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Katrin Schmeißner (Chemnitz)



Sabine Schrader / Daniel Winkler (Hg.) (2013): The Cinemas of Italian Migration. European and Transatlantic Narratives. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing.



Bei der Berlinale 2016 wurde zum ersten Mal seit 60 Jahren der Hauptpreis nicht an einen der Nominierten aus dem Bereich Spielfilm, sondern an einen Dokumentarfilm vergeben, an Fuocoammare von Gianfranco Rosi. Diese in mehr als einem Jahr Aufnahmearbeiten auf Lampedusa entstandene Dokumentation changiert inhaltlich zwischen zwei Ebenen des dortigen Alltags: Sie zeigt einerseits die Ankunft von Tausenden Geflüchteten, andererseits das Leben eines einheimischen zwölfjährigen Jungen. Rosi bezeichnete den Dreh als seine "bisher schwerste Arbeit" (ZEIT ONLINE 2016). Die Jury würdigte das Werk als "notwendig, eindringlich, visionär", der Direktor der Filmfestspiele, Dieter Kosslik, lobte es emphatisch als "kraftvoll", die Presse nannte es "besonnen" (ebd.). Diese überraschende Wahl, die bedeutsame Anerkennung und nahezu einstimmig positive Resonanz darauf lässt aufmerken.

Antworten auf die Fragen, welchen Stellenwert das Thema Migration innerhalb der italienischen Filmgeschichte einnimmt, welche Aspekte historische und zeitgenössische kinematografische Strömungen des Migrationsfilms auszeichnen, gibt der von Sabine Schrader und Daniel Winkler herausgegebene Sammelband. Das Korpus der im Band untersuchten Filme zum Thema der E- oder Immigration schließt italienische Mainstream-Produktionen, internationale Koproduktionen, experimentellere regionale oder transnationale zeitgenössische Werke sowie Dokumentationen aus der Zeit zwischen Il cammino della speranza (Pietro Germi) von 1950 und Into Paradiso (Paola Randi 2010) ein. Der Fokus der Analysen liegt auf Narrativen, die aus kulturwissenschaftlicher Perspektive (nach Müller-Funk 2002) als zentrale Kulturtechnik einer individuellen und kollektiven Erinnerung verstanden werden.




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In ihrer Einleitung skizzieren die Herausgeber die Entwicklung zentraler Konzepte und Genres: Während Migration im Stummfilm und im faschistischen Kino selten gestreift wird, stellt der neorealistische Film nach dem 2. Weltkrieg die inneritalienische Süd-Nord-Flucht dar, etwa in Vittorio de Setas Contadini del mare (1956) und Francesco Rosis Le mani sulla città (1963) oder Tre fratelli (1981). Dabei verfestigten sich zwei Darstellungsmodi des meridione: erstens als archaische, mythenreiche Region, zweitens jedoch auch als die von Armut gezeichnete (das sog. africa a casa). Der sich daraus ergebende kulturelle Konflikt zwischen bäuerlich-katholisch geprägtem Verhalten der Süditaliener und dem geschäftigen Treiben in den großen Städten wurde geradezu zum Leitmotiv (etwa in Lucino Viscontis Rocco e i suoi fratelli, 1960), zum prototypischen Erzählmuster über das Misslingen eines Lebens mit anderen Wertmaßstäben innerhalb des eigenen Landes. Ab Mitte der siebziger Jahre fand der Schwerpunkt der Binnenwanderung eine Ergänzung in dem der Abwanderung ins nordwestliche Ausland, z.B. nach Frankreich, in die Schweiz (Franco Brusati, Pane e chocolate, 1974) und nach Deutschland. In diesen Filmen wurden anhand der migratio sozio-ökonomische Konflikte aufgezeigt und diese oft mit einem Opfer-Diskurs sowie einer klischeehaften Sehnsucht nach Italien verbunden. Häufig galt das Augenmerk Familie und Mafia; die Grenzen zwischen Thriller und Melodram verschwammen und das Subgenre des Mafia-Films (Francis F. Coppola) konnte sich etablieren.

