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Norbert Dittmar* (Berlin)



Nachruf Tullio de Mauro
Sprachforschung im Dienste der Gesellschaft

Zum Tod des italienischen Linguisten Tullio de Mauro
(Professor für Allgemeine Sprachwissenschaft an der Sapienza, Rom)



Wie lang ist der Arm einer Generation? Lässt sie sich nach statistischen Durchschnittswerten rund um die 25 Jahre bemessen? Sobald man Generationen als soziale Gruppenaktivitäten begreift, haben sie allerdings ganz unterschiedliche Wirkungsbereiche. Das Wirken des herausragenden italienischen Sprachforschers Tullio de Mauro, der am 4. Januar 2017 im Alter von 84 Jahren gestorben ist, markiert eine umfassende Wirkungsspanne von 50 Jahren, die die italienische, aber auch die europäische Linguistik seit den späten sechziger Jahren geprägt hat. De Mauro war aktiver Gestalter und Wegbereiter einer grenzüberschreitenden Linguistik der Nachkriegszeit: der strukturalistischen Methodik in den sechziger Jahren, der technologischen Revolutionierung der Sprachtheorie durch Noam Chomsky in den siebziger Jahren – der traditionelle Begriff der "glottologia" (Sprachwissenschaft) wurde durch den der modernen (generativen) "Linguistik" ersetzt – und der Entidealisierung und Säkularisierung der Linguistik durch Hinwendung zu den sozialen Erscheinungsformen des alltäglichen, regionalen, nationalen und institutionellen Sprachgebrauchs. Die drei Umbrüche in der konzeptionellen Modellierung von Sprache haben das akademische und gesellschaftspolitische Wirken des Linguisten De Mauro bestimmt.

Geboren 1932 in Torre Annunziata (Neapel) schloss er sein Studium der klassischen Philologie 1956 in Rom ab und unterrichtete in den folgenden Jahren "Glottologia" als Dozent an den Universitäten Napoli, Salerno und Palermo. Ab 1967 wirkte er als Ordentlicher Professor der Linguistica Generale (Allgemeine Sprachwissenschaft) an der Sapienza in Rom. Auch die Philosophie der Sprache (u.a. Wittgenstein, Ordinary Language Philosophy) gehörte zu seinem Repertoire. Die Ehre, den ersten Lehrstuhl in Italien für Allgemeine Linguistik zu bekleiden, führte De Mauro aber weder zu einer Heiss- noch Hassliebe der von Noam Chomsky inspirierten generativen Linguistik und Automatentheorie. Diese berücksichtigte er kritisch in seiner Lehre, gründete aber seine eigene Forschung auf die durch den Genfer Linguisten Ferdinand de Saussure eingeführten Methoden des Strukturalismus.




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Im Rahmen dieses Ansatzes war sein lebenslanges Projekt die lexikalische Semantik, angewandt auf das Italienische. Seine Überlegungen kreuzten sich oft mit denen von Wilhelm von Humboldt. So war er oft Gastdozent an deutschen Universitäten, z.B. an der FU Berlin (Italien-Zentrum).

In der stets kopräsenten Verbindung von historischen, philosophischen und soziologischen Methoden der Sprachbeschreibung sehe ich in ihm einen der großen Gelehrten, die einen so frischen, weil interdisziplinär perspektivierten Blick auf Sprache und Sprachgebrauch werfen. Da ist das Jahrhundertwerk Storia linguistica dell'Italia unita (in 15. Auflage), in der er die soziale Geschichte der Entwicklung des Italienischen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts historiografiert. Was für eine Fundgrube gewachsener, aufgestauter, entblockierter sprachlicher und sozialer Identität der Italienità: dialektale Dichte im Nachkriegsitalien, die hohe Rate an Analphabeten, die massiven und öffentlichen Standardisierungsinitiativen in den Schulen und Institutionen, die Migration innerhalb Italiens (Süditaliener immigrieren nach Turin und Mailand), die sprachpolitischen Maßnahmen der Academia della Crusca (Akademie für italienische Sprache und Dichtung), der de Mauro die Hälfte seines Lebens als Mitgied angehörte. Zu den sprachlichen Wurzeln Italiens geht es in diesem Buch, das die historisch gewachsene umgangssprachliche Vereinigung des Nordens und Südens seit der nationalen Gründung 1861 mit empirischen Argumenten herausarbeitet. So zitieren de Mauro und seine Schüler immer wieder das hohe Lied der Italia Unita: Ein feste Burg ist unsere vereinte Sprache, wenn z.B. die Lega Nord die Einheit der Republik Italien gesellschaftspolitisch in Frage stellte. Zur Sprachgeschichte des republikanischen Italiens (ab 1946) schreibt er 2013 in dem Band Di Linguistica e di Sociolinguistica:

