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Angela Schrott (Kassel)



Désirée Cremer (2015): Boethius französisch. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann (= Analecta Romanica, 85).



Die Consolatio Philosophiae des Boethius ist ein philosophischer und zugleich literarischer Text, dessen Rezeption in Mittelalter und früher Neuzeit zu einer dezidiert linguistischen und philologischen Analyse einlädt. Denn da das Werk große Geltung und Verbreitung erlangte und daher in zahlreichen volkssprachlichen Übersetzungen vorliegt, steht ein Textkorpus zur Verfügung, das anhand eines Textes und seiner Adaptationen sprachliche, kulturelle und mediale Veränderungen über einen langen Zeitraum hinweg abbildet und damit ein wertvolles Forschungsfeld für eine kulturorientierte, historische Sprachwissenschaft bildet.

Im Zentrum der von Désirée Cremer vorgelegten Monographie stehen die Transformationen, die die Trostschrift in der französisch-volkssprachlichen Übersetzungstradition erfahren hat. Analysiert werden insgesamt 10 prosimetrische Übersetzungen, die zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert verfasst wurden und die durch die gemeinsame Form sowohl dem Original verhältnismäßig eng folgen als auch untereinander ein interne Vergleichbarkeit gewährendes Korpus bilden. Aufgrund der großen geistesgeschichtlichen Bedeutung der Consolatio dokumentieren die Übersetzungen, ihre Vernetzungen und diskurstraditionellen Transformationen einen wichtigen Ausschnitt europäischer Sprach- und Kulturgeschichte.

Im Zentrum der Arbeit stehen die Texte: der lateinische Ausgangstext und die ihn umgebenden Kommentare und Paratexte und natürlich die französischen Übersetzungen einschließlich ihrer paratextuellen Umfelder. Die Entwicklung des theoretischen Instrumentariums und die Darlegungen zur historisch-kulturellen Einbettung der Consolatio sind daher konsequenterweise ganz auf die Texte zentriert. Aus einer globalen Beschreibung der Korpustexte in deren historisch-kulturellen Umfeldern und aus Mikroanalysen der einzelnen Texte wird sodann auf die individuellen und überindividuellen Wissensbestände geschlossen, die in die verschiedenen Übersetzungen eingehen. Eine grundlegende, in der gesamten Studie präsente Frage ist daher, welche Komponenten in den Texten überindividuelle historische Tendenzen darstellen und welche individuell auf den einzelnen Übersetzer zurückgehen.




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Theoretische Grundlage der Monographie ist das Coseriu’sche Modell der allgemeinen Strukturen der Sprache und der kulturellen Sprachkompetenz (Drei-Ebenen-Modell), das mit Modellen der Übersetzungswissenschaft verbunden wird. Das Theorie-Kapitel fasst auf prägnante Weise die Diskussionen zusammen, die das Modell in den letzten Jahren in der romanischen Sprachwissenschaft erfahren hat, geht dabei jedoch auch eigene Wege. So folgt die Verfasserin nicht der in der romanistischen Diskussion um die Weiterentwicklung des Coseriu’schen Modells gängigen Unterscheidung von "Diskurs" als Tätigkeit und "Text" als Produkt, sondern versteht den Diskursbegriff vielmehr mit Rückgriff auf Foucault als ein dynamisches Formationssystem, das per se traditionell sei und bindet daher das Konzept der Tradition nicht an das Konzept des Diskurses, sondern an den Begriff des Textes als materielles Produkt an (32). Der Begriff der Texttradition wird von Cremer als Reihe von konkreten Texten verstanden, die durch Familienähnlichkeiten verbunden sind und in diesem Sinne als Text-Verkettung eine Tradition bilden. Das Konzept der Tradition wird auf diese Weise materialisiert. Wird ein Text wie die Consolatio übersetzt oder überarbeitet, dann bilden dieser Text, seine Übersetzungen und Bearbeitungen im Sinne Cremers eine Texttradition. Die von der Verfasserin etablierte terminologische Setzung ist möglich, sie begrenzt allerdings die Tradition auf ihre materiellen Manifestationen und trennt den Traditionsbegriff von der Semantik der Dynamik, die exklusiv dem Konzept des Diskurses zugewiesen wird. Möglicherweise ist diese Umdeutung (auch) dem Textkorpus geschuldet, das aus einem Text – der Consolatio – und seinen reihenbildenden Übersetzungen besteht, die materialiter tatsächlich eine Tradition abbilden. Allerdings ist eine solche aus einem einzigen Text resultierende Texttradition ein Sonderfall der Textproduktion. Setzt man dagegen Reihen von Texten an, die eine Textsorte realisieren und damit lediglich durch den Bezug auf ein Modell zusammengehalten werden, dann dürfte es weit schwieriger sein, Texttraditionen im Sinne Cremers zu etablieren. Im Laufe der Arbeit finden sich zudem auch Verwendungen, in denen der Begriff der Texttradition nicht als Textreihe verwendet wird, sondern im üblichen Sinne einer die Textproduktion und Textrezeption anleitenden Norm, etwa wenn von der "Texttradition der Kompilation" (117) gesprochen wird. Aus diesen Gründen ist die von der Verfasserin getroffene veränderte Definition der Texttradition meines Erachtens ein Konzept, das seinen (allgemeinen) Nutzen erst noch beweisen muss.




