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Marina Ortrud M. Hertrampf (Regensburg)



Gegen das Vergessen: Kriegsalltag in Belgien. Narrative Darstellungen der Grande Guerre bei Max Deauville und Georges Linze



Against forgetting. Belgian everyday life in wartime. Narrative representations of the Great War in Max Deauville and George Linze

The purpose of the study is to reveal the literary qualities and thematic particularities of Belgian war literature in French which almost completely fell into oblivion. In exemplary analyses of prose texts of Max Deauville and George Linze the article presents two narrative modes of representing everyday life during the First World War in Belgium. Both Walloon authors experienced the sufferings and cruelties of the First World War and wrote against forgetting the "the great seminal catastrophe of this century" (Kennan).
Deauville, who served at the Yser front as military surgeon, describes the everyday horrors of soldier life in the Belgian trenches in all (medical) detail. His sober and objective way of writing often turns to cynical irony in order to express his pacifist conviction. While Deauville's fictionalised eyewitness reports resemble very much that of his French contemporaries, Linze's novel focuses much more on the particular situation of Belgium during the Great War in describing everyday life of the civil population suffering from the German occupation. Linze's representation of civil life in times of war becomes particularly powerful by the choice of a 1st-person narrator who describes his impressions and experiences through the innocent and naïve eyes of an unnamed boy. By doing so, Linze, who was a child during the Great War himself, expresses his warning against the destructing and lifelong consequences of war. His particular aim is to increase the awareness of the 'forgotten' generation of war children who are strongly affected by the sufferings of war without being part of the commemorative discourses that are so important for the construction of Belgian national identity.


1. Einleitung

Anlässlich der zahlreichen Gedenkfeierlichkeiten zum Ersten Weltkrieg in den vergangenen Jahren beschäftigen sich Literaturwissenschaftler intensiv mit der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", wie George F. Kennan 1979 den Ersten Weltkrieg bezeichnete.1 Im Bereich der romanistischen Literaturwissenschaften perpetuiert sich allerdings eine gewisse Blindheit gegenüber der Kriegsliteratur Belgiens, die zu einem sonderbaren Ungleichgewicht führt: "Le corpus d'œuvres belges inspirées par 1914–1918 est à la fois vaste et mal connu." (Schoentjes 2007)




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Gegen das Vergessen – so der Übertitel des vorliegenden Beitrages, der vor dem Hintergrund der skizzierten Vernachlässigung der relecture frankophoner belgischer Kriegsliteratur des Ersten Weltkrieges bewusst doppeldeutig aufzufassen ist. Zum einen bezieht er sich auf die inhaltliche Dimension der im Weiteren untersuchten narrativen Texte: Erzählungen aus den Sammlungen La Boue des Flandres (1922), Introduction à la vie militaire (1923) und Dernières fumées (1937) von Max Deauville sowie der Roman Les enfants bombardés (1936) von Georges Linze. Diese nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erschienenen Texte wollen ganz bewusst gegen das Vergessen der (belgischen) Katastrophe anschreiben. Zum anderen ist die Untersuchung selbst, d.h. auf der Meta-Ebene, als eine Art Plädoyer gegen das Vergessen der frankophonen belgischen Kriegsliteratur zu verstehen: Die wallonischen – wie im Übrigen auch die flämischen – Stimmen des Krieges sind weitgehend verhallt und dies auch in Belgien selbst. Dies gilt nicht – wie etwa auch mit Blick auf Frankreich – allein für die Lyrik: Wem sagen die Namen der frankophonen Dichter der Grande Guerre, wie Louis Boumal, Lucien Christophe, Marcel Loumaye oder Marcel Paguot, schon etwas? Sondern dies gilt auch – ganz im Gegensatz zu Frankreich oder Deutschland – für die Narrativik. Im Vergleich zu ihren europaweit berühmten französischen Zeitgenossen Henri Barbusse, Roland Dorgelès oder Maurice Genevoix bzw. den deutschen Autoren Ernst Jünger oder Erich Maria Remarque sind Autoren wie etwa Max Deauville oder Georges Linze heute fast gänzlich in Vergessenheit geraten (vgl. Frédéric 2002: 145). Dieses Schicksal betrifft letzten Endes einen Großteil der frankophonen belgischen Literatur, ist in literarisch-ästhetischer Hinsicht jedoch vollkommen unberechtigt. Das Anliegen des vorliegenden Beitrages besteht jedoch nicht darin, die Texte aus der Perspektive des viel diskutierten belgitude-Konzeptes zu lesen,2 sondern vielmehr darin, die literarischen Qualitäten der in Belgien verfassten, jedoch zumeist in Frankreich publizierten und bis heute viel zu wenig beachteten frankophonen Kriegsliteratur am Beispiel von Erzähltexten zweier herausragender frankophoner Autoren aus Belgien aufzuzeigen. Zugleich wird der Blick auf diese Erzählungen aus und zu dem Ersten Weltkrieg zeigen, dass sich trotz aller Anschlussfähigkeit an die europäische Kriegsliteratur im weitesten Sinne pazifistischer Prägung eine gewisse Andersartigkeit erkennen lässt, die jedoch weniger aus der kulturellen Alterität resultiert als vielmehr aus der politischen Sonderrolle Belgiens während des Ersten Weltkrieges.