Im Italien zur Zeit der Republik koexistieren Kontinuität und Diskontinuität in erheblichem Ausmaß, hartnäckiges Fortbestehen von tief verwurzelten Eigenschaften früherer Epochen und beispiellose große Innovationen; ihre Koexistenz miteinander markiert die Sprache so wie wir das von den alten Mauerresten, dem architektonischen Formenbestand und den urbanen Strukturen der Städte her kennen. Eine ähnliche Koexistenz findet sich in keinem anderen europäischen Land, nicht einmal in einem anderen Land der Welt, Indien und China ausgenommen". (Übersetzung N.D.)

Nach de Mauro hat das Haus der italienischen Sprache einen Kernbereich ("Herzstück"), in dem in essentia das elementare Bauprinzip, das Regelwerk des (proto)typischen Italienischen zusammengestellt ist, der Motor sozusagen für regionale und soziale Variation. Unter seiner Leitung entsteht 1999 das GRANDIT, Grande dizionario italiano dell'uso in sieben Bänden. Fünf Jahre später kam Il dizionario di ITALIANO compatto heraus, eine einbändige Ausgabe von ca. 1600 Seiten, so etwas wie der französische Petit Robert, ein unentbehrliches Arbeitsbuch für Muttersprachler und Nicht-Muttersprachler, annotiert mit zahlreichen Angaben zum grammatischen Gebrauch.




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Die Kernstruktur des Italienischen ("un système où tout se tient", F. de Saussure) wie auch sein Gebrauch im Alltagsleben kommen hier auf Augenhöhe zusammen. Die Angaben zum modernen Sprachgebrauch stehen dabei auf soliden soziolinguistischen Füßen: sie gehen auf das Korpus LIP (Lessico di frequenza dell'italiano parlato) zurück, eine italienweite empirische Erhebung von de Mauro, Mancini, Vedovelli e Voghera (1993) zum aktuellen Sprachgebrauch in den vier Großsstädten Mailand, Florenz, Rom und Neapel. Dieses Korpus umfasst 500.000 Wörter in Interviews über 57 Stunden. Es wurden zwei unterschiedliche soziale Milieus ("schriftferne" vs. "schriftnahe", wie die Soziolinguisten sagen) bei den Tonbandaufnahmen berücksichtigt.

De Mauro war ein sprachpolitischer Linguist, der sich seiner Verantwortung gegenüber der Gesellschaft bewusst war. Ein Beispiel: Da kam in den siebziger Jahren das Thema der Migration in den Fokus der Diskussion. Die erste Generation der "Gastarbeiter" (sehr viele aus Italien) war in der BRD nicht integriert, hinzu kam der Anwerbestop in der wirtschaftlichen Krise. De Mauro organisierte in Muttenz (Schweiz) eine Tagung der CGIL ("italienische Lehrergewerkschaft") zu sprachlichen und kulturellen Problemen der Migration, die sich für die Erarbeitung didaktischer Materialien für den Unterricht von Migranten und für eine Verbesserung der Schulsituation der zweiten Generation einsetzte. De Mauro, Mittvierziger, engagierte sich per Vortrag und Diskussion für diese Ziele und ging ohne Scheu mit Lautsprecher in der Hand "unter die Leute". Er war auch der politisch engagierte Mitbürger, der sich ins soziale Leben mischte und unterschiedslos jeden ernst nahm, nicht nur die, die den "passenden" akademischen Status hatten. Unter seiner politischen Einflussnahme wurde erreicht, dass die jugendlichen italienischen Migranten in der BRD nicht nur professionelle Angebote zum Erwerb des Deutschen bekamen, sondern auch einen Abschluss in der scuola media (dreijährige nach der Grundschule weiterführende Schulausbildung von 11 bis 14, teilweise vergleichbar mit unserer Realschule). In den achtziger Jahren lenkte de Mauro den soziolinguistischen Blick auf die sprachpolitischen Folgen der Binnenmigration: der Exodus der Sizilianer und Kalabresen nach Norditalien ("FIAT"). Die Binnenmigration, die Emigration, der Analphabetismus und die soziale Verwurzelung in den autochthonen Dialekten waren der wahre Motor seiner zahlreichen kreativen Initiativen, didaktische Materialien und Handbücher zu erstellen, die in verständlicher Weise die Regeln des italienischen Standard FÜR ALLE, die Transparenz der Dialekte für breite soziale Schichten, die Vermittlung des Italienischen als Fremdsprache an Ausländer und Migranten förderten. So reagierte er überwachsam, wie auf den Alarmruf soziolinguistischer Videokameras im ganzen Lande, auf separatistische Bestrebungen, den Norden vom Süden zu trennen, mit einem hochpolitischen Appell "zurück zu den Wurzeln, seht wie untrennbar in einem historischen Teppich die dialektalen und soziolektalen Varianten mit der Hochsprache verschmolzen sind".




