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Teresa Hiergeist (Erlangen-Nürnberg)



Dans ta face. Eine Gesichtslektüre von Philomena (attr. Chrétien de Troyes) an der Schnittstelle von Literaturwissenschaft und Pragmatik



In Philomena the face plays indisputably a central role: Not only is it charged with semiotic relevance (e.g. by the display of emotions), but it also serves specific pragmatic purposes. Thus, significant parts of the story's action occur on and by means of the face. The present article proposes an interpretation of the medieval text by applying the pragmatic theories of Erving Goffman and Penelope Brown/Steven Levinson on facework, viz. the communicative negotiation process concerning (amongst others) personal dignity, honor and self-image. It construes Philomena as a characteristic illustration of social interaction patterns of the 12th century; as a consequence, a substantial crisis between two basic ethical concepts – courtoisie and honneur – can be testified throughout the narrative and focus can be subsequently laid on the way of representing problems, conflicts and dangers arising from the incompatibility of these two competing value systems.



1 Gesichter in Gesellschaft und Literatur

Das Gesicht ist im sozialen Alltag omnipräsent, grundlegende menschliche Bedürfnisse und Wertigkeiten sind an es gekoppelt (vgl. Macho 1999: 134). Zum einen sind charakterliche, soziale, identitäre oder ästhetische Informationen aus ihm ablesbar (vgl. Grivel 1980: 93), zum anderen ist die zwischenmenschliche Interaktion von ihm her strukturiert (vgl. Berger / Luckman 2004: 31). Insofern besitzt es eine semantische und eine pragmatische Dimension. Auch in der Literatur kommt dem Gesicht eine Schlüsselrolle zu. Widmet ein Text seiner Beschreibung Aufmerksamkeit, so konstituiert und legitimiert er darüber nicht nur die imaginierte Realität im Sinne eines effet de réel, sondern es werden meist gleichzeitig implizit Informationen zur Persönlichkeit und gesellschaftlichen Situierung einer Figur übermittelt (vgl. Hamon 1983: 24). Insofern liefert es Orientierung in der Diegese und strukturiert die Rezeptionserwartungen vor (vgl. Matt 1983: 194). Dieser Zugang zum Gesicht, dem das Interesse der literaturwissenschaftlichen Sekundärliteratur vorzugsweise gilt, ist semantischer Natur, er betrachtet dieses als Träger eines literarischen bzw. kulturellen Kodes. Die Frage nach der zweiten Funktion des Gesichts, seiner Pragmatik, findet hingegen kaum Berücksichtigung. Es bleibt ungeklärt, ob und wie literarische Texte mit und auf Gesichtern Handlung generieren und die Beziehungen zwischen den Figuren konstruieren.

Was diese pragmatische Dimension des Gesichts ausmacht und wie sie für die Analyse literarischer Texte fruchtbar gemacht werden kann, soll am Beispiel der Chrétien de Troyes zugeschriebenen Philomena (ca. 1150–1200) dargelegt werden – einem Werk, das Gesichter auf vielfältige Weise inszeniert. Als theoretische Grundlage hierfür sollen die soziologischen und linguistischen Ausführungen zum facework der Pragmatik infolge von Erving Goffman sowie Penelope Brown und Steven Levinson dienen, die sich seit den 60er Jahren mit dem interaktionalen Charakter des Gesichts beschäftigt.1 Sie werden mit dem Ziel auf den Text angewendet, einerseits das interaktionale Potenzial von Gesichtern in der Literatur zu profilieren und andererseits Philomena aus dem Blickwinkel der Umgangsformen neu zu beleuchten.




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2 Gesicht und Pragmatik

Die Grundidee der facework-Theorie besteht darin, dass sich die Interakteure einer zwischenmenschlichen Begegnung kontinuierlich aneinander orientieren. Nach Erving Goffman suchen Individuen im Kontakt mit ihrem Umfeld die Bestätigung ihres sozialen Werts und verhalten sich entsprechend gesellschaftlich anerkannter Eigenschaften in der Hoffnung, ein positives Selbstbild rückgemeldet zu bekommen (vgl. Goffman 1986: 10). Dieses sogenannte image besteht im Eindruck von Achtung, Ehre und Würde für sich selbst und ist Ergebnis einer performativen und situationalen Aushandlung mit dem Gegenüber (vgl. Dhondt / Ölstman / Verschueren 2009: 80). Wodurch es im Einzelnen erreicht werden kann, variiert epochen-, kultur-, klassen-, gruppen- und situationsspezifisch (vgl. Goffman 1986: 14). Im Optimalfall finden beide Seiten ihren positiven sozialen Wert bestärkt und tragen dadurch zur Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Gleichgewichts bei. Verweigert hingegen einer der Interaktionspartner die positive Widerspiegelung oder weicht sein Verhalten von den Normen ab, so droht die Gefahr eines temporären Gesichtsverlusts (vgl. Goffman 1986: 14). Für den Umgang mit dieser Problemsituation besitzt jede soziale Gemeinschaft eigene Strategien: Sie kann den Gesichtsverlust etwa ignorieren oder durch Scham oder Ausgleichshandlungen wettmachen, bis ein erfolgreiches facework wieder gewährleistet ist (vgl. Goffman 1986: 119).

