycling, Reproduktion und poetische Kreation. Dieser Lektüre könnte womöglich das entgehen, worauf es der Übertragung von Köhler ankommt: "Das stimmige eines textes im wortsinn: der stimme, nicht im immer schon übertragenen, nicht in der bedeutung, sondern in der bewegung suchen. Und die übertragen: bewegung übertragen." (Köhler 2004: 138f.).




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10 Michael Schreiber arbeitet zudem heraus, dass die Dichotomie von wörtlicher und freier Übersetzung in verschiedenen, sich z. T. überlappenden Bedeutungen auftritt, so z.B. als Unterscheidung zwischen form- und inhaltsbetonter Übersetzung, als Unterscheidung innerhalb der denotativ äquivalenten Übersetzung, als Wertung im Sinne von "zu frei" bzw. "zu wörtlich" oder als Kriterium, das zur Unterscheidung von Übersetzung und Bearbeitung führt (vgl. Schreiber 1993: 79–81).

11 Bei Benjamin ist gerade diese Trennung von theoretischer und praktischer Arbeit mit Übersetzung nicht möglich, ist doch sein Übersetzer-Aufsatz selbst ein Sprechen in Übersetzung. (Vgl. Rainer 2015: XIV: "Eine Differenz zwischen Übersetzung und Reflexion über Übersetzung, Subjekt und Objekt, stellt sich in Benjamins Schreiben bei eingehender Lektüre als unhaltbar heraus. Die bleibende Schwierigkeit der Aufgabe des Übersetzers scheint daher beträchtlich dem Umstand geschuldet, dass dieses Vorwort kaum über die Übersetzung – als Gegenstand –, über Sprachen in einer partikularen Sprache spricht, eher in Übersetzung spricht [Hervorh. i. O.].").

12 Eine genauere Betrachtung des Begriffs Intention und wie dieser mit der Art des Meinens verbunden ist, muss wohl an dieser Stelle ausbleiben. Intention heißt wohl in diesem Zusammenhang nicht Absicht, die mit dem Wollen in Verbindung gebracht wird, sondern dürfte mit Peter Szondis Verwendung eher zu verstehen sein als "Gerichtetsein des Bewußtseins auf die Sprache, d. h. als die allem Sprechen vorausliegende Sprachkonzeption; als die Art des Meinens, welche die Sprachverwendung prägt" (Szondi 1978: 325) – eine Auffassung, die zurückgeht auf die ursprüngliche Bedeutung von intentio, der Metapher vom Spannen eines Bogens und Richten eines Pfeils (vgl. ebd.). Szondis Auffassung des Intentionsbegriffs lässt phänomenologische Züge erkennen. Für diesen Hinweis sei Elisabeth Sedlak herzlich gedankt.

13 Auf die Variationen dieses Satzes ("A rose is a rose is a rose is a rose" und "A rose is a rose is a rose") sowie ihr unterschiedliches Auftauchen geht Köhler näher ein (vgl. Köhler 2004: 131)

14 Zu Rose vgl. auch Haselstein 2012 (Mosse-Lecture am 21.06.2012 an der Humboldt-Universität zu Berlin). Hier heißt es: "Der Satz nimmt auf die Figur eines kleinen Mädchens namens Rose Bezug und stiftet eine Äquivalenz zwischen dem Eigennamen Rose und der literalen wie metaphorischen Bedeutung des Wortes rose. Die Wiederholung führt zu einer Enthierarchisierung und Pluralisierung der Bedeutungen. Der auf ein Individuum referierende Eigenname wird zu einem Wort, dessen Bedeutung in dem selbstreferentiellen, sich selbst zitierenden Satz zunehmend unklar wird. Nur die Sequenz der Signifikanten bleibt bestehen und erzeugt Gemurmel ohne Sinn. Die noch bekanntere Variante des Satzes 'A rose is a rose is a rose is a rose' erlaubt die Schließung des Satzes zum Kreis, der Anfang und Ende in eins fallen lässt und die Wiederholung ad infinitum perpetuiert. Die Prädikation auf ein Subjekt entfällt, die Markierung des Eigennamens in der Schrift und die Grammatik des Satzes fallen als Ordnungssysteme von vornherein weitgehend aus und wiederum tritt die phonetische Materialität hervor. In der Artikulation der sich immerzu wiederholenden Lautfolge lassen sich nun aber auch andere Segmentierungen als die in der schriftlichen Notation fixierten vernehmen. Sie treiben neue, ungewöhnliche, irreguläre Bedeutungen hervor und brechen die beständig behauptete Identität des Zeichens mit sich selbst auf. So kann eine Rose, womit ja nicht nur eine einzelne Rose, sondern auch die Gattung Rose gemeint sein kann, nicht nur eine Rose, sondern viele Rosen sein: 'A rose is a roses'. Es wird ein Zusammenhang zwischen dem Wort arose als Vergangenheitsform des Verbs arise im Sinne von 'entstehen, auftreten' und is hörbar, im Sinne einer Betonung der unterschlagenen Emergenz alles Seienden: 'Arose is, arose is' [Transkription M.K.]." https://www.youtube.com/watch?v=FSalUHMuK-8 [Zugriff am 08.02.2017].

