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Lia Imenes Ishida (Berlin)



Christian Leistenschneider (2015): Formen des Ich. Identitätsproblematik und Figurenpoetik in der Prosa Gottfried Benns. Heidelberg: Winter (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 341), 408 S.


Mit der Veröffentlichung seiner Studie Formen des Ich erweitert Christian Leistenschneider die bereits vorliegende Forschungsliteratur über Gottfried Benn um weitere knapp 400 Seiten. Ein Blick in die Gottfried Benn Bibliographie (Hanna 2006), die über 2500 Titel der Sekundärliteratur aus dem Zeitraum 1957–2003 verzeichnet, oder eine Recherche in der Onlineversion der Bibliographie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft (BDSL), die beinahe 1200 Publikationen seit 1985 auflistet, zeigt, wie intensiv der Dichter und Essayist in den letzten Jahrzehnten unter verschiedenen Aspekten untersucht worden ist. Dabei ist die Problematik des 'Subjekts' ein sehr frequentiertes, wenn nicht das zentrale Thema der Benn-Forschung. Angesichts des gewagten Vorhabens, das Problem in einer Monografie wiederaufzunehmen, ist also ein dezidiert neuer Ansatz oder eine originelle These zu erwarten, wodurch man die eigene Forschung von den vorherigen Arbeiten deutlich abzugrenzen vermag. Diese Anforderung verspricht sich Leistenschneider durch Rückgriff auf das Konzept der 'Identität' erfüllen zu können.

Die 'Frage nach dem Ich', womit laut einer Aussage Benns alle Gedichte sich befassen (Benn 2003: 1156),1 will Leistenschneider dennoch nicht in der lyrischen Produktion des Autors untersuchen, sondern in einigen seiner wichtigen Prosawerke. Das in der Studie berücksichtigte Textkorpus umfasst den früheren Novellen-Zyklus Gehirne (1914–16), die späteren Erzählwerke Weinhaus Wolf (1936–38), Roman des Phänotyp (1943–48) und Der Ptolemäer (1947) sowie einige zentrale Essays aus den 1930er Jahren wie Goethe und die Naturwissenschaften (1932), Bekenntnis zum Expressionismus (1933), Dorische Welt (1934) u. a. Somit wird von dem expressionistischen Jahrzehnt über seine Hinwendung zum Nationalsozialismus bis zur Nachkriegszeit die gesamte Zeitspanne des literarischen Schaffens Gottfried Benns in dieser Studie abgedeckt. Ihr Fokus liegt auf der Konstitution der Hauptfiguren der untersuchten Novellen und Romane, insbesondere auf Werff Rönne (Gehirne) und auf dem Phänotyp (Der Phänotyp).




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In dem in der Einleitung eingeführten 'Identitätsbegriff' überschneiden sich zwei Problemfelder. Einerseits sei der Begriff, indem er sich auf das Problem der 'Identität' eines Individuums mit sich selbst bezieht, in dem "philosophischen Identitätsdiskurs" (13) verortet. In diesem Sinne wird er vor allem in der Untersuchung von Gehirne herangezogen. Andererseits wird ein "sozialpsychologische[r] Identitätsbegriff" (14) eingeführt, welcher die durch das kulturelle und gesellschaftliche Milieu bedingte Konstitution von 'Identitäten' vor Augen haben soll. Dieser, den der Autor wahlweise auch "kollektive[n] Identitätsbegriff" nennt, wird in der Auseinandersetzung mit Benns Essays einigermaßen herausarbeitet und dient als Prüfstein bei der Betrachtung der späteren Romane. Somit ist die Studie in ein interdisziplinäres Gelände gelegt.

Die Analyse der Benn’schen Helden stellt allerdings nur einen Aspekt der umfassenden und ambitionierten Untersuchung Leistenschneiders dar. Soweit es sich erfassen lässt, ist das zentrale Anliegen der Formen des Ich, zu zeigen, dass die Hauptfiguren Rönne und Phänotyp philosophische und theoretische Probleme der Epochen, in denen die jeweiligen Prosastücke entstanden sind, in sich verdichten. Diese These versucht der Autor einleuchtend zu machen, indem er eine Reihe von Theorien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus allen Wissensbereichen ausführt, um dann auf ihre Ähnlichkeiten mit und Unterschiede zu den literarischen und essayistischen Texten Benns hinzuweisen. Werke der Philosophen Edmund Husserl und Oswald Spengler, der Ärzte und Psychologen Wilhelm Wundt, Semi Meyer und Carl Gustav Jung, des NS-Staatsideologen Alfred Rosenberg – um nur einige Referenzfiguren zu nennen – werden im Laufe des Textes mehr oder weniger extensiv vorgestellt. Dadurch gelangt Leistenschneider zum Diagnostikum eines weit verbreiteten 'Krisenbewusstseins' in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Kategorie des 'Subjekts' steht. Wie schon geahnt werden könnte, werden Benns Figuren dem Diagnostikum der Subjektkrise entsprechend durch ihr Scheitern bei der Identitätsbildung charakterisiert.