Die Pragmalinguistik untersucht den sprachlichen Niederschlag des Strebens nach sozialem Wert. Dieses drückt sich nach Penelope Brown und Stephen Levinson einerseits im Wunsch nach Zuwendung und Wertschätzung (positive face), andererseits im Verlangen nach Verschonung und Akzeptanz des persönlichen Freiraums (negative face) aus (vgl. Brown / Levinson 1987: 13). Nicht selten kommt es in diesem Kontext zu Gesichtskonflikten, etwa wenn das Streben nach Handlungsfreiheit und nach Bestätigung miteinander kollidieren, wenn die Vorstellungen vom eigenen und fremden image divergieren oder die Interessen des einen zulasten des anderen durchgesetzt werden (vgl. Cutting 2015: 37). Letzteres ist etwa der Fall, wenn ein Akteur sein positive face beeinträchtigen muss (etwa durch ein Geständnis), sein negative face nicht wahren kann (beispielsweise bei einem Versprechen), wenn er das positive face des Gegenübers attackiert (im Fall von Kritik) oder die Grenzen von dessen negative face überschreitet (etwa durch eine Forderung) (vgl. Kerbrat-Orecchioni 2000: 22–23). Um trotz solcher Angriffe auf das Gesicht (face-threatening acts) das soziale Gleichgewicht zu wahren, verfügen Kulturen über unterschiedliche Möglichkeiten zur Abschwächung oder Kompensation von Bedrohungen. Eine davon ist die verbale Höflichkeit,2 die es beispielsweise ermöglicht, einer Forderung Vorschlagscharakter zu verleihen, so dass sie nicht als gewaltsames Eindringen in den persönlichen Freiraum wahrgenommen wird, oder Kritik so zu verpacken, dass sie das Selbstbild nicht beeinträchtigt. Doch die Höflichkeit erschöpft sich nicht in der Abschwächung von face-threatening acts, sondern kann auch aus der Motivation einer vorsorglichen Gesichtspflege, einer intentionalen Aufwertung des Anderen (face-flattering) heraus erfolgen (vgl. Kerbrat-Orecchioni 2010: 79). In beiden Fällen übernimmt die Höflichkeit die Aufgabe der Beziehungsarbeit und Interaktionspflege (vgl. Held 1995: 420).




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Diese Universalia der facework-Theorie prägen sich für das ausgehende 12. Jahrhundert, das den zeitlichen Rahmen der vorliegenden Untersuchung zu Philomena bildet, in besonderer Weise aus: Der Zeitraum markiert in Frankreich eine Schwellensituation. Im Frühmittelalter spielt gesichtsschonendes Verhalten eine eher nebengeordnete Rolle; das Alltagsleben ist mit seinen zahlreichen Ausprägungen feudaler Gewalt in Form von Kriegen, Entführungen und Morden eher auf Konfrontation denn auf Besänftigung ausgerichtet (vgl. Frank 2011: 446). Dies spiegelt sich in der hohen Wertigkeit der Ehre wider (vgl. Althoff 2011: 48): Beleidigungen und Angriffe werden unmittelbar gewaltsam gesühnt, um Ehrverletzungen zu revidieren; Nachgeben oder Unterwerfen gelten als zu vermeidende Schwäche (Bax 1999: 40). Die Höflichkeit erfährt von dieser Warte aus eine negative Bewertung: Sie wird als "Ausdruck der Weltlichkeit und Falschheit" verstanden, mit "Unehrlichkeit, schönem Schein und Verführung assoziiert" (Frank 2011: 447). Mit der Herausbildung starker Zentralgewalten und der zunehmenden Anziehungskraft großer Höfe wandelt sich dieses Bild jedoch schrittweise: Es bilden sich hofspezifische Umgangsformen heraus, die auf der Idee des Gewaltverzichts fußen (vgl. Elias 1994: 107). Diese sind Teil eines komplexen herrschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexts, in dem die sozialen Werte 'Ansehen' und 'Würde' sowie 'Respekt gegenüber dem Lehensherrn/Vasallen' zentral sind (vgl. Kraywalski 1985: 115). Als wesentliche Verhaltensnorm fungiert die Mäßigung: Der höfisch geprägte Adelige gibt sich nicht aufdringlich und grob, aggressiv und laut, sondern vornehm und diskret (vgl. Krings 1961: 39–63). Auch die Hofdame ist zur Affektdämpfung und zu zurückhaltendem Auftreten angehalten (vgl. Faulstich 1996: 42). Diese Konventionen unterliegen einer beständigen sozialen Kontrolle. In Interaktionen wird das Gegenüber unablässig bestätigt oder getadelt, versucht sich der Einzelne, dem Ideal schrittweise anzunähern, worüber sich die höfische Schicht als homogene Gruppe erst konstituiert (vgl. Wenzel 1995: 21–22). Insgesamt zeichnet sich das 12. Jahrhundert somit durch eine Simultaneität heterogener Umgangsformen aus: Der Ehrenkodex und die Gewaltbereitschaft sind nach wie vor präsent, während sich das Ideal der courtoisie herausbildet und zunehmend durchsetzt. Hierbei lässt sich beobachten, dass verschiedene Kontexte von unterschiedlichen Interaktionssystemen dominiert sind, wenn etwa der Alltag auf die Ehrerhaltung hin orientiert ist, wohingegen die Literatur bereits die höfische Norm propagiert (vgl. Frank 2011: 451).

Dieser Wandel der Umgangsformen schlägt sich auch sprachlich nieder: Verstärkt mahnen die höfischen Dokumente der damaligen Zeit zur Kontrolle von Sprechlautstärke und Ton und zeugen selbst von einer stilistischen Verfeinerung und Ästhetisierung (vgl. Wenzel 1995: 17, 25 sowie 151). Der verbale Ausdruck wird zum Medium der Distinktion von den übrigen Schichten. In der höfischen Literatur ist in der damaligen Zeit überdies eine Zunahme der Manifestationen höflicher Sprechakte zu verzeichnen (vgl. Frank 2011: 452), die eine gewaltfreie Lösung bzw. Dämpfung des Aufeinanderprallens divergenter gesellschaftlicher Status und daraus resultierender face-Konflikte bei Hofe ermöglichen (vgl. Ehrhardt 2002: 44–45). Insofern steht das adelige Sprechen des 12. Jahrhunderts in direkter Korrespondenz mit den gesellschaftlichen Strukturen: Es reproduziert kommunikativ die "hierarchische Rangordnung einer feudalistisch organisierten Ständegesellschaft" (vgl. Held 2005: 49).