Nach einer Zäsur kehrte erst in den 1990er Jahren die Migration als Thema auf die Leinwand zurück (genannt sei Michele Placidos Pummarò, 1990), sowohl mit Reminiszenzen an den Neorealismus (z.B. das Zitieren von Motiven wie Hoffnung und Enttäuschung), als auch mit Visualisierungen von leeren Plätzen oder Bahnhöfen als Zwischenorten sowie mit ersten Zeichen des cinema d'impegno (Gianni Amelio, Lamerica, 1994). Charakteristisch für Filme dieser Zeit ist die Verbindung von Roadmovie und Melodram. Wenn sie die illegale Einwanderung thematisierten, betonten sie das Medium in seiner Funktion, Unsichtbares – Migranten und die Erfahrung der Marginalisierung – sichtbar zu machen. Ab Ende der 1990er wurden diese Narrative aufgrund der zunehmenden Einwanderung und des Erfolgs von Pummarò und Lamerica präsenter auf der Leinwand, wobei die melodramatische Ausrichtung erhalten blieb. Das sich daran anschließende heutige Kino der Migration arbeitet nicht eingleisig mit einem oder wenigen Themen. Vielmehr zeichnet es sich durch ein sehr weites Spektrum an aufgegriffenen Realitäten, Topoi und Genres aus: Melodramen und Roadmovies, Krimis oder Komödien greifen den Sachverhalt auf, wobei sich Genremerkmale überlagern und die Filme mit Gattungscharakteristika und der Zuschauererwartung spielen. Unter derartigen Produktionen weisen die des accented cinema aus der Hand von Filmemachern ausländischer Herkunft (cinema medio d'autore: Ferzan Ozpetek, Haile Gerima) eine gute Qualität auf und verbuchen mittlere Einnahmeerfolge, bleiben aber im Vergleich mit anderen Ländern immer noch ein 'zurückhaltender Trend'. Neben z.T. an den Dokumentarstil angelehnten Filmen mit polyglotter Ausrichtung gewinnen überdies Dokumentationen an Bedeutung (Babooska, 2009).



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Generell sind es nach Schrader / Winkler kleinere Produktionen, welche die tradierten erzählerischen Fixpunkte Opfer–Enttäuschung hinter sich lassen und neue Gender-Perspektiven aufzeigen. Die Komödie, welche tendenziell seltener Migration thematisiert, wagt es, normative Geschlechterkonstruktionen unvoreingenommen aufzubrechen. Daneben werden im Spielfilm u.U. nationale kulturelle 'Standards' (wie Familienorientierung, mascilismo), Handlungs-, gestalterische, sprachliche und sexuelle Begrenzungen zurückgelassen; stattdessen bevorzugen die Regisseure eine Trash- und Videoästhetik. Hier zeigt sich eine hybride, experimentelle Gestaltung mit Distanz zu klassischen Stereotypen der Filmgeschichte und des film d'impegno. Jetzt finden auch Globalisierungsprozesse ihren Niederschlag im Kino: So, wie diese zur Glokalisierung führen, d.h. zur Verbindung globaler Prozesse mit nationalen oder regionalen Traditionen (vgl. Robertson 1995), werden auch im Migrationsfilm globale Film-Topoi und Ästhetiken national oder regional lokalisiert. Gleichzeitig rekurrieren viele sehr junge Regisseure inhaltlich und ästhetisch auf das Filmschaffen der Nachkriegszeit, um dem Erzählten Authentizität zu verleihen. Summa summarum konstatieren die Verfasser, dass die Migration ihren Niederschlag in einem breiten Spektrum von Aneignungsmodi und einer Vielzahl von Narrationen gefunden hat, deren gemeinsamer Nenner die Hoffnung und Enttäuschung angesichts der italianità ist.

