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Jan Behrs (Evanston)



Mark-Georg Dehrmann (2015): Studierte Dichter. Zum Spannungsverhältnis von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert (Historia Hermeneutica. Series Studia 13). Berlin / Boston: De Gruyter.


Wissenschaft läuft immer Gefahr, durch ihre bloße Existenz Anstoß zu erregen: Ihr Anspruch, wahre Aussagen über die Welt zu treffen, wird regelmäßig als Hybris aufgefasst und ruft entsprechend böses Blut hervor. Das gilt besonders für Geisteswissenschaften, haben sie es doch mit vergleichsweise "weichen" Gegenständen zu tun, zu denen auch andere eine Meinung haben können. Eine Instanz, die regelmäßig auf diverseste Wissensbestände zugreift und deswegen immer wieder mit der Wissenschaft aneinandergerät, ist die Literatur. Die vorliegende Arbeit untersucht laut Untertitel das "Spannungsverhältnis von Dichtung und philosophisch-historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert", nimmt sich also ein relativ großes Teilgebiet einer als spannungsvoll konzipierten Beziehungsgeschichte vor. Der Rezensent ist nicht die geeignete Person, um neutral zu entscheiden, ob eine solche Doppelung von Literatur- und Wissenschaftsgeschichte eine sinnvolle Angelegenheit ist, da er selbst 2013 ein sehr ähnlich zugeschnittenes Buch vorgelegt hat (Behrs 2013). Weniger deswegen, aber wegen weiterer Arbeiten (Osterkamp 1989, König 2001, Martus 2007, Buschmeier 2008, Nebrig 2013) kann die Fragestellung wohl als halbwegs etabliert gelten (was natürlich bei weitem nicht heißt, dass dazu alles gesagt wäre) – wie geht Dehrmann das Thema an, welche Schwerpunkte setzt er, und welche Neuigkeiten hat er aus dem Rosenkrieg1 zwischen Kunst und Wissenschaft zu bieten?




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Der Aufbau des umfangreichen Buches scheint bereits gewisse Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des Autors zuzulassen: Nach einer Einleitung widmet sich das erste Kapitel "Friedrich Schlegels Revolutionen"; danach folgen ein längerer Abschnitt zu Fachwissenschaft ("Philologisch-historische Provokationen der Dichtung"), ein weiterer zur Literatur, namentlich zum historischen Roman, bevor schließlich mit "Nietzsches Destruktionen" das personenbezogene Modell vom Anfang wieder aufgenommen wird. Zerstört Nietzsche am Ende des 19. Jahrhunderts also das, was Schlegel an dessen Anfang per Revolution ermöglicht hatte? Glücklicherweise wird dieses entelechetische Modell nicht besonders ernsthaft vertreten – anstatt dem unübersichtlichen Material eine allzu lineare Entwicklung aufzuzwingen, arbeitet Dehrmann mit sehr eigenständigen (und ausnahmslos sehr sorgfältig recherchierten) Fallstudien. Diese Vorgehensweise scheint derzeit die einzig angemessene zu sein – viele der oben erwähnten Vorarbeiten gehen ähnlich vor, und "das ambivalente Verhältnis, in dem […] Autor und Literaturwissenschaftler zueinander stehen" (S. 10), ist keineswegs so gut erforscht, dass es bereits an der Zeit für Resümees wäre. Das Sammeln von Material ist also das Gebot der Stunde, und in dieser Hinsicht hat Dehrmanns Arbeit einiges zu bieten. In Schlegels selbstbewusstem (und utopischem) Programm einer Verschmelzung von Dichtung und Wissenschaft, Friedrich Heinrich von der Hagens Versuch, Goethe für eine Wiederbelebung des Nibelungenlieds zu rekrutieren, Ludwig Uhlands programmatischer Mittelalterpoesie und Victor von Scheffels philologisch streitbarem Ekkehard-Roman verschachteln sich Literatur und (Literatur-)Geschichtsschreibung auf jeweils eigentümliche Weise, und das sind noch nicht einmal alle Beispiele, die Dehrmann kenntnisreich und unter Berücksichtigung der jeweiligen Eigenheiten des Materials untersucht. Das heißt nicht, dass alle Fallstudien gleichermaßen nützlich sind, wenn es irgendwann einmal daran geht, die hier und anderswo erarbeiteten Mosaiksteine zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen: Manche der untersuchten Kunst-Wissenschafts-Modelle sind lediglich von ihrem Urheber umzusetzen und bleiben deswegen auf ihn angewiesen (Schlegel wäre das beste Beispiel), andere geraten mit ihrem Verfasser in Vergessenheit (von der Hagen), wieder andere werden institutionenstiftend, etwa die für die Fachphilologie grundlegenden Konzepte von Friedrich August Wolf und den Brüdern Grimm. Nimmt man das in der Einleitung effektvoll eingesetzte fiktive Beispiel des übergeschnappten Philologen Charles Kinbote (aus Nabokovs Pale Fire) hinzu, reicht die Skala von kauzigen Wissenschaftlern und kaum weniger sonderlichen Dichtern bis hin zu literarischen Traditionsstiftern und akademischen Disziplingründern, die entproblematisiertes Methodenwissen für zukünftige Forschergenerationen produzieren. Während die letzteren die intellektuelle Landschaft des 19. Jahrhunderts über Generationen prägen, bleiben die ersteren skurrile, wenn auch unter Umständen sehr anschauliche Einzelfälle. Es kann dem Verfasser nicht vorgeworfen werden, dass er das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem nicht abschließend geklärt hat – auch diese Aufgabe bleibt wohl zukünftigen Generationen von Forscherinnen und Forschern vorbehalten.