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Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern die universellen Aspekte der face-Theorie sowie die spezifischen historischen Implikationen des Hochmittelalters mit dem literarischen Werk Philomena in Verbindung gebracht werden können und wie sie seine Bedeutung beeinflussen. Es geht dabei nicht darum, den Text linguistisch auf seine Strategien verbaler Höflichkeit zu durchforsten, sondern umgekehrt darum, die Handlung aus dem Blickwinkel der facework-Theorie zu analysieren. In diesem Zusammenhang gilt es, die Gesichtshandlungen und ihre literarische Modellierung zu analysieren, um den Konnex zwischen der Inszenierung des Gesichts im Text und dem face-Handeln herauszuarbeiten.


3 Gesichter in Philomena

Philomena gehört vermutlich zu Chrétien de Troyes frühen Texten, die er wohl noch vor Cligés und Érec et Énide verfasst hat (vgl. Krueger 2005: 87). Er greift eine Ovidsche Metamorphose auf, weshalb er Ende des 13. bzw. Anfang des 14. Jahrhunderts auch in die Sammlung Ovide moralisé aufgenommen wird (vgl. Uitti / Freeman 1999: 130). Dementsprechend gestaltet sich die Handlung: Philomena wird von Térée, dem Mann ihrer Schwester Procné, vergewaltigt und in ein abgelegenes Landhaus verschleppt. Sie kommt aus diesem Gefängnis frei, indem sie einen Hilferuf in einen Teppich einwebt und diesen Procné zukommen lässt. Gemeinsam rächen sich die beiden Schwestern an Térée, indem sie dessen Sohn töten und ihm zum Mahl vorsetzen.3 Seiner Rache entrinnen sie schließlich dadurch, dass ein Wunder alle Beteiligten in Vögel verwandelt. Aus einem pragmatischen Blickwinkel betrachtet bedeutet die Schändung nicht nur eine körperliche Aggression, sondern auch eine Gesichtsverletzung im Sinne einer brutalen Beschädigung von Philomenas Selbstbild und ihres sozialen Werts.4 Ihre darauffolgende Rache an Térée dient mithin auch der Wiederherstellung des letzteren. Die Gewaltreaktion der beiden Frauen erfolgt im Sinne der Argumentation Goffmans, der für den Fall drastischer face-Transgressionen bemerkt: "Die bloße Beobachtung eines Verstoßes gegen das geforderte Engagement [...] kann selbst wieder zu einem Vergehen an der Interaktion führen; das Opfer des ursprünglichen Deliktes kann selbst zum Übeltäter werden" (Goffman 1986: 138). Die Tatsache, dass durch die Vergewaltigung nicht nur die Grenzen Philomenas persönlichen Raums nicht gewahrt werden, sondern dass ihr auch der ihrem Stand als Hofdame gebührende Respekt verwehrt wird, verletzt gleichzeitig das negative und das positive face, was die Grausamkeit des Gegenschlags rechtfertigt. Im Zentrum der Inszenierung steht so gesehen die Unrechtmäßigkeit von Philomenas Gesichtsverletzung und die Stigmatisierung von Térées Verhalten als fehlerhaft und intolerabel. Dieser Grundtenor wird nun auf mehreren Ebenen über die Rekurrenz auf konkrete und symbolische faciale Fakta verstärkt.

Erstens wird Philomenas Gesicht – und dies in Abgrenzung zum Ovidtext – eingangs recht ausführlich beschrieben,5 wobei ausschließlich positive Attribute und Eigenschaften bedient werden: Die Vergleiche mit edlen Blumen ("jagonce", "lis", "rose"), Tieren ("ermine"6), Materialien ("samiz", "ançans", "basmes") oder Farben ("blans", "vermeillettes", "vermauz an grainne", "de roses et de flor de lis"7) sowie die bisweilen hyperbolischen Formulierungen verleihen der Protagonistin sicherlich eine gewisse Sinnlichkeit, lassen sie jedoch vorrangig in hellstem Glanz erstrahlen (vgl. Köhler 1991: 127–141). Diese Angaben beziehen sich zwar ausschließlich auf die faciale Oberfläche, sie lassen sich allerdings physiognomisch betrachtet als Aufwertung der Person an sich verstehen.8 Das Gesicht verbreitet in der Passage physische und geistige Harmonie, was auch an den Symmetrien liegt, die den Abschnitt sowohl auf der inhaltlichen ("aligniez", "serrez", "droit") als auch syntaktischen und metrischen Ebene durchziehen. Mit Philomena wird kein Individuum, sondern ein Ideal vorgestellt: Sie verkörpert die höfische Erziehung, d.h. erlesene Zartheit und stille Tugendhaftigkeit (vgl. Roustant 2013: 70). Diese Grundtendenz wird dadurch verstärkt, dass die Passage gemäß der gängigen Konventionen der Gesichtsbeschreibung der romanischen Epik strukturiert ist: Sie folgt einer streng choreographierten Reihenfolge von oben nach unten (vgl. Hirdt 1970: 42) und integriert gängige Topoi (Unsagbarkeit, Deus-formator, Natura-formatrix) sowie rhetorische Ausschmückungen (vgl. Koch 1991: 64).