15 Die Form des Kreises mit dem darauf liegenden Punkt lässt zudem an jenen Zusammenhang von Original, Übersetzung und Sinn denken, den Benjamin folgendermaßen ausführt: "Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkte berührt und wie ihr wohl diese Berührung, nicht aber der Punkt, das Gesetz vorschreibt, nach dem sie weiter ins Unendliche ihre gerade Bahn zieht, so berührt die Übersetzung flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkte des Sinnes das Original, um nach dem Gesetze der Treue in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen." (Benjamin 1972: IV, 19f.) – Inwiefern Benjamins und Köhlers Bilder miteinander verwandt sind, wäre einer Nachforschung wert.




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16 Für diesen Hinweis sei Sonja Martinelli herzlich gedankt. Besonders hinsichtlich der Bedeutung von insisto als bestehen ließe sich ein weiterer großer Bezug zu Walter Benjamins Übersetzungsdenken knüpfen, vgl. das Thema Beständigkeit in: Rainer 2015: 62–68. Beständigkeit, constancy rückführbar auf con-stare, als "Zusammenkommen von Original und Übersetzung" beschreibt dabei "eine Bewegung dem oder der Anderen entgegen" (ebd.: XV).

17 Speziell im Zusammenhang mit dem Zuhören und Hören bei Gertrude Steins Porträts ("[…] but existing as a human being, that is being listening and hearing is never repetition." [Stein 1957: 179]) wäre eine genaue Betrachtung von Daniela Seels ROST PFIFF, einer homophonen Teilübertragung von ROASTBEEF aus dem Band Tender Buttons, besonders interessant (Seel 2015: 43–54). Dies muss jedoch leider an anderer Stelle verhandelt werden.

18 Im Zusatz, der dem Text nachgestellt ist, heißt es: "Die Gabe, Ähnlichkeiten zu sehn, die wir besitzen, ist nichts als nur ein schwaches Rudiment des ehemals gewaltigen Zwanges, ähnlich zu werden und sich zu verhalten. Und das verschollene Vermögen, ähnlich zu werden, reichte weit hinaus über die schmale Merkwelt, in der wir noch Ähnlichkeit zu sehn imstande sind. Was der Gestirnstand vor Jahrtausenden im Augenblicke des Geborenwerdens in einem Menschendasein wirkte, wob sich auf Grund der Ähnlichkeit hinein." (Benjamin 1977: II, 210).

19 Für einen zu aktualisierenden Überblick über derartige Bezugnahmen auf Tender Buttons und verwandte Texte von Gertrude Stein vgl. etwa die Zusammenstellung von Kaufmann 1989: 1f. Hinzuzufügen wären dieser z.B. folgende Texte: Haselstein 2002; Haselstein 2007 und Hilder 2005.

20 Eine Rückbindung an Steins Biographie soll diese Dechiffrierungsversuche hinsichtlich körperlicher oder sexueller Anspielungen stützen: Haselstein macht darauf aufmerksam, dass der Name von Steins Lebensgefährtin Alice in maskierter oder verballhornter Form oftmals in Tender Buttons auftaucht, so z.B. Aider, ale-less, alas, a little less, a little lace (vgl. Haselstein 2002: 209).

21 Gertrude Stein soll beim Schreiben von Tender Buttons selbst mit Wörterbüchern, insbesondere mit etymologischen, gearbeitet haben, was eine solche Vorgehensweise in der Analyse als durchaus sinnvoll erscheinen lässt (vgl. Kaufmann 1989: 449–452).

22 Dass solche Überlegungen in Köhlers Werk sehr schwer wiegen, zeigt z.B. das Gedicht mit dem Titel Aufgabe: "Üben Sie / Die Möglichkeit der / Ersten Person Einzahl / Als wäre das nur eine / Frage der Grammatik & / Würde ein Konjunktiv." Zitiert nach Dahlke 2007: 705. Darüber hinaus ist jene Monographie in Betracht zu ziehen, die sich ganz der Geschlechterdifferenz in Köhlers Werk widmet: Bitter (2007).

23 Diese Beobachtung wurde in Analogie zu Haselsteins Analyse vom Originaltext A Carafe, that is Blind Glass angestellt (vgl. Haselstein 2002: 198).