Diese Narrative werden in den drei Kapiteln des Buches, "The Southern Question and Italian Cinema", "Northward, Westward. Italian Emigration and International Cinema" sowie "Film Genre and 'Italianità'" eingehend untersucht. In den drei Themenblöcken sind sechs, fünf und vier Beiträge – systematisch geordnet nach dem Erscheinungsdatum der in ihnen besprochenen (Einzel-)Werke – enthalten. Aus dem ersten und längsten Kapitel sollen an dieser Stelle exemplarisch drei Analysen herausgegriffen werden: Einführend beleuchtet Laura Rascaroli punktuell das filmische Œuvre Roberto Rossellinis, Pietro Franciscis und Pietro Germis, wobei sie die Repräsentationen lokalen Reichtums bei Rossellini und Francisci als identitätsfestigend interpretiert. Dagegen wird das Land bei Germi, der anfangs ebenfalls dem Neorealismus zugerechnet wurde, als fragmentiert, sein Nationenbildungsprozess als unabgeschlossen und gleichzeitig (be-)fremd(-lich) erfahren. Daniel Winkler weist in seinem Beitrag die Aussage Marco Belocchios, das cinema d'autore des Landes sei zu selbstreferentiell, an seinem Film Il regista di matrimoni (2006) detailliert nach. Denn dieser birgt eine Fülle von Anspielungen schon durch die Situierung seines Sujets in Sizilien, womit u.a. das Nachkriegskino, Lucino Visconti, Federico Fellini, Giovanni Verga und Giuseppe T. di Lampedusa zitiert werden. Diese Anspielungen, so Winkler, machen das Werk zu einer Inszenierung der Krise des Kinos. Dem gegenüber stellt er Vincenzo Marras Tornando a casa (2001) und Roberta Torres Sud Side Story (2000), die regionale Traditionen, aber auch internationale Massenphänomene miteinander kontrastieren, wodurch es zu einer Öffnung von Ort und Genre kommt. Veronica Pravadelli vertritt in ihrem Beitrag die These, Amelios Lamerica verstärke die Gender-Asymmetrie, indem er Frauen aus dem historischen Nationbuilding ausschließt. Die Beziehung zwischen den Protagonisten Gino und Michele, dem Vater und dem Sohn, als Repräsentanten verschiedener Generationen entspricht dem kinematografischen Diskurs über die nationale Geschichte; der männliche Charakter bekommt strukturelle Bedeutung in Bezug auf Italien – ähnlich wie im Bildungsroman. Weiterhin bietet der Themenblock Untersuchungen von Alessandra di Maio zu A sud di Lampedusa (2006), von Alice Bardan und Aine O'Healy zur transnationalen Mobilität und prekären Arbeitsverhältnissen im Europa nach dem Kalten Krieg, erörtert anhand von Cover Boy (2006), sowie von Francesca Esposito zu Fluchtversuchen vor wirtschaftlich wie moralisch unbefriedigenden Lebenszusammenhängen in zeitgenössischen Dokumentationen.




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Im zweiten Teil widmet sich Alberto Zambenedetti der Erneuerung des italienischen Migrations-Kinos, den dabei involvierten Regisseuren und dem Wirtschaftsboom; Sophie Rudolph geht der Frage nach der Präsenz von Italienern im Schweizer Film nach. Camille Gendrault analysiert den Umgang mit Stereotypen in Martin Scorseses Italianamerican (1974), während Gudrun Rath den krisenhaften Aspekt der Auswanderungs- und Ankunftserfahrung in Un dìa de suerte (2002) untersucht und Aurora E. Rodonò Migrations-Verfilmungen in Deutschland und Italien einander gegenüberstellt.

Im dritten Block beleuchtet Rada Bieberstein das Schaffen Ferzan Ozpeteks und dabei insbesondere Mine vaganti (2010) im Hinblick auf die Filmtheorie zur Transkulturalität; Doris Pichler nimmt Carlo Mazzacuratis La giusta distanza (2007) zum Anlass, auf die vielschichtigen Darstellungsmodi der klischeehaften Verbindung vom Anderen und Kriminalität einzugehen. Jörg Mettelmann befasst sich mit den emotionalen Bindungen und ihren ethischen Implikationen im Gegenwarts-Melodram zur Migration. Ein Beitrag von Gaoheng Zhang zur 'Migrations-Komödie' und der in ihr sichtbaren Hybridisierung von Männlichkeitsmodellen beschließt den Band.