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Die Sekundärliteratur betont häufig insbesondere den ästhetischen Wert dieser descriptio superficialis, der in der "Demonstration stilistischer Virtuosität" (Koch 1991: 66) innerhalb eines klar vorgegebenen rhetorischen Rahmens liege. Erzählerische Relevanz wird ihr hingegen in den meisten Fällen nicht zugesprochen. Geht man allerdings – wie oben dargelegt – davon aus, dass die Formelhaftigkeit im hochmittelalterlichen Kontext als höfisches Distinktionsmerkmal fungiert, so kann die Anlehnung an die literarischen Konventionen auch als ästhetische Inszenierung des positiven images der Figur verstanden werden. Philomena erfüllt die höfischen Normen in vollendeter Weise: Ihr schönes Gesicht und das schöne Gesicht des Texts sind hierfür offensichtliche Zeichen.

Doch noch auf eine andere Art ist Philomenas Gesichtsbeschreibung bedeutungsträchtig: Sie bildet eine Opposition zu der ihres Kontrahenten Térée. Dieser ist nicht nur mit ausgesprochen negativen Worten bedacht, die seinem gesellschaftlichen Stand alles andere als würdig sind;9 auch seine stilistische Darstellung erfolgt in einer ungeordneten Hypotaxe, die clarté10 und Harmonie vermissen lässt. Zuletzt fällt Térée auch dadurch hinter Philomena zurück, dass sein Gesicht weder en bloc noch en passant erzählerische Aufmerksamkeit erhält. Nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ wird er vom Erzähler somit als zweitrangig behandelt.11 Dies kann eine im Vergleich zu Philomena fehlende Tugend und Würde zum Ausdruck bringen und somit Térées soziale Untragbarkeit implizieren. Insgesamt erfolgt über das Gesicht folglich eine deutliche Sympathielenkung: Man ist als Rezipient geneigt, sich mit Philomena zu identifizieren und von Térée zu distanzieren, und man entwickelt dementsprechende Erwartungen an den weiteren Handlungsverlauf.12 Die facialen Informationen erweisen sich somit als verbildlichte Form des immateriellen Interaktions-face, als Verkörperlichung der kulturellen Dimension des Gesichts.13 Sie können im Sinne einer "Doppelung von Ding- und Bedeutungsebene" gelesen werden (Blank 1992: 27).

Ein zweiter Unterschied zwischen Philomenas und Térées Gesichtern liegt im Bereich der Expressivität. Die Emotionen der Protagonistin schlagen sich unmittelbar körperlich nieder. Als Térée sie vergewaltigt, kommen ihr Widerwille und Widerstand in erster Linie im Facialen zum Ausdruck:

Lors li fet force et cele crie,
Si se debat et se detuert,
A po que de peor ne muert.
D'ire, d'angoisse et de dolor
Change plus de ҫant foiz color,
Tranble, palist et si tressue, […] (v. 798–803)

Philomenas Schreie, ihre wechselnde Gesichtsfarbe und ihr Schwitzen bilden nicht nur einen krassen Gegensatz zu ihrer Unversehrtheit und Ausgewogenheit in der Eingangsbeschreibung und bringen damit die physischen Beeinträchtigungen und den Gesichtsverlust zur Anschauung, den die sexuelle Gewalteinwirkung für sie bedeutet.14 Der intensive Emotionsausdruck findet sich auch beim übrigen Personal wieder, etwa bei Philomenas Vater und ihrer Schwester. Exemplarisch kann hierfür Procnés heftige Reaktion stehen, als Térée ihr die Nachricht von Philomenas angeblichem Tod überbringt: "Or tret ses crins, or fiert sa face,/ Or plore, or crie et or se pasme,/ Les deus maudit et la mort blasme" (v. 976–978). Auf diese Weise markiert der Text Philomena und ihre Familie als Gruppe mit einem klaren Bewusstsein für Recht und Unrecht, für Glück und Unglück.




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In eindeutigem Kontrast hierzu steht Térées Traurigkeitsbekundung:

Li fel tint la teste beissiee
Et fist sanblant et contenance
D'ome qui et duel et pesance,
Et si fist par decevemant
Un faus sospir apertemant
Por sa mançonge feire acroire. (v. 904–909)

Et lors refist un sospir faus,
Et por son dit miauz afermer
Comança des iauz a lermer
Par barat et par renardie. (v. 926–929)

A ce mot autre foiz sospire
Sanz ce que grant duel au cuer et. (v. 942–943)

Auf mehreren Ebenen wird hier signalisiert, dass Térées Gefühlsausdruck kein spontaner, sondern ein simulierter ist. Erstens wird es sprachlich expliziert ("fist sanblant", "faus sospir", "mançonge", "sospir faus", "par barat et par renardie", "sanz ce que grant duel au cuer et") (vgl. Wagih 1989: 50). Zweitens bleibt seine Reaktion in ihrer Intensität hinter der Procnés weit zurück: Während seine Gesichtshandlungen – Seufzen und Weinen15 – harmlos und reversibel sind, verursachen die der Schwester – Haareraufen und Schlagen – mindestens Schmerzen, wenn sie nicht sogar dauerhafte Spuren in ihrer Physis zurücklassen. Drittens spielt die Tatsache eine Rolle, dass Térée sein Gesicht abwendet und nicht offen zeigt ("tint la teste beissiee"), was seine Unaufrichtigkeit zusätzlich unterstreicht. Hierzu passend wird an dieser Stelle statt der gebräuchlichen vis oder face das allgemeinere, stärker geometrische teste verwendet.16 Philomena und ihre Familie stehen im Text also für einen authentischen, Térée für einen artifiziellen Gesichtseinsatz – eine Opposition, die den Graben zwischen beiden vertieft.