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In einem zweiten Schritt wird das Modell Coserius sodann mit der Übersetzungswissenschaft verbunden, und die drei Ebenen werden klug genutzt, um Übersetzungen und übersetzte Texte zwischen Sprache und Kultur theoretisch zu situieren und den Übersetzungsprozess auf die Coseriu’schen Kategorien abzubilden (39-40). Diese systemlinguistische Zuordnung wird durch eine historische Darstellung von Übersetzungsverfahren in Antike und Mittelalter ergänzt, die – auch im Rahmen eines notwendig knapp gehaltenen Überblicks – in vorbildlicher Weise ad fontes geht (44-45). Dabei wird vor allem deutlich, dass es transhistorische Tendenzen der Übersetzung gibt, da bestimmte Diskursuniversen und Textsorten jeweils spezifische Übersetzungsstrategien einfordern (42-43). Eine wesentliche Trennlinie ist die Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen Texten mit informativem Skopos und literarischen Texten mit expressiv-ästhetischem Skopos. Dabei sind, wie Cremer überzeugend herausarbeitet, wissenschaftliche Texte im Mittelalter durch eine Koexistenz verschiedener Übersetzungsmaximen charakterisiert. Während in Lexikon und Syntax der Ausgangstext eng nachgebildet werden soll, sind Veränderungen durch eingefügte Erklärungen oder Kommentare erlaubt und werden durch den Grundsatz der perspicuitas gerechtfertigt. Und während Mikrostrukturen dank dieser Norm selbst auf Kosten der stilistischen Ästhetik konserviert werden, können Makrostrukturen einschneidend verändert werden, etwa um einen überlieferten (antiken) Text mit der christlichen Wahrheit in Einklang zu bringen (49). In Fortführung der für das Textkorpus relevanten Zeitlinie werden nach der mittelalterlichen Übersetzungspraxis auch die Ausbildung frühneuzeitlicher Übersetzungstheorien quellenbasiert und in reflektierter Reduktion auf das Wesentliche umrissen. Den Abschluss des Theoriekapitels bildet eine resümierende Synthese von Drei-Ebenen-Modell und systemhafter Übersetzungstheorie (Abb. 11, S. 54). Dabei erweist sich, dass Ausgangstext und Zieltext trotz ihrer äußerst engen Verwandtschaft autonome Sinnkonstruktionen darstellen, die sich in einer (möglichst großen) Schnittmenge treffen (55). Da Übersetzungen sowohl Sprachwandelprozesse auslösen als auch Textgattungen verändern oder in neuen Umfeldern etablieren können, ist das Drei-Ebenen-Modell – wie Désirée Cremer treffend herausstellt – ein linguistisches System, das für die Übersetzungsgeschichte drei große Vorteile bietet: Erstens erfasst es die Übersetzung als Tätigkeit zwischen Konvention und Innovation, zweitens trennt es sprachliche und kulturelle Transformationen analytisch und drittens beschreibt es das Konzept der Äquivalenz von Übersetzungen dreifach, auf universeller, einzelsprachlicher und individueller Ebene.