2. Die Andersartigkeit und 'Unsichtbarkeit' der belgischen Literatur des Ersten Weltkrieges

Die belgische Kriegsliteratur nimmt innerhalb der europäischen Literaturen zum Ersten Weltkrieg in zweifacher Hinsicht einen Sonderstatus ein: So zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie einen Krieg an zwei Fronten darstellt – zum einen das Geschehen an der militärischen Front und zum anderen das Leid der Zivilbevölkerung unter der deutschen Okkupation. Im Gegensatz zu den anderen kriegsteilnehmenden Ländern war die Anzahl der im Krieg beteiligten belgischen Soldaten – und damit auch die Anzahl der sogenannten écrivains-soldats bzw. écrivains combattants – vergleichsweise gering.3 Deshalb vertritt die belgische Kriegsliteratur sehr viel stärker die Perspektive der unter den Gräueltaten der deutschen Besatzer leidenden Zivilbevölkerung. Dies wiederum führte dazu, dass belgische Autoren vielfach haderten, ihre so andere Sicht des Kriegsgeschehens literarisch darzustellen (vgl. De Schaepdrijver 2014). Im Vergleich etwa zu Frankreich fällt überdies auf, dass die frankophonen belgischen Kriegsautoren gemeinhin eine weitaus weniger dezidiert artikulierte politische Position vertreten. Selbst nach Ende des Krieges ist der pazifistische Ton etwa in Deauvilles Erzählungen ungleich verhaltener und gemäßigter als beispielsweise Romain Rollands emphatischer Ruf nach Frieden und Freiheit in Pierre et Luce (1920). Eine Vielzahl der deutlich pazifistisch motivierten Autoren publiziert überdies erst in den 1930er Jahren (vgl. Denis/Klinkenberg 2005: 172–173). Die Bilingualität des Landes führte außerdem zu einer sprachlichen wie kulturellen Heterogenität, auch wenn die Erfahrungen von Invasion und Besetzung, deutschen Angriffen auf die Zivilbevölkerung, Verwüstungen und schier endlosen Schlachten den flämischen ebenso wie den wallonischen Teil Belgiens betrafen. Der Großteil der belgischen Kriegsliteratur ist allerdings französischsprachig, denn während der Kriegsjahre war das Französische – obwohl nicht mehrheitlich gesprochen – die dominante Sprache der intellektuellen Eliten. Dies führte insbesondere in der Nachkriegszeit, in der das flämische Nationalbewusstsein erstarkte, zu einem sprachlich wie nationalkulturell begründeten Auseinanderbrechen der Erinnerungskulturen. De Schaepdrijver beschreibt dies wie folgt:




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The […] reason for Belgian front literature's lack of canonical status is that linguistic differences precluded the imagining of the Belgian front generation as a community of fate. It is true that the actual front experiences of Flemish and francophone soldiers had overlapped. Soldiers had interpreted their experience along similar lines, between tenacity and despair; the existence of two language groups inflected Belgian army culture as a whole; […] But next to these similarities stood the vexations of language at the Belgian front – and these, after the war, echoed through the Flemish accounts and remained absent from the francophone ones. No account or translation ever bridged this gap in perspective. Through the interwar years, a radical Flemish counter-memory of the war emerged, which portrayed the Flemings on the Yser as a front generation sacrificed by the Belgian state. (2014: o.P.)

Das per se nur schwach ausgeprägte Selbstbewusstsein einer gemeinsamen nationalen bzw. kulturellen Identität spiegelt sich indes auch im geringen Prestige wider, das die Literatur in dieser Zeit im eigenen Land genoss: Statt der eigenen Kriegsliteratur wurden vorwiegend französische und deutsche Texte aus und über den Ersten Weltkrieg gelesen.4 Diese 'Selbstverleugnung' ist umso erstaunlicher, als Jean-Norton Cru, der wohl renommierteste Kriegsliteratur-Kritiker der Zwischenkriegszeit, in seiner monumentalen Abhandlung Témoins. Essai d'analyse et de critique des souvenirs des combattants édités en français de 1915 à 1928 (1929) eine Lanze für die belgische Kriegsliteratur brach und bedauernd konstatierte:

Il importe d'attirer l'attention sur les livres de guerre belges que nous sommes mal placés en France pour connaître. Ceux qui furent publiés à Paris, les œuvres de Max Deauville, Grimauty, Lekeux, de Wilde, ont trouvé place dans certaines listes. Mais ceux qui sont publiés en Belgique restent inconnus. (Cru 2006: 294)

Deauville etwa, den Cru als einen der zehn besten Kriegsautoren (vgl. ebd.: 25n) und als "maître incontesté des médecins mémorialistes de la guerre" (ebd.: 640) bezeichnet, war selbst zu Lebzeiten nur wenig bekannt und trotz des großen Lobes von Cru wurden Deauvilles Tagebuchnotizen, die unter dem Titel Jusqu'à l'Yser bereits 1917 in Paris erschienen waren, zwischen ihrem Erscheinen und 1937 in Belgien nur knapp ein Dutzend Mal verkauft (vgl. De Schaepdrijver 2014).5

Im Weiteren sollen nun die zwei wichtigsten narrativen Darstellungsmodi des Kriegsalltags in Belgien exemplarisch anhand von Linzes Les enfants bombardés (in der Wiederauflage von 2002) sowie anhand von ausgewählten Erzählungen Deauvilles aus der 2012 von Pierre Schoentjes zusammengestellten Sammlung La Boue des Flandres et autres récits de la Grande Guerre vorgestellt werden.6


3. Kriegsalltag in Belgien. Narrative Darstellungen der Grande Guerre

Der erste literarische Darstellungsmodus des Ersten Weltkrieges ist die testimoniale Perspektive des Frontkampfes. Deauville, der sich bei Ausbruch des Krieges als Militärarzt freiwillig zum Frontdienst gemeldet hatte, zählt nach der erweiterten Definition von Cru zu den écrivains combattants:




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Considérer tous les récits de combattants en donnant au mot combattant une signification différente de celle des lexicographes mais conforme à la pratique de la guerre de 1914–1918 : tout homme qui fait partie des troupes combattantes ou qui vit avec elles sous le feu, aux tranchées et au cantonnement, à l'ambulance du front, aux petits états-majors : l'aumônier, le médecin, le conducteur d'auto sanitaire, sont des combattants. [...] La guerre elle-même a imposé cette définition fondée sur l'exposition au danger et non plus sur le port des armes […]. (Cru 2006: 10)

Nach Crus Kategorisierung können aber nicht allein Deauvilles Tagebuchaufzeichnungen, sondern auch seine Erzählungen unter die récits de combattants gezählt werden:

Considérer tous les récits de combattants, en donnant à récits de combattants la signification suivante : carnet de route, journal de campagne, souvenirs de guerre, lettres de front, pensées, réflexions ou méditations sur la guerre, récits fictifs, mais seulement lorsque la fiction n'est qu'un voile léger sous lequel on peut distinguer la personne de l'auteur, son expérience de la guerre, son unité, les secteurs qu'il a occupés, en un mot les faits réels de sa propre campagne. (Ebd.: 10–11)