Auf den ersten Blick mag diese Verteilung der Semantiken etwas verwundern. Zwar ist die Frage nach der Echtheit und Artifizialität im Kontext des facework zentral, so dass der Text gleichsam im Bild bleibt; allerdings ist es ungewöhnlich, dass Philomena und Procné als Inbegriff der höfischen Kultur nicht die Gefühlskontrolle und Térée als ihr Antagonist nicht die Impulsivität verkörpern, zumal Philomena häufig als Plädoyer für die Mäßigung interpretiert wird (vgl. Gally 2003: 188). Erklären lässt sich dies damit, dass die Demonstration von Gefühlen in Ausnahmesituationen, wie sie die Vergewaltigung und Todesnachricht darstellen, Vorrang vor der Erfüllung des höfischen Ideals besitzt. Der Text betont auf diese Weise die Ungeheuerlichkeit von Térées Verhalten sowie seine Unehrlichkeit: Nicht nur besitzt er kein Gesicht und ist nicht auf die Erreichung eines positiven sozialen Werts bedacht, er hat sich überdies eine Maske zugelegt, die dies verschleiern soll und damit die höfische Gesellschaft bedroht. Die soziale Interaktion funktioniert nur, solange alle Mitglieder nach Zugehörigkeit streben und sich am facework beteiligen. Ein Subjekt, das dieses Ziel nicht teilt, stellt das System in Frage. Noch gefährlicher allerdings ist das Spiel mit einem falschen Gesicht, das über eine soziale Inkompatibilität des Trägers hinwegtäuscht und die Erwartungen seines Gegenübers ausnutzt. Insofern inszeniert die expressive Seite des Gesichts in Philomena selbstredend keine Inversion höfischer Werte, sondern warnt vielmehr vor den Problemen, die diese mit sich bringen: Die Kehrseite einer Welt der Höflichkeit, Gefühlskontrolle und Selbststilisierung ist die intentionale Täuschung; hinter einer verlässlich scheinenden Fassade lauert stets die Gefahr der Manipulation (vgl. Wenzel 1996: 65). Philomena inszeniert über das Gesicht nicht nur das face der Figuren, sondern nutzt es gleichzeitig als Warnung vor den Fallstricken der sozialen Interaktion. Der Konflikt zwischen Ehre und courtoisie wird hierin manifest.




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Doch damit erschöpft sich die Rolle des Gesichts nicht; auch ein Großteil der Handlung spielt sich auf und mit ihm ab: Térée ist nicht nur für die image-Beschädigung der Protagonistin verantwortlich,17 er sorgt auch dafür, dass diese dauerhaft körperlich in sie eingeschrieben wird. Indem er ihr nach seinem Übergriff die Zunge abschneidet, möchte er erstens verhindern, dass sein Verbrechen publik wird,18 und beraubt Philomena damit der Chance, durch eine Anklage Sühne einzuleiten.19 Zweitens demonstriert er hierdurch seine Macht über sie erneut: Indem er ihr einen äußerlich zwar nicht erkennbaren, innerlich jedoch gravierenden Schaden zufügt, reinszeniert er gleichsam die Vergewaltigung auf der Ebene des Gesichts und betont die Destruktivität seines Handelns, da er dem Leser anschaulich vor Augen führt, was aus sittlichen Gründen beim ersten Mal undargestellt geblieben ist. Dabei ist die Wahl der Zunge als Schauplatz dieser Wiederholung in besonderer Weise bedeutungsträchtig: Im Übergangsbereich des facialen Innen und Außen verortet, in Interaktionen teils verborgen, teils zugänglich, eignet sie sich zur Illustration der Grenzüberschreitung im Allgemeinen und deren ambivalenten Charakters im Besonderen. Der Schaden, den Philomena erleidet, ist nicht nur physisch, sondern auch immateriell, er betrifft ihre beiden Gesichter. Drittens hat die abgeschnittene Zunge aber auch eine beglaubigende Komponente: Térée schafft durch sie ein überprüfbares Indiz seines Verbrechens, er hinterlässt Spuren am Tatort, die wie ein stummer Vorwurf unleugbar und dauerhaft aufscheinen und nach Wiedergutmachung verlangen.20

Auch Philomenas Handeln fokussiert das Gesicht: Weil sie sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten beraubt ist, benutzt sie kurzerhand Térées Zunge als Mittel seiner Bestrafung. Indem sie ihm seinen eigenen Sohn zum Mahl vorsetzt, erleidet er gleichzeitig den Verlust und macht sich an dessen Tod mitschuldig. Diese simultane Konzeptionalisierung Térées als Täter und Opfer illustriert, dass er für diese Katastrophe selbst mitverantwortlich ist.21 Auch in einer weiteren Perspektive schließt sich mit der Zunge als Ort der Rache ein Kreis: Sie symbolisiert Térées grundlegenden moralischen Fehler, nämlich seine körperliche und sexuelle gula.22 Mit der Zunge sind im Mittelalter ambivalente Bedeutungen verknüpft: In zahlreichen religiösen Texten symbolisiert sie Sündhaftigkeit, da sie den Ort der Einverleibung und der körperlichen Gelüste par excellence darstellt;23 zugleich ist sie Zeichen des Göttlichen, da sie als das Medium der Sprachfähigkeit fungiert.24 Térée und Philomena personifizieren gewissermaßen diese beiden Facetten der Zunge: Ersterer gebraucht sie essend in ihrer körperlichen Funktion, während bei letzterer verhindert werden soll, dass sie sie zum Sprechen, also auf einer geistigen Ebene, einsetzt. Térées Zungenhandlung erfolgt usurpierend von außen nach innen und stürzt ihn unwiederbringlich ins Unglück; Philomenas wird auf dem Weg von innen nach außen verhindert, kann aber durch alternative Ausdrucksformen wie das Weben des Teppichs oder ihren Vogelgesang ausgeglichen werden und ist damit im Endeffekt erfolgreich. Insofern kommt zum Ausdruck, dass eine positive und eine negative Form des Zungengebrauchs existiert, anhand derer sich der gute vom schlechten Menschen scheidet. In dieser Hinsicht übermittelt Philomena eine moralische Botschaft, die – gelesen aus der Perspektive des facework – in einem Plädoyer für die Zivilisierung oder Vergeistigung des Sprechens besteht,25 und geht dabei konform mit der wachsenden Bedeutung der Höflichkeit im Hochmittelalter. Die Tatsache, dass Philomena die Zunge durch indirektere, künstlerische Ausdrucksformen substituiert,26 kann analog dazu als symbolischer Indikator für die Durchsetzung verfeinerter, ästhetisierter Umgangsformen gelesen werden.




