PhiN 75/2016: 68



Aurora Rodonò (Köln)



Sabine Schrader / Daniel Winkler (Hg.) (2014): TV glokal. Europäische Fernsehserien und transnationale Qualitätsformate. Marburg: Schüren.



Konnte man sich noch in den 1990er Jahren gemütlich ans Bügelbrett stellen und nebenbei Seifenopern, die wie (schlechte) Hörspiele daherkommen, ansehen, erfordern die heutigen Qualitätsserien unsere volle Aufmerksamkeit. Einer epischen Erzählweise folgend, die sich am Roman der Moderne schult, rehabilitieren die Serien des Quality TV die 'große Erzählung' von der menschlichen Existenz. Die qualitativ hochwertige Serie hat Hochkonjunktur und längst Eingang in die Feuilletons und die wissenschaftliche Forschung gefunden. In der deutschsprachigen Forschung allerdings liegt der Fokus nach wie vor auf den US-amerikanischen Serien, so Sabine Schrader und Daniel Winkler, die Herausgeber*innen des Sammelbandes TV glokal. Europäische Fernsehserien und transnationale Qualitätsformate, in ihrer Einleitung. Denn: immer noch gelten US-amerikanische Serien wie The Sopranos, Lost, The Wire, Mad Men oder Breaking Bad als Erfolgsmodell und Matrix für die europäische beziehungsweise deutsche Serienproduktion. Dabei folgt das serielle Erzählen in den USA keiner Geheimwissenschaft, und neben einer horizontalen Erzählweise gehören komplexe narrative Strukturen, gesellschaftsbrisante und universelle emotionale Themen sowie ambivalente, sich entwickelnde Figuren zu den wesentlichen Merkmalen gut funktionierender Qualitätsserien. Es kommt also darauf an, dass die Geschichte stimmt. Und während das deutsche Produktionssystem dem Drehbuch nach wie vor zu wenig Beachtung (und monetäre Ressourcen) schenkt, sind die mindestens vierhändig schreibenden Autor*innen im angloamerikanischen System das Herzstück erfolgreicher Series, die sich durch eine spezifische Handschrift eben der Autor*innen (und nicht der Redakteur*innen) auszeichnen. So weit, so bekannt.
Wie aber eignen sich europäische Fernsehserien angloamerikanische Formate an? Welchen eigenen Traditionslinien filmischer/televisiver Produktion folgen sie? Und welche kulturellen Übersetzungsprozesse finden beim Adaptieren oder Abwehren US-amerikanischer Mediensysteme statt?

Diesen und weiteren primär kulturwissenschaftlichen Fragen geht der Band TV glokal. Europäische Fernsehserien und transnationale Qualitätsformate nach. Dabei versammelt diese erste deutschsprachige Publikation, die sich exklusiv der europäischen Fernsehserie widmet, vierzehn Beiträge von in Österreich, Deutschland und den Niederlanden verorteten Wissenschaftler*innen aus den Disziplinen der Literatur-, Film-, Medien- oder Kulturwissenschaft.




PhiN 75/2016: 69


Im Zentrum der für sich sprechenden Case Studies stehen neben dem deutsch- und englischsprachigen Raum die romanischen Produktionsländer Frankreich, Italien und Spanien. Außerdem begeben sich die Autor*innen an die aus deutschsprachiger Perspektive medienwissenschaftliche Peripherie und analysieren Serien aus den Ländern Portugal, Russland oder Tschechien; sie werfen kurze Seitenblicke zum Beispiel auf die Niederlande und schwenken nebenbei auf die internationale Serienlandschaft in Geschichte und Gegenwart. Auch beleuchtet der Band das Verhältnis zwischen Television, neuen Medien, Kino und Literatur, wobei er bis an die Anfänge des 19. Jahrhunderts zurückblickt.