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Im ersten der vier Kapitel, das ausschließlich einem Umriss des 'problemgeschichtlichen Kontexts' gewidmet ist, werden auf knapp 90 Seiten einige der im Buch behandelten Themen bei vier Philosophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besprochen. Eingeführt werden Oswald Spenglers einflussreiches Buch Untergang des Abendlandes, die Wissenschaftskritik des unbekannten Hugo Dingler, erkenntnistheoretische Überlegungen des späteren Edmund Husserl und Theodor W. Adornos Kritik an Spengler sowie Aspekte seiner mit Max Horkheimer geschriebenen Dialektik der Aufklärung. Mit dieser theoretischen Einleitung versucht Leistenschneider eine 'Krisendiagnose' in den Werken der genannten Autoren herauszuarbeiten, worüber sie trotz ausgesprochen unterschiedlicher Standpunkte "weitgehend einig" (109) seien. Ungeachtet thematischer Berührungspunkte mit den Schriften Benns, die der Autor im Laufe des Texts andeutet, ist der Gewinn dieses Kapitels für die gesamte Argumentation fraglich. Zunächst weil die nirgendwo gerechtfertigte Auswahl ausgerechnet dieser vier Philosophen etwas willkürlich erscheint. Wie der Literaturwissenschaftler selbst einräumt, wurden Husserl und Adorno von Benn kaum zur Kenntnis genommen. Außerdem lässt sich in der schwer durchdringlichen Darstellung kaum ein roter Faden erkennen. Das Verhältnis des ersten Kapitels mit dem Rest des Buches ist vor allem deshalb problematisch, weil die eingeführten Philosophien später nicht Gegenstand eines systematischen Vergleiches mit Benns Texten sein werden. Die vier behandelten Autoren werden in den folgenden Kapiteln nur am Rande, meistens in den Fußnoten erwähnt.

Vor der eigentlichen Analyse der Rönne-Novellen werden im zweiten Kapitel wiederum einige, immerhin von Benn rezipierte psychologische Diskurse 'der Zeit' um 1900 eingeführt. Damit wird ein Überblick über zentrale Begriffe von Wilhelm Wundt, Theodor Ziehen, Carl Gustav Jung, Otto Weiniger, George H. Mead, Semi Meyer und Traugott Konstantin Oesterreich verschafft, anhand derer Leistenschneider im Anschluss die psychologische Struktur der Figur Rönne zu ergründen versucht. Abweichend von der herrschenden Interpretation wird in Formen des Ich behauptet, dass der Zyklus nicht den Konstitutionsprozess des Ich nach dem psychischen Zusammenbruch der Figur im ersten Kapitel darstelle. Anstatt als autonomes Subjekt in der Form eines Künstlers zu erscheinen, verzichte Rönne am Ende des Zyklus, so die vertretene Interpretation, auf ein stabiles Ich (174). Um diese Lesart plausibel zu machen, muss der Literaturwissenschaftler die Reihenfolge2 der Novellen ändern und die Novelle Die Insel als Abschlusstext des Zyklus betrachten.