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Die philologisch-textzentrierte Herangehensweise der Arbeit zeigt sich besonders in den interpretatorischen Kapiteln, die das lateinische Original und die Übersetzungen vorstellen. Die Ausführungen zur Consolatio Philosophiae haben ##die angemessene Prägnanz: Wer mit dem Text bereits vertraut ist, wird sich nicht langweilen; wer den Text noch nicht kennt, wird kenntnisreich in Inhalte und Textstruktur eingeführt. Entscheidend für die Übersetzungen sind die Kopräsenz antik-philosophischer, potentiell paganer Elemente mit christlichen Konzepten sowie die Überlagerung und (absichtsvolle) Mischung einer Vielzahl von Gattungen, die sich auch in der prosimetrischen Ausrichtung und den unterschiedlichen Funktionalisierungen von Prosatexten und Verstexten spiegelt (73-74). Aufgrund der Kombination vielfältiger Texttraditionen aus Literatur und Philosophie deutet Cremer die Consolatio als Scharnier (76): Der Text vereint nach Cremer überlieferte Traditionen und wird zum Vorbild späterer Gattungen, die von ihm ihren Ausgang nehmen. Diese Vorbildfunktion schlägt sich in einer ausgeprägten Kommentartradition vom Mittelalter bis zum Humanismus und in einer dichten volkssprachlichen Überlieferung französischer Übersetzungen nieder, die Prosa und Vers unterschiedlich gewichten – es finden sich neben prosimetrischen Übertragungen auch reine Prosa- und Versversionen – und instrumentalisieren. Dabei gilt der Vers als Form der (mündlich überlieferten) Dichtung, die Prosa dagegen als gelehrte Form der lateinischen Klerikerkultur.

Um der Vergleichbarkeit willen beschränkt sich Cremer in nachvollziehbarer Weise auf insgesamt 10 prosimetrische Versionen, die zunächst in ihrem kommunikativ-pragmatischen Rahmen einschließlich der Paratexte sowie in ihren textuellen Makrostrukturen vorgestellt werden, wobei insbesondere die Technik der Übersetzung und die Gestaltung der Gedichte im Vordergrund stehen. Historische Einbettung, Paratexte und Makrostrukturen werden dabei als zentrale globale Muster der Sinnstiftung in den Übersetzungen aufgefasst. Multimodale Parameter der Textgestaltung werden dagegen nicht behandelt, was aufgrund der Fülle der sprachbezogenen Beschreibungskategrien verständlich ist, andererseits aber auch eine nicht unwichtige Dimension der Textgestalt und Textsemantik völlig ausklammert. Die umfangreichen Beschreibungen (93-220) sind durch große Akribie und gelehrte Fülle charakterisiert und belegen ein vorbildliches philologisches Studium der Manuskripte und Drucke. Durch die gleichbleibende Strukturierung – historische Einordnung, paratextuelle Ausstattung, Textstruktur – bleiben die Charakterisierungen trotz hoher Informationsdichte übersichtlich. Da die Beschreibungen ein äußerst umfassendes Instrumentarium anwenden, das von der Handschriftenkunde bis zur Textlinguistik Genettes reicht, dürften sie sowohl für die Romanistik als auch für andere geistes- und kulturgeschichtliche Disziplinen künftig einen wichtigen und vorbildlich gestalteten Referenzpunkt der Boethius-Forschung darstellen. Es ist verdienstvoll, dass die detaillierten Beschreibungen am Ende des umfangreichen Kapitels noch einmal kategoriell gebündelt und resümiert werden. Diese abschließende Bündelung ist nicht allein für den Leser angenehm, sondern stellt auch sicher, dass die notwenig sehr stark aufgefächerten Beschreibungen der Handschriften und Drucke nicht nur additiv wahrgenommen werden, sondern sich synoptisch entweder als Einzelfälle oder als durchgängige Tendenzen und Muster der Übersetzungsgeschichte der Consolatio im Französischen erschließen.