Weil es um eine transnationale Perspektive und um die Frage universeller Ästhetiken und Erzählmuster geht, ist der Band, der aus der im April 2013 als dritte romanistische TV-Tagung stattgefundenen Konferenz "TV glokal. Europäische Fernsehserien im Kontext" hervorgegangen ist, nicht länderspezifisch sortiert. Stattdessen gliedern die beiden Herausgeber*innen den Sammelband nach vier Schwerpunkten, die quer durch die verschiedenen Länder ästhetische Kategorien, Genres, Themen und Räume (auch politische und imaginäre) fokussieren. Dabei gehen Sabine Schrader und Daniel Winkler vom Konzept des Glokalen in seiner kulturwissenschaftlichen Bedeutung aus, dem zufolge Produkte der globalen (angloamerikanischen) Kultur je nach lokalem Kontext unterschiedlich adaptiert und übersetzt werden. Folglich sprechen sie sich in ihrer ausführlichen Einleitung gegen die viel zitierte globale Homogenisierung nach US-amerikanischem Modell aus und setzen dieser die vielfältigen nationalen und regionalen Traditionslinien von Serialität oder televisiven und kinematografischen Formen in Europa entgegen, die sich an der Schnittstelle zwischen Globalisierung und Lokalisierung stets erneuern, ohne die 'eigene' europäische (hybride) Identität zu negieren.

Der Band widmet sich also medien- und kulturwissenschaftlichen Fragen und betrachtet, vor der Folie der Lokalisierung, die spezifischen politischen Situationen und Mediensysteme im jeweiligen Produktionsland der Serien. Dabei geraten die ökonomischen Verhältnisse und die Produktionsbedingungen, innerhalb derer die Serien entstehen, ebenso ins Visier wie die Distributionsbedingungen, die im digitalen Zeitalter zu einer Überblendung von TV und Internet führen. Denn nicht nur spielen beim Konzept des Quality TV dramaturgische und ästhetische Qualitäten eine Rolle, auch die multimedialen Rezeptionskanäle oder Trägermedien (DVDs, Video-Streaming etc.) und die vielfältigen Partizipationsangebote für die Zuschauer*innen/User*innen mittels Blogs oder Chats sind ein wesentlicher Faktor für den Erfolg von Serien, die nicht mehr nur über das Fernsehen rezipiert werden, so die Vorüberlegungen der Herausgeber*innen.




PhiN 75/2016: 70


Die Beiträge im Einzelnen

Die ersten drei Beiträge von Beate Ochsner, Sabine Schrader und Christian von Tschilschke setzen sich mit dem Europäischen Qualitätsfernsehen in Deutschland, Italien und Frankreich auseinander und verhandeln Fragen der Zeitlichkeit oder der "Metatelevisivität" (56ff.) von Serien. Hier stehen ästhetische Verfahren und das Alleinstellungsmerkmal der jeweiligen Serie vor dem Hintergrund der nationalen Medienlandschaft im Zentrum der Betrachtungen. So unterstreicht Sabine Schrader im Fall der italienischen Serie Boris deren Sonderstatus innerhalb der italienischen Serienproduktion, insofern als Boris intradiegetisch vom Fernsehgeschäft erzählt und insgesamt das italienische Mediensystem auf humoristische und kritische Weise parodiert. Beate Ochsner zeigt anhand der deutschen Echtzeitserie Zeit der Helden, wie sich die Fernseh- und Lebensereignisse der Zuschauer*innen ineinander verweben. Christian von Tschilschke wiederum diskutiert die französische Miniserie Carlos (über den gleichnamigen venezolanischen Terroristen) des Kinoregisseurs Olivier Assayas, die zwar serielle Muster aus den USA aufruft, aber gleichzeitig dem französischen Autorenkino verbunden bleibt.