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Überdies bestimmt ein weiteres faciales Element die Handlung von Philomena. Die Tötung des Sohns als Strafe für Térée erfolgt mit der Begründung der Ähnlichkeit ihrer beiden Gesichter: "Ne Deus ne fist mien esciant/ Chose a autre miauz ressanblant,/ Et por ce te vuel descoler" (v. 1307–1309). Ebenso wie bei den Mitgliedern aus Philomenas Familie scheinen die Gesichtsähnlichkeiten und die damit inszenierten sozialen bzw. interaktionalen Ziele auch bei jenen beiden erblich bedingt. Bestimmte Züge korrelieren mit einem spezifischen Verhalten, so dass sich Térées "gesichtsloses" Auftreten, sein negativer sozialer Wert, auf seinen Sohn überträgt. Hierin mag sich widerspiegeln, dass die Schichtzugehörigkeit im 12. Jahrhundert hereditär bestimmt ist und nur eine bedingte soziale Durchlässigkeit existiert (vgl. Demel 2012: 12). Térée manövriert sich mit seiner Weigerung, die sozialen Normen zu befolgen, ins höfische Aus und diskreditiert damit auch seine Verwandtschaft. Er konsumiert und vernichtet seinen Sohn und sich selbst zugleich.

Die Tatsache, dass sich Térée durch sein gesichtsverletzendes Verhalten nur selbst diffamiert, führen ihm die beiden Frauen noch eindringlicher vor Augen: Procné, indem sie ihn verbal über seinen selbstzerstörerischen Kannibalismus aufklärt, und Philomena, indem sie diesen handelnd illustriert:

Philomena, qui s'iert reposte
An une chanbre iluec decoste
S'an issi fors atot la teste.
Jusque devant lui ne s'areste,
Si li a tote ansanglantee
La teste an mi le vis gitee.
Tereüs voit qu'il est traїz,
S'estut une piece esbaїs,
Qu'il ne se mut ne ne dist mot
D'angoisse et de honte qu'il ot.
Honte ot si come avoir dut
Quant la teste son fil conut, […] (v. 1407–1418)

Dass sie den Kopf auf Térées Gesicht wirft, stellt nicht nur einen körperlichen Angriff dar, sondern kann auch im übertragenen Sinn als Kritik an seinem sozialen Verhalten verstanden werden: Térées Unaufrichtigkeit und seine Lasterhaftigkeit fliegen ihm hier sozusagen regelrecht um die Ohren. Erstmals sieht er die Hässlichkeit und Versehrtheit seines Gesichts ("tote ansanglantee") in objektivierter Form vor sich – und erstarrt vor Schreck. Insofern ist Philomenas Gesichtswurf ein verbildlichter face-threatening-act: Er bedeutet nicht nur die Retourkutsche für Térées Verfehlungen im Sinne eines 'Zunge um Zunge, Gesicht um Gesicht', vielmehr liegt darin die Chance auf die Justierung des sozialen Verhaltens, auf den Neuentwurf seines face. Die Tatsache, dass Térée in diesem Moment Scham empfindet, weist darauf hin, dass er sich seiner eigenen Unzulänglichkeit schlagartig bewusst wird. Einen Moment lang scheint er in der Tat in Bezug auf sein Verhalten verunsichert.




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Dann jedoch besinnt er sich wieder auf seine Ehre und stürmt wutentbrannt mit gezücktem Schwert auf Philomena und Procné los. Um diese vor einer erneuten 'Vergewaltigung' zu bewahren, verwandelt ein Wunder die drei Beteiligten in Vögel, worin ein letzter Gesichts-Punkt enthalten ist:

Car Tereüs devint oisiaus,
Orz et despiz, petiz et viauz.
De son poing li cheї l'espee
Et il devint hupe copee,
Si con la fable le raconte,
Por le pechié et por la honte
Qu'il avoit fet de la pucele.
Progné devint une arondele
Et Philomena roussignos. (v. 1445–1453)