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Ein etwas mehr an Literatur- und Wissenssoziologie interessierte Vorgehensweise hätte jedoch unter Umständen helfen können, hier mehr Klarheit zu schaffen. Bei Dehrmann reden hauptsächlich Texte mit anderen Texten, während Institutionen wie Universitäten, scientific communities, Schulen, Zeitschriften, Verlage u. dgl. nur zurückhaltend einbezogen werden. Gerade weil es in der Arbeit um sehr umfassende Konzepte, ja die "Grundkoordinaten des philologisch-historischen Denkens" (S. 136) geht, überrascht diese Zurückhaltung. Das heißt nicht, dass nicht auch der rein textbezogene Zugang seine Meriten hätte: Er funktioniert besonders gut bei Nietzsche, der seinen eigenen philologischen Hintergrund für eine Fundamentalkritik der Philologie nutzt und dementsprechend Texte produziert, die die für das gesamte 19. Jahrhundert diagnostizierten Konflikte schon in ihrer Struktur enthalten. Auch andere Texte werden überzeugend analysiert: Uhlands Ballade Die drei Schlösser wird sehr schlüssig als lyrisches Pendant zu seiner Literaturwissenschaft interpretiert – ein schönes Beispiel für die im Verlauf des 19. Jahrhunderts seltener werdenden Mehrfachbegabungen, die auf verschiedenen Feldern für dieselbe Sache (in Uhlands Fall die "Stiftung einer lebendigen historischen Kontinuität des Volkes", S. 308) kämpfen.2 Der Abschnitt zum heute kaum mehr gelesenen Ekkehard-Roman von Victor von Scheffel zeigt, wieviel mit einem germanistikgeschichtlichen Blickwinkel für die Analyse von Literatur anzufangen ist, während die Kapitel zu von der Hagen und den Grimms nicht nur die wissenschaftsgeschichtliche Kompetenz des Verfassers bezeugen, sondern auch verdeutlichen, dass in der "kommunikative[n] Beziehung" (S. 19) zwischen Dichtung und Wissenschaft beide Seiten aufeinander angewiesen sind.

Dass andere Kapitel der Arbeit dem Rezensenten weniger einleuchten, mag dessen eigenen Vorlieben geschuldet sein und liegt jedenfalls in der Natur des Gegenstands: Zwischen Schlegel und Nietzsche liegt mehr Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, als ein einzelnes Buch abdecken kann, insbesondere, wenn sich dieses Buch nicht nur mit Germanistik, sondern (aus überzeugend dargelegten Gründen) mit sehr weit gefassten "philologisch-historischen Wissenschaften" befassen will. Die Auswahl von Fallstudien ist in einem solchen Feld notwendig idiosynkratisch, und das gilt auch für das Fehlen derselben. Wäre nicht Gustav Freytag ein geeigneterer Autor für die Behandlung der "Transformation des historischen Textes in einen dichterischen"  (S. 388f.) als Adalbert Stifter? Verdiente nicht Franz Grillparzer, der am Ende der Einleitung mit einigen kernigen Zitaten zu Wort kommt, weitergehende Aufmerksamkeit? Wie verhält es sich mit akademisch-belletristischen Mischformen wie beispielsweise den enorm populären Novellen von Wilhelm Heinrich Riehl? Solche Fragen sind nicht ganz gerecht gegenüber der vorliegenden Arbeit, belegen aber ein weiteres Mal die Anschlussfähigkeit der in ihr vertretenen Thesen. Dehrmann fasst sowohl Untersuchungszeitraum als auch Untersuchungsgegenstand absichtlich groß und lässt auch den theoretischen Rahmen eher locker bestimmt – jetzt wäre es an der Zeit, die dadurch notwendigerweise entstehenden Lücken zu füllen.




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Bibliographie

Behrs, Jan (2013): Der Dichter und sein Denker. Wechselwirkungen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft in Realismus und Expressionismus. Stuttgart: Hirzel.

Buschmeier, Matthias (2008): Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit: Studien zum Verhältnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft. Tübingen: Niemeyer.

König, Christoph (2001): Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen. Göttingen: Wallstein.

Martus, Steffen (2007): Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Berlin: De Gruyter.

Nebrig, Alexander (2013): Disziplinäre Dichtung. Philologische Bildung und deutsche Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Berlin: De Gruyter.

Osterkamp, Ernst (1989): "Verschmelzung der kritischen und der dichterischen Sphäre." Das Engagement deutscher Dichter im Konflikt um die Muncker-Nachfolge 1926/27 und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 33, S. 348–369.



Anmerkungen

1 Die Metapher entspricht der Konzeption von Dehrmanns Buch, vgl. auch Buschmeier, der von einem "Trennungsdrama" (Buschmeier 2008: 2) spricht. Ob neben solchen Szenen einer Ehe nicht auch harmonischere Phasen zu beobachten wären, ist eine interessante Frage, zu deren Beantwortung das besprochene Buch aber eher kein Material liefert.

2 Ich stimme Dehrmann nicht zu, wenn er über die Uhlandforschung schreibt, diese "neigte entschieden dazu, seine Person gleichsam aufzutrennen. Sie befasste sich entweder mit dem Dichter oder mit dem Philologen, ohne den Zusammenhang beider ernst zu nehmen" (S. 301). Uhlands Doppelbegabung ist in der (insgesamt nicht umfangreichen) Literatur durchaus zur Kenntnis genommen, dann aber meist entweder romantisch-regressiv verklärt oder unsachlich abgewertet worden. An der Richtigkeit von Dehrmanns Schlussfolgerung, Uhland sei insgesamt "unterschätzt" (ebd.), ändert das freilich nichts.