Wie Madeleine Frédéric (2002: 146–147) bezüglich der belgischen Kriegsliteratur zum Ersten Weltkrieg ganz richtig hervorhebt, muss der Geltungsbereich des Begriffs 'Kriegsliteratur' mit Blick auf Belgien im Gegensatz zu Crus frankreichzentrierter Perspektive erweitert werden. Während Cru die Erzählungen und Berichte ziviler Autoren explizit ausschließt (vgl. Cru 2006: 4), erscheint dies aufgrund der Okkupationsthematik für Belgiens Literatur wenig sinnvoll:

En Belgique occupée, cela n'a guère de sens de dire que les civils sont des non-témoins de la guerre: bon nombre d'ouvrages publiés dans l'entre-deux-guerres le montrent à suffisance. Bien sûr, une large part est faite au récit des combats : invasion de la Belgique, résistance puis retraite de l'armée belge, front de l'Yser, victoire alliée et reconquête progressive du territoire ; mais un nombre de pages tout aussi considérable est réservé aux civils. (Frédéric 2002: 146–147)

Beim zweiten Darstellungsmodus handelt es sich folglich ebenfalls um eine testimoniale Form, die jedoch das Alltagsleben der belgischen Zivilbevölkerung in den Blick nimmt. Von anderen europäischen Narrativen der Heimatfront unterscheiden sich die belgischen Erzählungen über das zivile Alltagsleben im Krieg dadurch, dass auch das Leben der Zivilisten durch die deutsche Besatzung vom Krieg gekennzeichnet ist. Im Gegensatz zur Frontliteratur kann diese Form der Kriegsliteratur folglich als Okkupationsliteratur bezeichnet werden.


3.1 Vom Lachen im Schützengraben oder Die grotesken Absurditäten des Krieges: Max Deauvilles La Boue des Flandres et autres récits de la Grande Guerre

Max Deauville, mit bürgerlichem Namen Maurice Duwez (1881–1966), studiert Medizin und praktiziert vor dem Krieg als Allgemeinarzt in Brüssel. Neben seiner Tätigkeit als Arzt verfasst er zahlreiche Romane und Theaterstücke. Mit der deutschen Invasion Belgiens meldet er sich freiwillig und ist – mit krankheitsbedingten Unterbrechungen – bis Kriegsende als Militärarzt u.a. an der Front an der Yser tätig. Ausgehend von seinen Tagebuchnotizen beschreibt Deauville in seinen Erzählungssammlungen den Kriegsalltag an der Front (vgl. Cru 2006: 117). Nach dem Krieg engagiert sich Deauville für die Förderung avantgardistischer belgischer Autoren und leitet von 1948 bis 1957 die französischsprachige Sektion des Pen Clubs Belgien.




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Auch wenn Deauville den Krieg an sich als grundsätzlich gerechtfertigt betrachtet – schließlich geht es um die Wahrung und Verteidigung der belgischen Nation –, so liegt ihm nichts ferner als der patriotische Ton, den eine Reihe von kriegsverherrlichenden Texten der Zeit anschlagen. Ganz im Gegenteil: "La guerre n'est que le suicide misérable d'une foule en folie." (BF: 325) Der Krieg ist hässlich, er degradiert und entmenschlicht den Menschen. Statt vom heroischen Märtyrertod schreibt Deauville vom erbärmlichen Leiden und Sterben. In seinen metaliterarischen Text "La victoire de Samothrace" reflektiert er über das Schreiben über den Krieg und kommt zu der ernüchternden Erkenntnis:

La mort à la guerre est misérable. Le soldat est tué au coin d'un fumier, dans un éboulis de terre grasse. Sa fin est semblable à celle d'un rat qu'on aplatit d'un coup de pelle. (BF: 322)

Es geht Deauville also weniger darum, den Krieg mit Worten zu erklären, als vielmehr darum, sich stets sein Grauen vor Augen zu halten. Krieg mag politisch 'notwendig' sein, aber man muss sich seiner grauenvollen Realität, dem massenhaften Leiden und Sterben, stets bewusst sein. Damit wendet sich Deauville dezidiert gegen jede Form verblendender und heroisierender Mobilisierungsprosa:

Et même s'il faut qu'un jour pour sauver un pays ou l'honneur, de nouveaux soldats prennent les armes, pourquoi leur mentir, pourquoi leur faire miroiter devant les yeux le mirage de la gloire et de l'héroïsme ? S'ils savent qu'ils n'en retireront que la mort ou la déchéance de leur âme, s'ils se résignent quand même, s'ils marchent au danger sans illusion et sans espoir, leur sacrifice en sera-t-il moins grand et moins méritoire ? Hélas ! Nous ne sommes rien. (BF: 325)

Für Deauvilles ironisch bis sarkastischen Stil kennzeichnend sind hier die Verwendung rhetorischer Fragen und der stark appellative Charakter seines Duktus', mit dem der Leser aufgerüttelt werden soll, stets wachen Geistes zu sein und patriotischen Propagandadiskursen nicht blind zu glauben. Noch eindrücklicher wird Deauvilles sarkastische Ironie in diesem Zusammenhang in seinen "Conseils à un embusqué", die an einen Jungen aus der Generation der Kriegskinder, von denen Linze in seinem Roman erzählt, gerichtet sind. Deauvilles Erzähler verkündet:

Va, mon garçon, il faut penser à ton pays ou bien à toi-même. Il est des devoirs envers l'un comme envers l'autre. Le tout est à choisir. […] Mais, si tu veux faire ton devoir, mon fils, tu seras un homme, un soldat. (BF: 203)

Indem Deauville die Schrecken des Krieges mit aller grauenvollen Direktheit und ohne Empathie beim Namen nennt, ridikülisiert und verurteilt er die heroisierende Geschichtsklitterung auf eine geradeweg zynische Art und Weise:

Quand un misérable soldat abruti par la peur, ou luttant de toute son énergie pour y résister, aura été déchiré par un brusque éclatement, qu'en restera-t-il ? Un tas de chairs, d'entrailles et de loques souillées de sang, auquel les injures de la poudre auront donné l'aspect des détritus que déversent les poubelles. La grimace de la mort sera presque dans son horreur, et il en sera de même des gestes déjetés de ses membres brisés. Pourtant lorsqu'il aura été couché sur un brancard et que sous sa couverture étendue, la forme allongée de son corps se reconnaîtra, il commencera à reprendre une existence nouvelle. […] Et lorsque les couleurs du drapeau, en larges touches rouges, jaunes, noires l'auront recouvert de leurs teintes violentes que le soleil exalte, alors il deviendra un brave, un vaillant, que les vivants salueront de leurs gestes et de leurs sonneries, un héros qui entrera de plain-pied dans le mensonge de l'histoire. (BF: 323)




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Um der verlogenen Verzerrung der Absurditäten des Krieges zu entgehen, schreibt der Arzt Deauville in naturalistisch sezierender Weise und mit einem nüchtern-objektiven Stil. Fällt er im Kampf, hat der Mensch hat seine Würde verloren und ist nur mehr zu entsorgendes menschliches Material: "Le matériel humain hors d'usage est transporté aux deux roulis des porteurs." (BF: 218) Einem Arztbericht gleich beschränkt er sich auf das emotionslose Zeugnisablegen und gibt die grotesken Fakten mit brutalem Detailreichtum wieder:

Le matin on vint nous prévenir qu'il y avait un corps là tout près, devant les lignes. C'était un artilleur. Il était fixé sur un brancard. Mort pendant le transport sans doute, les brancardiers l'avaient abandonné. Les rats en avaient très artistement mangé toute une moitié de la face, ne s'arrêtant qu'aux os et aux tendons. Ils en avaient fait une pièce anatomique fort propre. (BF: 228)

Mit dem abgestumpften Blick des nur mehr registrierenden Frontbeteiligten wird das zur absurden Normalität gewordene Sterben dargestellt. Die stakkatohafte, parataktische Schreibweise erinnert dabei an Kugelhagel und das ständige Explodieren der Geschütze:

Le porte-sac, un gros à figure rouge, l'air d'un clown à grimace figée, prend des notes dans un petit cahier.
Le blessé a cessé de crever ses bulles. Sa bouche s'est ouverte toute grande et ses joues se sont creusées.
Il est mort. (BF: 220)

Deauvilles Schreibweise ist jedoch vielschichtig und so nehmen seine Erzählungen immer wieder auch surreal-fantastische Züge an. Damit schreibt sich Deauville zum einen in die 'typisch' belgische Strömung des fantastique réel der Zwischenkriegszeit ein.7 Zum anderen spiegelt sich in den grotesk verzerrten Bildern des Krieges auch der Geisteszustand vieler Soldaten. Der Krieg erscheint als Gespenst, das überall hin verfolgt und verrückt macht. Fratzenhaft und gehässig den Menschen in seinem Menschsein verhöhnend erscheint der Krieg als der Geist des Todes in der verwüsteten Landschaft der Schlachtfelder:

À l'horizon apparaissent sarcastiquement de longs rires verts. La mort semble se hausser de temps en temps ironiquement au-dessus de l'horizon, pour voir… (BF: 216)

Unter den absurd-grotesken Bedingungen des Lebens im Schlamm der Schützengräben mutiert das anfänglich befreiende Lachen, das die Soldaten in den unterschiedlichsten Zerstreuungen wie etwa beim Spielen, in Sketchen oder in Illustrierten suchen, um das Unerträgliche zu ertragen, von der Übersprungshandlung zum irren und bitteren, ja verbitterten Lachen:8

Le rire est le propre de l'homme. Le rire est le propre du crâne décharné. Ils doivent bien rire dans leur capote pourrie, ceux qui dorment là-bas au bord du fleuve, sous une petite croix rongée par les vers et amputée par la mitraille.
Laissons rire les morts. Laissons rire aussi celui-là qui revient de cet enfer. Il a le rire amer. (BF: 201)




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Dem Leser versucht Deauville hingegen immer wieder auch das befreiende und selbstbelächelnde Lachen abzugewinnen. Die Kontrastierung fast schon humoristischer Passagen mit solchen der detailreichen Schilderung der Kriegsgräuel verschärft den Eindruck des Absurden. Am besten gelingt Deauville die komische Brechung, wenn er die Welt der Front als 'unzivilisierten' "village nègre" (BF: 164) präsentiert. Über die Feststellung "L'armée belge étant bilingue, est plus que toute autre un terrain aride pour l'éloquence" (BF: 161) beginnt Deauville seine Definition des Schützengrabens als afrikanisches Dorf, das von "chefs nègres" (BF: 169) und "petits chefs indigènes" (BF: 169) beherrscht wird. Mit einem nicht zu überhörenden Ton kolonialistischer Überlegenheit präsentiert der wallonische Erzähler die 'flämischen Kongolesen' wie ein Ethnologe als naiv-unwissend und brüskiert sich über ihre unverständliche Sprache:9

Le jas flamand n'a que de vagues notions sur l'anatomie. Il divise son corps en trois ou quatre parties: "t'hoofd", la tête, "de borst", la poitrine, "de buik", le ventre, "de benen", les abattis. (BF: 171)

Während Deauville aus seiner eigenen Zeugenschaft heraus auch in seinen (semi-)fiktionalen Texten von der Front schreibt, fokussiert Linze das Leben der belgischen Zivilbevölkerung während des Ersten Weltkrieges, wobei das Leid und die Opfer der Bevölkerung im gewählten Beispieltext nicht im Vordergrund behandelt werden, sondern in die Darstellung des Entwicklungsprozesses eines kindlichen Protagonisten zum jungen Erwachsenen eingearbeitet werden.