Das abschließende Bild von den Figuren in Tiergestalt hält gewissermaßen zusammenfassend das Ergebnis des vorherigen face- und bodywork fest und bildet eine Momentaufnahme ihrer sozialen Rolle: Térées Vogelgesicht ist unansehnlich und disharmonisch. Wenn man bedenkt, dass das Schönheitsideal in der Ausgewogenheit der einzelnen Partien und der Rundheit des Gesichts als Ganzes besteht (vgl. Altuna 2010: 148), widersprechen dem seine Ausstülpungen der Federhaube und sein langer Schnabel. Verstärkend wirkt, dass der Wiedehopf im Mittelalter häufig als Symbol für den Teufel gebraucht wird (vgl. Hausmann 1996: 216). Selbst in Vogelform bleibt Térée also das Stigma seiner Tugendlosigkeit und sozialen Unverträglichkeit.27 Auch Procnés Schwalbengesicht ist in Anlehnung an ihre vorherige Rolle zu denken: Es ist zwar in sich stimmig, jedoch erinnert die rote Färbung an die kürzlich verübte Bluttat (vgl. Roustant 2013: 69). Philomena schließlich wird in der Verwandlung sozusagen restituiert: Als Nachtigall bildet sie das tierische Analogon der eingangs beschriebenen idealen Schönheit.28 Auch die Verstümmelung ihrer Zunge ist ungeschehen gemacht, schließt der Text doch mit dem onomatopoetischen Ausdruck ihres Gesangs "Oci! Oci!" (v. 1467). Am Ende steht wie zu Beginn ein harmonisches Gesichtsbild von Philomena, die ihren sozialen Wert restituiert hat, jedoch mit einem Unterschied: Eine lobende Gesichtsbeschreibung wird auch Philomena nun nicht mehr zuteil (vgl. James-Raoul 2007: 242). Die Hofdame kehrt in einen Normal-, aber nicht in den Anfangszustand zurück. Die Interaktion mit Térée hat auch bei ihr unauslöschliche Spuren hinterlassen.




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4 Fazit

Das Gesicht ist in Philomena mehr als ein Körperteil, es bildet ein Schlüsselelement zum Verständnis des Texts, das immaterielle Vorgänge physisch verbildlicht. Durch den Einsatz ihrer Gesichter durch die Figuren, durch die Handlungen, die sich auf und mit ihm abspielen, und durch seine erzählerische und stilistische Modellierung ist es als Schauplatz von Ehre, Würde, Moral und Authentizität konzeptionalisiert – also der traditionellen Domäne des facework. Der Text übermittelt über das Gesicht nicht nur Informationen zu den Charakteren, sondern auch darüber, wie face in zwischenmenschlichen Beziehungen ausgehandelt wird.

In Philomena prallen zwei unterschiedliche soziale Interaktionstypen aufeinander, die im 12. Jahrhundert simultan nebeneinander bestehen: einerseits die Tendenz zur Gewalt mit ihrem Imperativ des Ehrenkodex, den Térée repräsentiert, und andererseits der neue höfische Umgang im Sinne des courtoisie-Ideals, für den Philomena steht. Aus der Inkompatibilität dieser Umgangsformen resultieren im Alltag Unklarheiten, Unsicherheiten, Probleme und Gefahren. Insofern illustriert Philomena nicht nur höfische Werte, sondern zeigt über den dargestellten image-Konflikt vor allem eins: Dass das neue höfische face nicht selbstverständlich und unkompliziert ist, sondern dass es erst in der Interaktion allmählich konstruiert, durchgesetzt und davon ausgehend beständig verfeinert werden muss – indem man mit viel Bedacht zusammen mit den anderen tagtäglich daran webt.


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Anmerkungen

1 Konkrete Formen des Gesichtshandelns in Form von Mimik, wie sie die gesture studies in den Blick nehmen, bilden dabei nicht den Fokus der Untersuchung.

2 Insofern gehen facework und Höflichkeit nicht ineinander auf, sondern bilden unterschiedliche Typen verbaler Interaktionsformen, die in einem losen Funktionszusammenhang stehen. Richard Watts definiert hierzu präzisierend facework als Verhalten "being appropriate to the ongoing social interaction" und Höflichkeit als freiwillige Abweichung bzw. Überbietung von Kommunikationsnormen (vgl. Watts 2003: 21 sowie 260–263).

3 Diese Form der Vergeltung greift das cœur mangé-Motiv auf, das sich in mehrere Texten der damaligen Zeit, etwa im Lai Guirun oder in Roman de Tristan, wiederfindet (vgl. Di Maio 2005: 17).

4 Vergewaltigungen werden im Mittelalter, sofern sie gerichtlich verfolgt werden, als Gewalttaten behandelt, die sowohl in Hinblick auf die körperlichen Verletzungen der Frau als auch in Hinblick auf die Familienehre beschädigend sind (vgl. Mazo Karras 2006: 235–236).

5 Die Seitenangaben zum Werk entstammen der Ausgabe Chrétien de Troyes (1994). Die Angaben zur Gesichtsbeschreibung beziehen sich auf v. 139–171.

6 Das Hermelin tritt im Untersuchungszeitraum motiviert durch das reine Weiß seines Fells häufig als Symbol eines makellosen, tugendvollen Lebensstils auf und wirkt in dieser Bedeutung freilich auf Philomena zurück (vgl. Kroll 2002: 77).

7 Die Farbkombination rot-weiß gilt im Kontext der Minnetopik als Schönheitsideal (vgl. Friedrich 2012: 76–77).




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8 Die Grundidee der antiken Physiognomik, wonach das Gesicht ein Spiegel der inneren Werte des Menschen darstellt, bleibt auch während des Mittelalters von großer Bedeutung. Vor allem den moralischen Wert einer Person meinte man dieser ins Gesicht geschrieben (vgl. Degkwitz 1996: 42).

9 "Mes cis n'est bons ne frans ne douz, ains est mauvés, fel et estous, et quant sa mauvestié ne lesse, tout li couvient que son cuer pesse et face sa mauvestié toute, des qu'a mal fere ne redoute" (208–209; Hervorhebung d. Verf.).

10 Cornelis de Boer hebt den "grand souci de composition et de clarté" als stilistisches Charakteristikum von Philomena hervor (vgl. Boer 1909: CI). Umso auffälliger und bedeutungsträchtiger ist es, wenn der Text davon punktuell abweicht.

11 Es ist generell üblich, dass Frauen in den damaligen Texten ausführlichere Beschreibungen zuteilwerden als Männern. Dass bei Térée Angaben jedoch gänzlich fehlen, ist allerdings durchaus ungewöhnlich.