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Die global am Gesamttext ausgerichteten Charakterisierungen werden im zweiten Teil der Interpretation durch Fallbeispiele ergänzt, in denen sprachliche und literarische Verfahren der Sinnstiftung in den Mikrostrukturen der Übersetzungen analysiert werden. Dabei greift die Verfasserin zwei Schwerpunkte heraus: eine begriffsgeschichtliche Skizze der zentralen Lexeme fatum und fortuna sowie die Eingangselegie der Consolatio, in der sich wichtige Leitmotive des Textes verdichten und die daher den Text gewissermaßen thematisch überdacht. Die äußerst präzise und detaillierte begriffsgeschichtliche Analyse von fatum und fortuna belegt zum einen, wie Boethius die antiken Begriffe in das christliche Weltmodell überführt. Darüber hinaus analysiert die Verfasserin systemlinguistisch die möglichen Äquivalente in der Volkssprache und erarbeitet darauf aufbauend für jede einzelne Übersetzung textlinguistisch die gewählten Wiedergaben im Französischen. Dabei liegt der Fokus auf der leitmotivisch dichten Eingangselegie, doch werden auch die Übersetzungsprofile der jeweiligen Gesamttexte einbezogen, so dass eine umfassende und in ihrem Detailreichtum beeindruckende Darstellung der Begriffsverwendung entsteht (253-328), die dankenswerter Weise ebenfalls mit einer Zusammenfassung endet, die zentrale Bedeutungsverschiebungen bzw. Umdeutungen, diskursive Konstanten und Varianten resümiert (329-338). Den zweiten Schwerpunkt der Mikroanalysen – neben der Begriffsgeschichte – bilden Studien der einleitenden Elegie und ihrer französischen Übersetzungen aus Sicht der metrisch-rhetorischen Gestaltung (338-401). Auch hier wird zunächst das lateinische Original analysiert, das dann als Folie für die Übersetzungen bzw. Neuschöpfungen des Gedichts in den zehn französischen Übersetzungen dient. In den Textanalysen beeindrucken die überaus profunde Kenntnis des jeweiligen Gattungshorizonts und seines metrisch-rhetorischen Instrumentariums sowie die feingliedrigen philologischen Analysen der Texte, die Mikroelemente kenntnisreich sowohl an literaturwissenschaftliche als auch an lexikalisch-semantische Entwicklungen anbinden und damit eine umfassende diskursgeschichtliche Verortung leisten. Auch hier werden die Ergebnisse in einem Resümee zusammengefasst, das ein wichtiges Gegengewicht zu den detaillierten Analysen bildet und aus den einzelnen Interpretationen übergreifende Leitlinien und diskursive Vernetzungen abstrahiert (401-406). Dieser Abstraktion und dem Aufzeigen zentraler diskursiver Netze dient auch die Synthese, die zudem das Verdienst hat, die ausgewählten Übersetzungen noch einmal "steckbriefartig" (411) zu resümieren.




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Die von Cremer exzellent herausgearbeiteten Diskursgefüge und Wissensformationen der französischen Boethius-Überlieferung sind eine Einladung an die Boethius-Forschung innerhalb und außerhalb der Romanistik, die für Mittelalter und frühe Neuzeit herausgearbeiteten Vernetzungen in ihren späteren Entwicklungen weiterzuverfolgen, wie es sich die Verfasserin im letzten Abschnitt ihrer Arbeit ausdrücklich wünscht (419). Désirée Cremer ist eine Monographie gelungen, die aktuelle Ansätze einer kulturorientierten Linguistik in einer höchst reflektierten Synthese nicht allein mit philologischen Methoden der Textinterpretation, sondern darüber hinaus mit einer zutiefst philologischen Haltung verbindet, die Kontextwissen und methodisches Instrumentarium in den Dienst der Texte stellt. Eine Arbeit, die auf diese Weise linguistische Modelle und philologische, sich zur Literaturwissenschaft hin öffnende Analysen verbindet, geht in der Rezeption das Risiko ein, dass die Linguisten unter den Lesern sich primär den theoretischen Ausführungen widmen, während die an Boethius interessierten Rezipienten sich umgekehrt auf den Korpusteil und die Übersetzungsgeschichte der Consolatio konzentrieren. In solcher Weise selegierende Lektüren werden ebenfalls anregend sein, sie verfehlen aber die vielfältigen Engführungen von linguistischer Theorie und philologischer Analyse, die die Monographie sowohl enthält als auch anzuregen vermag. Denn so wie die theoretischen Konzepte erst den Blick für die Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Boethius-Übersetzungen schärfen, so erlaubt die korpusbezogene Anwendung des Modells umgekehrt wichtige Rückschlüsse auf die theoretischen Konzepte von Diskurs und Tradition, auch jenseits der Monographie und ihrer Beschäftigung mit dem französischen Boethius. Daher wünsche ich nicht nur der Autorin, sondern auch den Lesern und Leserinnen, dass sie sich auf die von Cremer geleistete Verbindung von Linguistik und Philologie einlassen und die Monographie, wie sie es verdient, in ihrer Ganzheitlichkeit rezipieren.