3.2 Der Krieg durch Kinderaugen oder Die Identitätsprobleme der vergessenen Generation der Kriegskinder: Georges Linzes Les enfants bombardés

Der 1900 in Lüttich geborene und 1993 verstorbene Linze betritt die literarische Bühne als einer der ersten und wichtigsten futuristischen Dichter der historischen Avantgarde Belgiens. Sein Beitrag zum Projekt der Avantgarde geht aber über den literarischen hinaus: So ruft er mit dem Groupe Moderne d'Art de Liège 1920 einen avantgardistischen Künstlerverein ins Leben und begründet im selben Jahr die futuristische Zeitschrift Anthologie, die bis 1940 erscheint. Linzes literarisches Werk ist überaus umfassend und reicht von futuristischer Dichtung über Romane und Essais bis hin zu Kinderbüchern.

Linze, der den Ersten Weltkrieg als Jugendlicher miterlebte, ist zeit seines Lebens stark von den traumatischen Erlebnissen der leidvollen Kriegs- und Okkupationszeit beeinflusst und verarbeitet diese unter anderem in seinem autofiktionalen Coming-of-Age-Roman Les enfants bombardés. Im Nachwort weist Linze explizit auf die Authentizität seiner Narration hin, die jedoch nicht als Autobiographie zu verstehen sei: "Quand au fond même, si tout est historiquement vrai, sinon vraisemblable, qu'on ne crie pas à l'autobiographie." (EB: 135)




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Auch wenn Linze seinen Text im Nachwort explizit als Roman bezeichnet, erinnert er in gewisser Weise an Blaise Cendrars' J'ai tué (1918), der als Mischung von témoignage, mémoire, journal intime und Autofiktion ebenso sämtliche Grenzen zwischen Genres und Gattungen durchbricht. Ähnlich ist ferner, dass rein erzählerische Passagen von essayistisch-reflexiven und sehr poetischen Passagen abgelöst werden.

Eine der auffallendsten Besonderheiten liegt aber zweifelsohne in der perspektivischen Konzeption: So wird der Roman, der die Schwierigkeiten und Probleme im Alltag eines Heranwachsenden von den Jahren unmittelbar vor Kriegsausbruch bis in die ersten Jahre der Nachkriegszeit schildert, aus der autodiegetischen Perspektive eines namenlos bleibenden, kindlichen Ich-Erzählers vermittelt.10 Die naive, aber genaue Beobachtungsweise des unschuldigen Kindes, das weder moralische noch historische Verantwortung für den Krieg trägt, vermeidet jede Sentimentalität. Durch das kindliche Fassungsvermögen beschränkt wird das registrierend Wahrgenommene zumeist weder konkret benannt noch kann es bewertet werden. Dadurch werden Leerstellen generiert, die der wissende Leser füllen muss. Aufgrund der ungewohnten Perspektive kommt es bei diesem Prozess zu einer Re-Perspektivierung verfestigter Bilder und Sichtweisen des Krieges. Der Rezipient wird so dazu herausgefordert, den Krieg mit neuen Augen zu sehen.

Geographisch ist die Erzählung in Lüttich verortet, was jedoch insofern von relativ wenig Belang ist, als der Ich-Erzähler weniger seine individuell erfahrene, subjektive Sicht auf den Krieg darstellt, als vielmehr, wie noch gezeigt wird, als Kollektivstimme für eine ganze Generation von Belgiern spricht.

Wie in einem Kaleidoskop gibt der Ich-Erzähler zum Teil sehr kurze Erinnerungsmomente in Einzelimpressionen wieder, die nicht zwangsläufig direkt miteinander verknüpft sind. Vielfach wird die Chronologie durchbrochen, was allerdings durch den durchgängigen Gebrauch des historischen Präsens nicht immer gleich deutlich wird. Abgesehen von einigen reflexiven Passagen und Kommentaren über die Auswirkungen des Krieges auf die Generation der Kriegskinder, in denen der erwachsene Erzähler spricht, wird der Kriegsalltag überwiegend aus der Perspektive eines kindlichen erlebenden Ich geschildert. Besonders deutlich wird die Verflechtung des naiv unwissenden Blicks des Kindes, das mit einfacher, parataktischer Sprache spricht, mit dem erfahrenen und kritisch reflektierenden Blick des Erwachsenen bei der Darstellung des Kriegsausbruchs zu Beginn des zweiten Kapitels:

Un prince a été tué.
Un journal illustré montre l'assassinat. Sera-ce un jeu pour demain ?
Puis un jour, sur le mur de l'école, sous l'horloge, cette affiche que je lis rapidement: "La guerre va éclater".
Puis un journal qui écrit : Alea jacta est. On me traduit la phrase.
Puis la guerre que nous acceptons déjà comme une habitude, sans réjouissance, sans peur. Que savons-nous ?
Nulle envie ne nous prend de nous équiper comme avant et de continuer nos batailles dans le parc.
La guerre des hommes fait tomber de nos mains, nos armes puériles. De grands coups martèlent le métal du monde et nous n'entendons point.
Le passé se prolonge pour quelques heures dans l'innocence des enfants. Nous sommes là, comme des pivots si tendres et l'avenir gravite autour de nous. (EB: 43)




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Ein eindrückliches Beispiel für die Wirkkraft der Kinderperspektive liegt im folgenden Beispiel vor:

Soudain, les premiers coups de canon ! De saisissements, nous restons là sans bouger pendant que la toile qui ferme un manège, tombée un peu de travers, laisse s'avancer la tête effrayante d'un cheval. C'est la guerre.
Déjà nous incorporons les détonations à notre vie. Et les gens font comme nous. (EB 45–46)

In der kindlichen Wahrnehmung wird das Gesehene mit Erfahrungen der kindlichen Lebenswelt in Analogie gesetzt. Aufgrund der Konfrontation der äußerst konträren Bereiche von Kriegsgeschehen einerseits und Zirkusereignis andererseits wird ein besonders starker Effekt erzielt. Auch der kindliche Beobachter bemerkt, dass der Krieg seine Spuren hinterlässt und die Alltagswelt des Menschen verändert:

Et cette route ! Nous l'avons connue calme et paisible; elle allait jusqu'au village, du village à la ville. […]
En quelques jours, la route s'est transformée en armée. Elle unit un empire, à la ligne du front où elle s'ouvre comme un estuaire. (EB: 66)