12 Unterstrichen wird dies auch durch die wertenden Kommentare des Erzählers zu Philomenas Gunsten und Térées Ungunsten, so z.B. "Mal issi Tereüs de Trace / Por aler Philomena querre, […]" (v. 236–237) oder "Don fust mout sages Tereüs / S'il s'an vosist retreire ansus / Et raler s'an sanz la pucele, […]" (v. 449–451).

13 Dass eine enge Verbindung zwischen der Interaktion und dem Gesicht auch zur damaligen Zeit besteht, belegen auch die zahlreichen Kollokationen, die vor allem mit dem Lexem face gebildet werden. Jean Renson nennt in diesem Zusammenhang: tourner, montrer, abaisser, embroncher, incliner, élever, détourner, cacher la face sowie en pleine face, de prime face, en face (vgl. Renson 1962: 241–251).

14 Dieser Gesichtsverlust wird für den Leser auch dadurch spürbar, dass die formelhafte, an literarische Konventionen angelehnte descriptio superficialis hier einem individuellen Stil weicht, der die emotionale Aufgewühltheit der Protagonistin über die Fragmentierung der Sätze in kurze, durch Kommata zerteilte Abschnitte sowie den damit einhergehenden abgehackten Rhythmus der Sätze ikonisiert.

15 Die Tatsache, dass Térée ausgerechnet Tränen als Ausdrucksmittel seiner Täuschung wählt, ist auch vor dem Hintergrund bedeutungsvoll, dass in religiösen Texten der damaligen Zeit die Frage nach der Authentizität bzw. Verlogenheit von Tränen ein rekurrentes Thema darstellt (vgl. Blanchfield 2012: XXII–XXV). Es handelt sich also durchaus um eine nicht ganz vertrauenswürdige Interaktionsform.

16 Prinzipiell wären auch die Kollokationen "baisser le vis" (Dictionnaire 1880–1895: 261) oder "baisser la face" (vgl. Renson 1962: 241) für die Zeit durchaus belegt. Im Übrigen taucht teste nur noch an einer anderen Stelle des Texts auf, nämlich in Zusammenhang mit dem leblosen, objektivierten Haupt von Térées Sohn ("teste tranchiee", v. 1324; "La teste an mi le vis gitee", v. 1412). So gesehen tritt die Starrheit und Künstlichkeit von Térées Gesicht im Moment der Vorspiegelung verstärkt in den Vordergrund.

17 Dieser wird im Übrigen auch auf sprachlicher Ebene unmittelbar spürbar: Während der Text Philomena vor der Vergewaltigung drei Mal mit den Gesichtswörtern vis und face bezeichnet (v. 141, v. 206, v. 598), wird danach nicht mehr explizit über ihr Gesicht als Ganzes, sondern höchstens über seine Einzelteile gesprochen.

18 Dieser Akt der Zungenkontrolle könnte auch symbolisch gelesen werden insofern, als das Sprechen über die Vergewaltigung tabuisiert ist und Philomena sonst auch vor der Öffentlichkeit ihr Gesicht verlieren und sich sozial isolieren würde.




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19 Auch (panto-)mimische Ausdrucksmöglichkeiten kann sie nicht nutzen, da Térée sie abgeschottet in einem Landhaus versteckt hält.

20 Dieses Argument eines durchaus beredten Schweigens findet sich etwa auch in James-Raoul (1997: 412–415).

21 Hierdurch wird freilich auch Philomenas und Procnés Schuld abgeschwächt.

22 Die Verbindung von Essen und Sexualität ist bereits zuvor im Text hergestellt worden, als Térée Philomena erstmals bei einem Mahl begegnet und es in Bezug auf sie sexualisierend heißt: "C'est ses boivres, c'est ses mangiers" (v. 601).

23 So heißt es etwa bei Thomas von Aquin, die Tatsache, dass der Mensch aufrecht gehe und die Hände frei habe, sorgten dafür, dass der Mensch seinen Mund nicht nur zur Nahrungsaufnahme, sondern auch zum Reden nutzen könne (vgl. Aquin 1480: I.91).

24 Das Französische zeigt diese Bedeutung bereits über die Homonymie von 'Zunge' und 'Sprache' im Wort langue an.

25 Diese Verteilung der Semantiken ist auch insofern symptomatisch für die höfische Kultur, als die Sündhaftigkeit hier nicht mehr – wie häufig in vorherigen Texten – mit dem weiblichen Geschlecht in Verbindung gebracht wird, sondern die Frau hier als Trägerin höfischer Ideale idealisiert wird (vgl. Krywalski 1985: 115).

26 Nicht nur das Weben des Teppichs, auch der Vogelgesang kann als künstlerische Darbietung gelten, wenn man bedenkt, dass im Mittelalter rege Diskussionen über das Wesen der Musik geführt werden, welche die menschlichen und tierischen Artikulationen gleichermaßen analysieren (vgl. Leach 2011: 248). Gleichzeitig rücken diese indirekten, vermittelten Ausdrucksweisen Philomena in die Nähe zum Autor, wodurch nicht nur der kulturelle Wert der Schriftkultur in Opposition zur Mündlichkeit betont wird, sondern auch erneut Sympathielenkung betrieben wird.

27 Die Tatsache, dass erwähnt wird, dass Térée das Schwert aus der Hand fällt, lässt sich hier als symbolische Entmännlichung des Gewalttäters verstehen, die wiederum auf seinen Ehrverlust hinweist.

28 Wie Wendy Pfeffer (1985: 215–217) beschreibt, ist die Nachtigall im Mittelalter mit weitgehend positiven Konnotationen besetzt und impliziert 'Frühling', 'Liebe' und 'Freude'.