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Die vernetzte Gemeinsamkeit der sprachlichen Wurzeln seit der italienischen Vereinigung ("unità") stellte er wie ein Heiligtum der nationalen Einheit dar, an der man nicht rütteln dürfe.

Der Entwicklung des modernen Italienisch sind verschiedene Aufsätze gewidmet, die in Bücher wie Prima Lezione del Linguaggio [Was uns das Studium der Sprache lehrt] (2002) oder In principio, c'era la parola [Am Anfang war das Wort] (2009) eingegangen sind. Auf verständliche Weise viele Leser zu erreichen, war ihm wichtig. Natürlich war er Mitglied und Gründer verschiedener akademischer Gesellschaften, von denen ich hier nur drei nennen möchte, die mir typisch für sein sprachpolitisches Verantwortungsbewusstsein zu sein scheinen: Academia della Crusca (Akademie der italienischen Sprache), die für Normsetzungen im geschriebenen und gesprochenen Italienisch verantwortlich ist; Unione Nazionale Lotta contro l'Analfabetismo (Nazionale Vereinigung Kampf gegen den Analphabetismus) und Associazione italiana di Linguistica Applicata (Italienische Gesellschaft der Angewandten Linguistik). Den Herausforderungen dieser drei Institutionen, sich dem ständigen Wandel des Italienischen mit praxisnahen Maßnahmen zu stellen, hat er sich mit Vorschlägen engagiert gewidmet.

Was bleibt? Von den vielen Meilensteinen seines Wirkens seien hier exemplarisch genannt:

  • die in einem zugänglichen Stil geschriebenen Anleitungen zum Studium der Sprache und die Handreichungen zum Gebrauch des Italienischen (z.B. Lexika zum Grundwortschatz und zum zeitgenössischen Italienischen),

  • die (im wesentlichen) aus seiner Feder stammenden zehn Thesen zur educazione linguistica (Spracherziehung), die die theoretischen Voraussetzungen einer erfolgreichen Spracherziehung und die Handlungsbereiche einer demokratischen Schulerziehung auf den Punkt bringen,

  • die Lehrstühle mit den NachfolgerInnen, die aus seiner Schule hervorgegangen sind, z.B.das Institut für Italienisch als Fremdsprache, dessen Direktor Massimo Vedovelli in Siena ist, der soziolinguistische Untersuchungen zur Sprache der Migranten in Rom durchführt und den Stand des Italienischen in Südamerika erforscht ("dachlose Außendialekte", sagen die Soziolinguisten, wenn die Minderheitensprache nicht von einem Standard überdacht ist)




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  • die Società Linguistica Italiana, von de Mauro als moderne Alternative zur indoeuropäisch orientierten Philologie gegründet. Hier werden alle brennenden aktuellen Probleme der Sprache und ihres Gebrauchs in der Gesellschaft diskutiert: Dialekt und Schule, Umgangssprache, Minderheitensprachen, Sprache und Migration, internetbasierte Kommunikation, Sprache und Ideologie etc.

De Mauro hat vorgeführt, dass und wie der moderne Sprachgebrauch immer wieder auf den Prüfstand der sozialen und politischen Bewertung gestellt werden kann und muss, welche Handwerkszeuge und Handreichungen der normale Sprachbürger und natürlich die Lehrer im sozialen Alltag brauchen, wie das Italienische für Inländer und Ausländer erfolgreich gelehrt und gelernt werden kann – und vieles mehr! Ich verneige mich vor seinem Werk: er hat uns mit dem prometheischen Geist der Soziolinguistik infiziert, es braucht herkuleischer Anstrengungen, wenn er ohne ihn weiterleben soll!



Anmerkung

* Der Autor ist Professor für Soziolinguistik an der FU Berlin, seit 2008 emeritiert. Unter der Leitung von Tullio de Mauro wurde sein Buch Soziolinguistik 1976 ins Italienische übersetzt. In dem ihm gewidmeten italienischen Sammelband Di Linguistica e di Sociolinguistica (2013) findet sich einer der letzten schriftlichen Beiträge von De Mauro.