La vie se métamorphose sous mes yeux. Les sirènes du travail, les sirènes des usines annoncent les aéroplanes en raid, chargés de bombes, et paraît-il, d'aiguilles acérées. (EB: 78)

Die Natur hingegen nimmt das Leid der Menschen nicht wahr: Trotz des Sterbens singen die Vögel ihr unbeschwertes Lied. Das Sterben wird durch die Kontrastierung mit der sommerlichen Leichtigkeit nur umso stärker akzentuiert:

Et ces maisons qui croulent, qui brûlent, ces rafales de foules qui nous secouent ?
Et cette lune impassible ?
Et ces hirondelles, au vol inchangé, ces plantes qui ne cessent pas de vivre et de parfumer ?
Les insectes ignorant nos drames, ces souris rongeant les charpentes… (EB: 60)

Dieses Beispiel illustriert mit den Anaphern, den rhetorischen Fragen und der Anthropomorphisierung der Tierwelt zugleich die Poetizität vieler Passagen des Romans, in denen Linzes dichterisches Können deutlich hervortritt: "L'écriture se distingue d'ailleurs par l'originalité incontestable des images, elles rappellent que l'auteur a été le poète futuriste le plus important de Belgique." (Schoentjes 2004)

Der materielle Mangel prägt den Lebensalltag der Menschen, der Hunger wird zur beherrschenden Macht des täglichen Lebens, die zunehmend auch das gesamte Denken beherrscht:

Les gens mangent les animaux domestiques et cuisent des orties. Souvent en pensée, nos mains, comme des tentacules à travers les vitres, dévastent les magasins. Le lard et la graisse – divinités bienfaisantes et inaccessibles – obsèdent notre enfance affamée. La matière acquiert ainsi une spiritualité de plus en plus dominatrice. (EB: 79)




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Linze bringt die alles vereinnahmende Fokussierung auf das essentiellste Bedürfnis des Menschen im folgenden Auszug durch die sich durchziehende Isotopie des Essens und die abschließende Dominanz des Verbes "manger" auch sprachlich zum Ausdruck:

Le charbon de médiocre qualité ne chauffe presque pas. […] J'ai faim. La lampe de la cuisine sent, elle éclaire mal. Je pense au pain ; je ne peux plus m'empêcher de penser au pain que l'on place au milieu de la nappe, au pain trop petit qui règne comme un talisman avant de disparaître en chacun de nous… Si je le dévorais, si je m'emplissais la bouche de sa mie et de sa croûte ! Fuir dans le bois, manger à ma faim, m'emplir la bouche, avaler sans mâcher, manger, manger, manger. (EB: 75–76)

Gehört die erste schockierende Erfahrung mit dem Tod zum normalen Prozess des Erwachsenwerdens, so wird das zahllose Sterben in Kriegszeiten zur Normalität – und zwar nicht allein an der Front oder durch Bombardierungen: Hunger und Seuchen fordern reihenweise die Opfer der Schwächsten der Zivilbevölkerung:

Et voilà que d'un coup une épidémie attaque les enfants. On parle d'un mort ici, d'un mort là." (EB: 14)

Les vieillards meurent un après l'autre. Je les compte en commençant par les maisons du haut de la rue, pour ne pas en oublier, et j'ai du bonheur à éviter la mienne. La liste s'allonge et ces décès me laissent chaque fois un peu plus seul, un peu plus conscient. (EB: 76)

Aus der Perspektive des Erzählers kommt den  Kriegskindern eine Sonderrolle zu: Ungeachtet der Tatsache, dass die Kinder von staatlicher wie kirchlicher Seite auch in Belgien massiv mit kriegsverherrlichen patriotisch-kämpferischen Propagandamaterialien umworben wurden,11 beklagt der Erzähler die mangelnde Sorge der Erwachsenen um das emotionale Wohl der Kinder. Die Welt, in der sie aufwachsen, ist eine bedrohliche, die die Kinder nicht Kinder sein lässt: "Il est évident que tout ce qui entoure notre jeunesse lui est hostile." (EB: 91) Die Kinder werden zu einer vergessenen, exkludierten Minderheitengruppe der Gesellschaft im Krieg:

Les enfants sont assez nombreux dans les rues. Nous arrivons à peu près à la hauteur des poitrines des grandes personnes, certains même quelques centimètres au-dessus. Les yeux ne se baissent plus vers nous. On nous ignore, on ne nous répond pas, ce qui nous est parfaitement égal. Nous sommes si dédaignés dans cette panique qui nous gagne, qu'un profond mépris commence à nous séparer plus encore de la foule. Elle a ses occupations, nous sentons bien que nous aurons les nôtres. (EB: 51–52)

Unbeachtet von den Erwachsenen spielen die Kinder auch im Krieg weiter: "Malgré tout, nous jouons." (EB: 80) Der absurde Alltag wird zur Quelle neuer 'Kriegs-Spiele', wenn die Jungs beispielsweise in den Kratern Granatsplitter sammeln. Zerstörte Häuser und Bombentrichter gehören dabei ebenso zur 'normalen' Welt der Kinder wie die Konfrontation mit Verletzten und dem Tod sowie eine gewisse Faszination am Beobachten des qualvollen Sterbens. So berichtet der Erzähler unerschüttert und völlig emotionslos:




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L'obus a creusé le trottoir, des fenêtres sont brisées, des rideaux pendent. Où sont les morceaux d'acier ?
Nous apercevons un tas sombre. Le blessé ? Et personne, mais personne pour le secourir. Soudain, l'homme tressaute, et se tourne vers nous qui reculons. Il se plaint ; les mains, sur le ventre, semblent liées. Il dévore la poussière, mord le sol, se tend comme un pont, puis s'affaisse, inerte.
Le fort tire encore. L'obus siffle : "Chuut chuut", Ernest grimace et nous filons à toute vitesse, avec au fond de nous, l'idée de revenir demain voir si le sang a laissé des traces sur le pavé. (EB: 60)