Es folgen vier Beiträge von Uta Fenke, Susanne Marschall, Kathrin Ackermann und Jörg Türschmann, die unter der Überschrift "Region in Serie" das Regionale in europäischen Serienformaten wie etwa Dorfchroniken in den Blick nehmen und das Wechselspiel zwischen urbanen und ländlichen Realitäten verhandeln. Dabei finden oft genug räumliche 'Verwechslungen' statt: So zitiert beispielsweise die Schwabenserie Die Kirche bleibt im Dorf popkulturelle, urbane Lebenswelten und Musiken, während die Figuren ganz klar lokal verortet sind und Schwäbisch schwätzen (Marschall). Eine analoge glokale Situierung findet sich in der Piefke-Saga, die ausgehend vom Genre des Heimatfilms aus der Heimatutopie eine Art Dystopie im parodistischen Idiom macht (Fenske). Mensch und Natur/Provinz befinden sich hier nicht im Einklang – ein Verhältnis, dem sich auch Jörg Türschmann anhand unterschiedlicher Dorfchroniken unter anderem aus der franquistischen Zeit in Spanien zuwendet. Und Kathrin Ackermann konstatiert für die französische Serie Les Vivants et les morts, in der es um einen Arbeitskampf in einer Zellstofffabrik im Norden Frankreichs geht, eine spezifisch französische Thematik.

Die drei sich anschließenden Beiträge von Oliver Fahle, Eva Binder und Stefan Neuhaus gehen dem Konzept des Nationalen in englischen, russischen und portugiesischen Serien nach, also jenen medienästhetischen Strategien, die nationalbildende Effekte haben oder die Kraft, nationale Konstruktionen in Frage zu stellen. Besonders augenfällig ist hier die russische Onlineserie Srok, die nur als Internet-Projekt existiert, das in Form von dokumentarischen Filmclips die Protestbewegungen gegen das Regime Putins aus den Jahren 2011 und 2012 dokumentiert (Binder). Dass das Fernsehen nicht nur Abbildfunktion hat, sondern durchaus gesellschaftliche Situationen neu ordnet, belegen auch die beiden von Oliver Fahle untersuchten portugiesischen Serien Conta-me como foi und Mistérios de Lisboa, die jeweils einen Blick auf die (auch faschistische) Vergangenheit Portugals werfen und die Herausbildung eines kulturellen Gedächtnisses mitbefördern. Wie im Fall der Serie Carlos ist es nicht unerheblich, dass auch der Regisseur von Mistérios de Lisboa, Raúl Ruiz, vom Kino kommt und nicht-televisuelle Bilder à la Visconti schafft. Aber auch weniger kinematografische Bilder bürsten die bestehende Ordnung gegen den Strich, wie dies in Fawlty Towers, der "besten britischen Sitcom aller Zeiten" (196), der Fall ist (Neuhaus).