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Zwischen der Analyse des frühen Zyklus Gehirne und des späteren Prosabands Der Ptolemäer analysiert Leistenschneider im dritten Kapitel Benns Essays der 1930er Jahre, in denen er eine "Perspektivenverschiebung von Fragen der individuellen zur kollektiven Identität" (214) feststellt. Er verschafft zunächst einen Überblick über biologische, psychologische und philosophische Ideen, die Benns Empfänglichkeit für die nationalsozialistische Ideologie zu Grunde liegen sollen, um anschließend einen differenzierten Vergleich zwischen den Essays und den Rassen- und Staatstheorien u. a. der NS-Ideologen Alfred Rosenberg und Carl Schmitt zu unternehmen. Dabei wird die These vertreten, dass selbst wenn der Essayist für eine Zeit den Nationalsozialismus unterstützte, er dem Wahn einer deutschen Überlegenheit nie ganz verfallen gewesen sei, aber stattdessen in den 1930er Jahren die 'nordeuropäische weiße Rasse' zum Ideal erhoben habe. Entscheidend für die Argumentationslinie an dieser Stelle ist der Befund, dass mit dem Glauben an die 'white supremacy' ein gewisser historischer Optimismus sowie ein positiver Begriff von Identität in den Benn’schen Schriften zum Vorschein kommen. Im letzten Teil des Kapitels, der sich mit der Auseinandersetzung des Essayisten mit der offiziellen Kulturpolitik des Dritten Reiches befasst, wird dargestellt, wie trotz des Versuchs, sich selbst zum 'heroischen Dichter' zu ernennen, Benn von der Ideologiemaschine Rosenbergs ergriffen worden sei. Obwohl der Autor den opportunistischen Charakter der Argumentation Benns wenig beachtet und seine rassistischen Positionen relativieren zu wollen scheint, ist das Kapitel wahrscheinlich das konsistenteste und interessanteste des Buches.

In der Untersuchung der späteren Romane im letzten Abschnitt des Buches geht Leistenschneider von der Annahme aus, dass der namenlose Erzähler des Romans Weinhaus Wolf sowie der Ptolemäer (Hauptfigur des gleichnamigen Werkes) auch 'Phänotypen' seien. Der Autor stützt sich hierfür auf Benns Definition, nach dem ein 'Phänotyp' sei: "das Individuum einer jeweiligen Epoche, das die charakteristischen Züge dieser Epoche evident zum Ausdruck bringt, mit dieser Epoche identisch ist, das sie repräsentiert" (Benn, nach Leistenschneider S. 335). Anhand der Lektüre der Erzählwerke versucht der Autor zu zeigen, dass sich die drei Hauptfiguren durch einen kulturellen Relativismus kennzeichneten. Dieser komme in Weinhaus Wolf deutlich zum Vorschein, in der Umwertung der eurozentrischen Rassenideologie (323) und in der Ablehnung des "universalistischen Anspruch[s] des abendländischen Menschenbilds" (326) der Hauptfigur. Bei den anderen Charakteren kann der 'Kulturrelativismus' nur auf indirekte Weise nachgewiesen werden. Im Roman des Phänotyp zum Beispiel erfolge der Relativismus aus seiner extrem subjektivistischen Perspektive der Figur, die die Realität als Produkt des Geistes betrachtet (352).




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Wenn dieser Versuch, den unklar vorgetragenen Gedankengang in Formen des Ich zu rekonstruieren, gelungen ist, könnten die Hauptargumente des Buchs wie folgt zusammengefasst werden: Die Benn’schen Figuren aus den Jahren des Ersten Weltkrieges sowie die des Zeitraums von 1936–1949 seien als Ausdruck eines Krisenbewusstseins, welches hauptsächlich als 'Identitätskrise' angenommen wird, zu begreifen. Aber mit einem Unterschied, der zwischen den 'phänotypischen Figuren' des Bandes Der Ptolemäer und dem Protagonisten Rönne im kurzen Resümee des Buches festgehalten wird:

Der Figurenentwurf [im Zyklus Der Ptolemäer] thematisiert nicht mehr primär die Konstitution personaler Identität […], sondern fokussiert Fragen kultureller Identität als Zugehörigkeit bzw. Distanz zu Lebens-, Denk- und Symbolisierungsformen, vor allem im Hinblick auf eine spezielle historische Situation. (384)

Die Essays der 1930er Jahre, insofern sich in ihnen ein historischer Optimismus und ein positives Menschenbild zeigen, stellen eine Ausnahme in der durch Nihilismus geprägten intellektuellen Laufbahn des Schriftstellers dar.