Der Ich-Erzähler, der aufgrund seines zu jungen Alters nicht zu den jungen Kriegsteilnehmern zählt, die Remarque als 'verlorene Generation' bezeichnet,12 schreibt hier bewusst von und für eben diese 'vergessene' und aus dem allgemeinen Erinnerungsdiskurs ausgeschlossene Jugend, die zwar das materielle Leid, die Veränderung der Alltagswelt und das zahllose Sterben miterlebt hat, sich aber aus jeder eskapistischen Konversation der Erwachsenen ausgeschlossen fühlt. Die Kinder kennen keine Alternative zum Kriegsalltag, können sich kein Leben im Frieden erträumen und fühlen sich daher auch ihrer Zukunft beraubt:

Les souvenirs se succèdent dans les conversations : le bon temps, avant la guerre, comme avant la guerre.
… Et moi, qui ne me rappelle rien d'aussi important ! Quand la guerre sera terminée, la vie recommencera comme avant, et la moindre minute sera heureuse.
Moi, je suis sans passé et presque sans avenir, avec quelques obus derrière moi, barrant la route et ne me donnant nulle envie. (EB: 86)

Die Kinder betrachten sich als die ewigen Opfer des Krieges:

En vérité, nous sommes tombés avec eux [les cent mille jeunes hommes qui furent tués], mais notre agonie se prolonge, puisque nous le savons : C'est notre seul avantage ou notre seul supplice. (EB: 102)

Zur 'normalen' Vergleichsfolie geworden, hat sich der Krieg so nachhaltig in das Denken der Kriegskinder eingebrannt, dass er auch nach Kriegsende noch fortwirkt. Sehr eindrücklich wird dieser Prägungsprozess in einem inneren Monolog des Ich-Erzählers, bei dem er seine Gedanken zu einem Treffen mit einer Verehrerin wiedergibt:

Une moue câline la met sur la défensive. D'un coup, j'ai vu ses cils, son nez, ses dents (premier secret livré), ses cheveux. Elle aussi m'a certainement examiné. Dans le ciel voguent trois petits nuages. Ont-ils surgi comme ceux des shrapnels ? Ah ! Non ! Resterai-je chaque fois sous la domination de ce drame ? Ces souvenirs ridicules vont-ils chaque fois m'assombrir ? En effet, tout ce que nous faisons semble souvent sans candeur, sans innocence. Une gêne, un mal qui ne vient pas de nous, nous accompagne. (EB: 108)




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Im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung kann die Generation der Kriegskinder als Überlebende ohne aktive Kriegserfahrung nicht an den identitätsstiftenden Erinnerungs- und Glorifizierungsdiskursen teilnehmen, die Belgien als Nation zusammenhalten. Obwohl die Erfahrungen des Krieges auch sie nachhaltig traumatisiert haben, hat der Erste Weltkrieg für sie keine authentische nationalidentitätsstiftende Wirkung und Funktion, sondern bleibt konstruierte, medial vermittelte Erinnerung:

Je m'arrête aux bords de l'ancien front de guerre, grosse cicatrice sur ma jeunesse. J'essaye de ranimer l'importance de ce lieu maudit, j'essaye de le ressusciter, je m'efforce de situer des explosions, des attaques, des fumées et je me rends bien compte que j'interprète quelques images de journaux, quelques photos.
Ravin de la Couleuvre. On dénombra plusieurs milliers de cadavres. Aujourd'hui, il y a du blé, des poteaux indicateurs, une buvette "Au Héros vigilant" et quelques caisses pleines d'ossements. […]
Un monument, quelques pierres gravées, une sculpture assez théâtrale… je passe. C'est que nous sommes constamment aux aguets. Ce cauchemar trop violent nous a marqués pour toujours. Nous l'avons vu mêlé à nos aliments, sa figure apparut dans nos livres, dans nos leçons d'école, elle circula dans l'église, nos parents nous la mirent, entre les mains, comme un cadeau.
Une sorte d'instinct nous est resté. Nous flairons la guerre tout autour de nous, dans les moindres objets, dans les moindres circonstances. (EB 126–127)


4. Fazit

"Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein." (Remarque 1998: 9) – das Motto von Remarques Anti-Kriegsroman könnte auch die Erzählungen von Deauville und Linze überschreiben: Beide Autoren schreiben als Zeitzeugen, verarbeiten ihre persönlichen Traumata jedoch in témoignages fictifs. Ohne Anklagen oder Opferstilisierungen schreiben sie gegen das Vergessen des Krieges an und reihen sich damit in die pazifistische Kriegsliteratur Europas ein, ohne dabei jedoch wie manch einer ihrer Zeitgenossen – man denke etwa an Romain Rolland – sentimentale oder pathetische Töne anzuschlagen.

Deauvilles analytischer Blick des Mediziners seziert die Grauen des Frontalltags voller Detailreichtum, stellt damit zugleich die brutal menschenverachtende Absurdität des Dahinschlachtens dar und warnt mit Zynismus vor der Unmenschlichkeit des Krieges. Abgesehen von der geographischen Lokalisierung der Erzählungen und der Zugehörigkeit der Protagonisten zu belgischen Einheiten unterscheidet sich Deauvilles Kriegsliteratur kaum von der französischer écrivains combattants.

Etwas anders verhält es sich im Falle von Linzes Roman, der sehr viel deutlicher auf den Sonderstatus Belgiens während des Ersten Weltkrieges Bezug nimmt und sich daher auch von Darstellungen des Lebensalltags an der Heimatfront anderer kriegsteilnehmender Länder unterscheidet. Abgesehen von der spezifisch belgischen Okkupationsthematik schreibt der Roman ganz konkret gegen das Vergessen der vergessenen Generation der Kriegskinder an, was jedoch wiederum kein spezifisch belgisches Phänomen darstellt.




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Die kurze Präsentation von Erzähltexten des Ersten Weltkrieges aus belgischer Perspektive hat gezeigt, dass sich die so gut wie unbekannte Kriegsliteratur frankophoner belgischer Autoren abgesehen von der thematischen Besonderheit des feindlichen Belagerungszustandes nicht grundsätzlich von der weithin bekannten französischen Kriegsliteratur unterscheidet und dieser auch in literarischer wie ästhetischer Hinsicht in nichts nachsteht.