PhiN 75/2016: 71


In den weiteren vier Aufsätzen, die unter der Überschrift "Glokale Verbrechen und serielle Leidenschaften" versammelt sind, diskutieren Tanja Weber, Birgit Wagner, Nicole Kandioler und Christopher F. Laferl die Krimiserie in Italien und Frankreich sowie Gender- und Sexualitätsverhältnisse in Tschechien, England oder Frankreich. Zunächst verweist Tanja Weber anhand der italienischen Erfolgsserie Romanzo criminale auf die Thrillertradition in Italien, während sie gleichzeitig unterstreicht, dass die Serie den für Italien typischen Provinzialismus verlässt. Birgit Wagner untersucht dann eine weitere international erfolgreiche Krimiserie, nämlich Engrenages aus Frankreich, die zwar aufgrund der politischen Implikationen eindeutig lokal verankert ist, aber gleichzeitig globale Konflikte verhandelt. Den Band beschließen zwei Artikel, die die Themen Gender und Sexualität betrachten, wie sie etwa in der tschechischen Lifestyle-TV-Serie Auf ewig Dein – eine Serie, die drei Paare bei ihren Hochzeitsvorbereitungen begleitet – repräsentiert werden (Kandioler). Christopher F. Laferl hingegen stellt einen Zusammenhang zwischen dem Seriellen im Fernsehen und dem Seriellen im Leben von Homosexuellen (durch das wiederholte Sich-outen-müssen) her und vergleicht die beiden Serien Queer as Folk und Clara Sheller im Hinblick auf die Debatte um den essentialistischen oder performativen Charakter des Begehrens.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die Autor*innen ihr Augenmerk vornehmlich auf inhaltlich-narrative und medienpolitische Fragen richten und weniger auf das Visuelle. Von den Inhalten ausgehend, stellen sie fest, dass eine Qualitätsserie gerade jene Fernsehserie ist, die keinen typischen TV-Stil hat. Vielmehr ähnelt die Serie des Quality TV in Struktur und Look der Kinoästhetik und positioniert sich gegen das Privatfernsehen und gegen die amerikanische Massenware. Die klassische TV-Narration gegen den Strich bürstend, erprobt die Qualitätsserie neue Formen, durchbricht dramaturgische Konventionen und kokettiert mit der Literatur und dem Kino. Dass das Fernsehen und somit auch die Serienproduktionen nicht losgelöst von den (medialen) Politiken eines Landes sind, ist eine wesentliche, die sehr unterschiedlichen Aufsätze miteinander vereinende Überlegung. Folglich machen die Autor*innen auf die Besonderheiten der landesspezifischen Mediensysteme aufmerksam, innerhalb derer die Serie (und die kulturelle Produktion insgesamt) die Kraft hat, gesellschaftliche Verhältnisse zu bestätigen oder zu kritisieren. So gesehen finden die knapp 20-jährige (Medien-)Herrschaft von Berlusconi in Italien, die Diktaturen in Spanien und Portugal sowie deren Kolonialgeschichten, das totalitäre Regime Putins oder die postsozialistische Situation in Tschechien ihren Niederschlag in den TV-Produktionen, und zwar nicht nur textimmanent, sondern ebenso was die Vermarktung angeht.




PhiN 75/2016: 72


Resümee

Der Band ist in vielerlei Hinsicht interessant, da er bei der Präsentation beispielhafter Serien panoramaartige Einblicke in die internationale Film- und Fernsehgeschichte gibt und, vor dem Hintergrund des globalen Neoliberalismus, nationalspezifische und lokale Politiken befragt. Zwar sind die Beiträge in ihrer Gesamtheit weniger analytisch als es die theoretischen Vorüberlegungen in der Einleitung versprechen. Dennoch eröffnet der Sammelband einen einzigartigen, variationsreichen Fächer quer durch die europäische und US-amerikanische Serienlandschaft, der transmediale Wechselwirkungen ans Licht bringt. Auch wenn einige der Beiträge zuweilen recht deskriptiv bleiben und sich auf die Inhalte konzentrieren, anstatt die Ästhetiken und Produktionskontexte genauer zu analysieren, wird deutlich, dass die europäische Qualitätsserie äußerst heterogen ist und eigenen narrativen und ästhetischen Mustern folgt, die innerhalb einer konkreten historischen sowie politischen Situation die jeweils landesspezifischen Kino- und TV-Traditionen aufrufen, selbst wenn sie sich entlang der globalisierten, angloamerikanischen Mediensysteme herausbilden. Dass auch weniger prominente Produktionen aus Ländern wie Tschechien und Russland in Betracht gezogen werden, verschiebt den westeuropäischen Blick auf produktive Weise. Schön auch, dass die einzelnen Beiträge von einer umfangreichen Filmografie und Bibliografie ergänzt werden, die die aktuelle transnationale Serienlandschaft und die damit einhergehende Quality TV-Debatte widerspiegeln. Wieder einmal haben Sabine Schrader und Daniel Winkler (wie schon mit ihrem Band zum italienischen Kino Nuovo Cinema Italia. Das Filmland Italien meldet sich zurück, Wien u.a. 2010) eine Lücke im deutschsprachigen Raum geschlossen, indem sie die (europäischen) Ränder medienwissenschaftlicher Reflexionen aufgespürt haben, um die berühmte filmische und ökonomische Hegemonie der USA in Frage zu stellen oder zumindest an ihr zu rütteln. Einen Beleg für die Existenz eines spezifisch europäischen Qualitätsfernsehens, das globale Narrative und Patterns lokalisiert, liefert der Band allemal.