Diese Argumentationslinien und zentralen Thesen von Formen des Ich lassen sich nur mühsam durch die Seiten und Kapitel verfolgen, wozu auch der etwas aufgeblasene und anstrengende Sprachstil des Urhebers beiträgt. Eine zu große Zahl von Denkern und disparaten Theorien werden auf engstem Raum zusammengebracht, wobei sich die Auseinandersetzung mit den Theorien keineswegs auf das Problem der subjektiven Identität beschränkt. Stattdessen befasst sich die Diskussion auch mit Fragen der Erkenntnistheorie, der Geschichtsphilosophie, der Ästhetik und mit der Kritik an den empirischen Wissenschaften. Darüber hinaus ist die Lektüre der Studie durch die vielen Begriffe beeinträchtigt, die bei der Textanalyse – mit relativ kleinem Erkenntnismehrwert – eingeführt werden. Neben der aus psychologischen Diskursen stammenden Terminologie, die zur Charakterisierung der Figuren angewandt werden, kommen Begriffe aus allen möglichen Fachbereichen vor: Paul Ricœurs 'Ipse-' und 'Idem-Identität' (141), die aus der ethnologischen Methodologie stammende "teilnehmende Beobachtung" (311f.), Lord Byrons "mental theatre" (312f.), Karl Jaspers' "Sprache der Transzendenz" (313ff.), Ernst Cassirers 'Ausdruck' und 'symbolische Form' u. a.




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Aus dieser Fülle an Begriffen und Theorien resultiert, wie kaum anders zu erwarten wäre, dass sie nicht immer genau behandelt und/oder verständlich dargestellt werden. Dies gilt nicht zuletzt für das Konzept der 'Identität' selbst, das doch gerade die Achse des Buches bilden sollte. Leistenschneider warnt selbst vor der "Gefahr unspezifischer Semantik und inhaltlichen Konfusionen" beim Umgang mit der "notorischen Begriffsunschärfe" (12).3 Aber ihm gelingt es nicht, präzisere Definitionen von den 'philosophischen' und den 'kulturellen' Identitätsbegriffen anzubringen. Besonders fraglich ist der Rückgriff auf einen 'philosophischen Begriff' der Identität. Die Argumentation scheint sich auf eine angebliche philosophische Tradition zu stützen, die aber abgesehen von einer knappen Vorstellung ihrer Präfiguration bei John Locke (13) nirgendwo ausgearbeitet wird. Die lockere Verwendung der Wörter Identität, Subjektivität, Persönlichkeit und Individualität als Synonyme ist ein Symptom dieser Unschärfe. Noch problematischer scheint in der Studie das Verhältnis zwischen den zwei Identitätsbegriffen zu sein. Anstatt diese zu präzisieren, scheint der Autor sich gerade auf die Mehrdeutigkeit des Wortes zu stützen, wenn er lediglich auf die 'Verschiebung' von dem einen zum anderen Aspekt des Identitätsbegriffs bei Benn verweist. Somit wird die anfangs geweckte Erwartung, dass der Autor die beiden Extreme der Benn'schen Prosa-Produktion miteinander in Beziehung setzen könnte, enttäuscht.



Bibliographie

Benn, Gottfried (2003): Gesammelte Werke in drei Bänden. Hg. von Dieter Wellershoff. Band 2. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins.

Hanna, Christian M. (Hg.) (2006): Gottfried Benn Bibliographie. Sekundärliteratur 1957–2003. Berlin: de Gruyter.

Henrich, Dieter (1979): "'Identität' – Begriff, Probleme, Grenzen". In: Marquard, Odo / Stierle, Karlheinz (Hg.): Identität. München: Fink, S. 133–186.




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Anmerkungen

1 So Benn in seiner an der Universität Marburg gehaltenen Rede Probleme der Lyrik im August 1951: "Ein Gedicht ist immer die Frage nach dem Ich, und alle Sphinxe und Bilder von Sais mischen sich in die Antwort ein."

2 In der ersten und zweiten Veröffentlichung (1916 bzw. 1919) befand sich die Novelle Die Insel vor dem Abschlusstext Geburtstag an vorletzter Position. In der von Benn autorisierten Ausgabe von 1950 ist sie ausgenommen. Leistenschneider stützt sich in seiner Argumentation dennoch auf die von einigen Forschern vertretene These, die Novelle sei nach allen anderen Texten des Zyklus entstanden (vgl. 154).

3 Leistenschneider selbst verweist in diesem Zusammenhang auf Dieter Henrich, welcher die Schwierigkeit mit dem Begriff der Identität auf die Tatsache zurückführt, dass "unter demselben Titel [i. e. Identität] und in einer sachlichen Beziehung zueinander, die sich nur schwer durschauen lässt, zahlreiche und sehr verschiedene Probleme abzuhandeln sind." (Henrich 1979, 133)