Bibliographie

Primärliteratur

Deauville, Max (2012): La boue des Flandres et autres récits de la Grande Guerre. Brüssel: Espace Nord. [BF]

Linze, Georges (2002): Les enfants bombardés. Brüssel: Éditions Labor. [1936] [EB]

Remarque, Erich Maria (199820): Im Westen nichts Neues. Köln: Kiepenheuer & Witsch. [1929]

Sekundärliteratur

Baronian, Jean-Baptiste (1975): La Belgique fantastique avant et après Jean Ray. Paris: Marabout.

Cosentino, Christine (2007): "'Der Krieg, ein Kinderspiel': Romane mit Kinderperspektive im Kontext der Luftkriegsdebatte", in: Neophilologus 91.4, 687–699.

Cru, Jean-Norton (2006): Témoins. Essai d'analyse et de critique des souvenirs des combattants édités en français de 1915 à 1928. Nancy: Presses Universitaires de Nancy. [1929]

De Schaepdrijver, Sophie (2014): "Literature (Belgium)", in: 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, hrsg. von Daniel, Ute / Peter Gatrell et al. [http://dx.doi.org/10.15463/ie1418.10449, 20.05.2016], o.P.

Denis, Benoît/Klinkenberg, Jean-Marie (2005): La littérature belge. Précis d'histoire sociale. Brüssel: Éditions Labor.

Domingues de Almeida, José (2013): De la belgitude à la belgité. Un débat qui fit date. Bruxelles: Lang.




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Frédéric, Madeleine (2002): "Lecture", in: Linze, Georges: Les enfants bombardés. Brüssel: Éditions Labor, 145–180.

Jaumain, Serge (2006): Mémoire de guerre et construction de la paix. Mentalités et choix politiques: Belgique, Europe, Canada. Brüssel: Lang.

Kennan, George F. (1979): The Decline of Bismarck's European Order. Franco-Russian Relations, 1875–1890. Princeton: Princeton University Press.

Schoentjes, Pierre (2004): "Linze (Georges), Les Enfants bombardés", in: Textyles 25 [http://textyles.revues.org/752, 20.05.2016], 109–111.

Schoentjes, Pierre (2005): "La Grande Guerre de Max Deauville : 'en rire ou en pleurer' ?", in: Textyles 28 [http://textyles.revues.org/466, 20.05.2016], 72–82.

Schoentjes, Pierre (2007): "'C'est donc cela, la guerre'", in: Textyles 32–33 [http://textyles.revues.org/282, 20.05.2016], 13–32.

Schoentjes, Pierre (2009): Fictions de la Grande Guerre – Variations littéraires sur 14–18. Paris: Classiques Garnier.

Van Ypersele, Laurence (2004): "Belgien im 'Grande Guerre', in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 29–30, 21–29.


Anmerkungen

1 Im englischen Original spricht Kennan von "the great seminal catastrophe of this century" (Kennan 1979: 3; Herv. i. O.).

2 Zu Konzept und Debatte der belgitude siehe z.B. Domingues de Almeida 2013.

3 Für einen knappen Überblick über die historischen Fakten bzgl. Belgiens Situation im Ersten Weltkrieg siehe z.B. Van Ypersele 2004.

4 Gerade für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist eine starke Parisorientierung frankophoner belgischer Autoren zu beobachten: Die überwiegende Mehrheit der Kriegsliteratur dieser Autoren erscheint – wie auch die hier untersuchten Texte von Deauville und Linze – in Paris.

5 Deauville (2006: 330) erklärt die Missachtung im eigenen Land mit der politisch-ideologischen Einstellung der jüngeren und älteren Generationen.

6 Ausgewählt wurde dieses Korpus, weil von der narrativen frankophonen Kriegsliteratur Belgiens aktuell nur diese beiden Bücher in Wiederauflage auf dem Buchmarkt sind.

7 Mit Jean Ray und Franz Hellens etabliert sich in der frankophonen belgischen Literatur der 1920er Jahre ausgehend von der symbolistischen Literatur des Übernatürlichen wie etwa bei Georges Rodenbach eine neue, 'realistische' Form fantastischen Erzählens. Siehe hierzu z.B. Baronian 1975.

8 Das Lachen taucht in Deauvilles Texten leitmotivisch auf: Die Bedeutungsbandbreite reicht dabei vom Lachen der Zerstreuung bis hin zum verzweifelten Lachen, vom unterhaltsamen Lachen bis zum zynisch-bitteren Lachen. Siehe hierzu die Studie von Schoentjes 2005.

9 Schoentjes (2009: 157) weist darauf hin, dass sich Deauville zur Darstellung der Alterität der Flamen 'klassischer' Stereotype der belgischen Kolonialliteratur bedient: "Il est significatif d'ailleurs que lorsque Max Deauville, un des meilleurs auteurs belges à s'être inspiré de la Grande guerre, cherche à montrer les Flamands comme des êtres frustes, il fait surgir une scène qui s'inspire en droite ligne des clichés sur les Noirs."

10 Vgl. hierzu: "Dans Les enfants bombardés (1936), la démarche résolument novatrice de Georges Linze se traduit aussi bien dans le choix d'un mode de narration particulièrement adéquat pour rendre sensible une perception enfantine du conflit que dans le traitement du thème de l'enfant dans la guerre: l'auteur démonte sans ménagements la "défloraison de l'âme" subie par les enfants de la Grande Guerre." (Jaumain 2006: 44). Im Gegensatz zu Narrationen aus und über den Ersten Weltkrieg findet die Kinderperspektive in Romanen und Erzählungen über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust sehr viel häufiger Einsatz (vgl. hierzu z.B. Cosentino 2007).

11 Zur nationalpatriotischen Unterweisung und Instrumentalisierung der Kinder während des Ersten Weltkrieges siehe Audoin-Rouzeau 1993.

12 Remarque will mit seinem Roman Im Westen nichts Neues "über eine Generation […] berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam" (Remarque 1998: 9) und dieser Generation verlorener Jugend so ein Denkmal setzen.