Positiv zu vermerken ist, dass im Gegensatz zur Einleitung, in der vorrangig die inhaltliche Ebene der Filme als argumentative Basis dient, in den Einzelbeiträgen neben dem Werkimmanenten gesellschaftstheoretische, soziokulturelle sowie produktionsästhetische Bedingungen aufgegriffen werden und über sie jeweils eine stimmige Kontextualisierung erfolgt. Durchgehend ist den Beiträgen ein stichhaltiges Behandeln des Themas auf hohem Niveau, gleichermaßen Denkschärfe wie Originalität im Umgang damit zu attestieren. Auf diese Weise wird immer auch das kanonbildende bzw. sich einer Kanonisierung widersetzende Potential des entsprechenden Werkes evident. Die gelungene Verbindung eines einführenden inhaltlichen Rahmens mit der punktuellen Untersuchung einzelner Filmbeispiele, sinnvoll ausgewählte, fundierte Quellen und eine kohärente Darstellung lassen insgesamt ein schlüssiges Panorama entstehen. Abgerundet wird dieses durch eine ergänzende, sorgfältig zusammengestellte Filmografie.

Mit seiner besonderen Akzentsetzung hebt sich der Band deutlich von den wenigen anderen früheren oder späteren Publikationen mit ähnlicher inhaltlicher Ausrichtung ab: von der Monografie Sonia Cincinellis I migranti nel cinema italiano (2009) zu neuen und neuesten Produktionen, von Andrea Corrados und Igor Mattinotis Cinema e autori sulle tracce delle migrazioni (2013) zum Gesamtphänomen seit 1915 und von Emma Bonds Destination Italy (2015), die den Gegenstand allenfalls anreißt. Prägnant, schnörkellos und verständlich formuliert, schließt er damit nicht nur die bestehende Forschungslücke. Sondern er liefert den Beweis, dass ein gegenwartsbezogener Forschungsgegenstand, oder: einer, der aktuelle Entwicklungen streift und häufig eher als zu meidendes Wagnis denn als gern angenommene Herausforderung wahrgenommen wird, methodisch stringent1 und mit der nötigen Sachkunde aufgearbeitet, durchaus zu einem informativen, aussagekräftigen und sehr erhellenden Resultat führen kann.




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Insofern bietet er sich für eine einführende Lektüre ebenso an wie für künftige Analysen, denen er erfreulicherweise als Ausgangspunkt dienen kann und darüber hinaus mannigfaltige interessante Impulse liefert. Vor diesem Hintergrund bleibt zu wünschen, dass die Herausgeber und Autoren sich auch in Zukunft kinematografischer Untersuchungsfelder annehmen, lohnenswert wird es weiterhin sein. Schon allein beispielsweise, weil Fuocoammare fraglos als dokumentarisch im Sinne eines Zeit-Zeugnisses zu verstehen ist, aber ebenso augenfällig Elemente des zeitgenössischen italienischen Spielfilms von Autorenfilmern enthält und Klassiker der Filmgeschichte evoziert. Schon dem nachzugehen wäre vielversprechend.


Bibliografie

Brunetta, Gian Piero (2003): Cent'anni di cinema italiano. Bd. I.2. Bari: Laterza.

Müller-Funk, Wolfgang (2002): The Architecture of Modern Culture. Towards a Narrative Cultural Theory. Berlin: De Gruyter.

Robertson, Roland (1995): "Glocalization: Time–Space and Homogeneity–Heterogeneity", in: Featherstone, Mike / Lash, Scott / Robertson, Roland (Hg.): Global Modernities. London: Sage publications, 25–44.

ZEIT ONLINE (20.02.2016): "Lampedusa-Drama 'Fuocoammare' gewinnt Goldenen Bären", in: ZEIT online [http://www.zeit.de/kultur/film/2016-02/berlinale-goldener-baer-preisverleihung-film, 05.07.2016].


Anmerkung

1 So findet sich kein Hinweis auf Pier P. Pasolinis Werke der 'inneren Emigration', die im Ausland gedreht wurden (vgl. Brunetta 2003). Auch andere Produktionen, die nur das Thema der Reise aufgreifen, wie Amelios Le chiavi di casa bleiben außen vor.