PhiN 75/2016: 64



Julia Brühne (Mainz)



Franziska Heller (2015): Alfred Hitchcock. Einführung in seine Filme und Filmästhetik. München: Fink.



Alfred Hitchcock – selbst wer keinen seiner Filme je gesehen haben sollte, ist mehr als einmal mit ihm in Berührung gekommen: Er ist Pionier des modernen Agententhrillers, freudianischer Revolutionär des Boy-meets-Girl-Plots und Schöpfer der wohl meistzitierten Duschszene der Welt. Begriffe wie Suspense, MacGuffin oder Cameo sind untrennbar mit ihm verbunden. Sein Werk hat Filmemacher wie François Truffaut, Pedro Almodóvar oder David Lynch ebenso inspiriert, wie es für Film-, Kultur- oder Literaturwissenschaftler eine bis heute nicht versiegende Quelle der vielfältigsten Forschungsansätze darstellt.

Franziska Heller hat sich der schwierigen Aufgabe angenommen, eine Einführung in seine Filme und Filmästhetik zu verfassen. Dabei ist es ihr einerseits darum zu tun, besonders 'kanonische' Hitchcock-Filme in Einzelanalysen vorzustellen; andererseits sollen diachrone und genrebezogene Einordnungen helfen, dem Phänomen Hitchcock auf den Grund zu gehen und das für diesen Regisseur offenbar besonders bedeutsame Zusammenspiel von phänomenalem Leib und semiotischem Körper (vgl. Fischer-Lichte 2004) zu entschlüsseln: Mithin die überaus gelungene Selbstdarstellung Hitchcocks, der sich gewissermaßen als seine eigene Marke erfand und durch geschickt gestreute Fakten – oder Gerüchte – aus seiner Biographie nicht unerheblich zu den (frühen) Interpretationen seiner Filme beitrug.

Das erste Kapitel "Alfred Hitchcock und seine Geschichte(n)" bietet einen Überblick über Hitchcocks Entwicklung vom technisch versierten 'Handwerker' – als der er zunächst wahrgenommen wurde – zum auteur; über seinen Einfluss auf die 'jungen Wilden' der Cahiers du cinéma und die zunehmende Aufmerksamkeit, die ihm – nicht zuletzt durch das Zutun eben jener 'junger Wilder' wie Eric Rohmer, Claude Chabrol, Jean-Luc Godard und François Truffaut – in Filmkritik und Forschung zuteilwurde. So war die gemeinsame Studie von Rohmer und Chabrol von 1957 die erste Monographie, die über Hitchcocks Kino erschien und seine Wahrnehmung als auteur festigte. Für Rohmer und Chabrol arbeitet sich Hitchcock in den bis dahin erschienenen Filmen wieder und wieder am Komplex der Schuld (des Unschuldigen) ab, an der rätselhaften Gestalt des unberechenbaren jansenistischen Gottes, der auch für die Franzosen – wie später Jean-Pierre Melville – so bedeutsam war. Die Schuldfrage wird dabei von den Figuren selbst auf den Filmzuschauer ausgeweitet: Schließlich sei dieser in einem Film wie Rear Window voyeuristischer 'Mittäter', der mit und für die Hauptfigur Jeffries hofft, dass der von diesem vermutete Mord in der Wohnung gegenüber dem "Fenster zum Hof" tatsächlich stattgefunden hat (19–20).




PhiN 75/2016: 65


Neben der Vorstellung mehrerer einschlägiger (werkbiographischer) Studien z.B. von Robin Wood (1965), Raymond Durgnat (1974) oder William Rothman (1982) widmet sich Heller anschließend einem der auch in Deutschland wohl bekanntesten Hitchcock-Bücher: Truffauts Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? (Le cinéma selon Hitchcock, 1966) – ein Gesprächsband, "der wie keine andere Studie Hitchcock Raum bot, sich und seine Filme öffentlich ins Bild zu setzen" (27) und auf den die Autorin im Verlauf der Einführung immer wieder zurückkommt. Truffauts handwerklich-praktische Fragen an den Regisseur und dessen lakonisch-amüsierte, aber auch detaillierte Antworten legen den Grundstein für die filmästhetische Strukturierung der speziell Hitchcockschen Dramaturgie des Suspense – jener ganz besonderen Form von Spannung, die das Publikum in "Angstlust" fesselt. Den genannten Studien ist gemein, dass sie alle auf die spezifische Rolle des Zuschauers im Hitchcockschen Kino Bezug nehmen – ein Ansatz, der auch bei Hellers eigenen Analysen von Hitchcocks Ästhetik in The Lodger, The 39 Steps, Rear Window, Vertigo, Psycho, The Birds und Frenzy im Vordergrund stehen wird.

Das zweite Kapitel "Hitchcock aktuell: Wie und wo sehen wir seine Filme heute?" beschäftigt sich mit der zeitgenössischen Wahrnehmung des Regisseurs, die, wenn man so möchte, 'kontaminiert' ist von dessen jahrzehntelanger "multimedialen Selbstinzenierung" (38) sowie von den Möglichkeiten der digitalen Restaurierung seiner Filme im 21. Jahrhundert oder auch der Entstehung von Biopics wie Sacha Gervasis Hitchcock (2012) mit Anthony Hopkins in der Rolle des Meisters. Heller geht hier auf die Schwierigkeiten einer 'neutralen' Lektüre ein, ist doch die "Persona 'Hitchcock'" (40) immer schon Produkt des von ihm selbst orchestrierten Mythos – jenes Labels, das die Rezeption seiner Filme steuert und dafür sorgt, dass sich diese eines teleologischen 'Wiedererkennens' des frühen im späteren Hitchcock häufig weder erwehren kann noch notwendigerweise muss. Was die Medientransition des Hitchcockschen Werks betrifft, so bringt Heller das interessante Phänomen der (digitalen) 'Verbesserung' oder Transformation der Filme ins Spiel: etwa durch die Rekonstruktion des für Dial M for Murder ursprünglich beabsichtigten 3-D-Formats, durch die Ergänzung eines neuen Soundtracks zu The Lodger oder schlicht durch die Zirkulation der Filme in diversen Aufführungskontexten, die heute so vielfältig sind wie nie zuvor: "Kino, Event-Screenings, TV, Blu-ray-Disc, mobile Endgeräte" (52). Biopics wie Hitchcock oder The Girl (R: Julian Jarrold, 2012) wiederum, die das Bild des zeitgenössischen Zuschauers von Hitchcock erheblich beeinflussen können, suchen dem Mythos "über private Details auf den Grund zu gehen" (55): Sie verschränken, so Heller, das in den Filmen immer wieder thematische Voyeurismus-Problem mit dem auch privat voyeuristisch veranlagten Regisseur, der seine Darstellerinnen fetischisiert. So versuchen sie den Voyeurismus des Zuschauers doppelt zu befriedigen, indem sie nicht nur erhellende Einblicke in die psychologischen 'Abgründe' des Regisseurs suggerieren, sondern auch in die Filme selbst, deren vermeintlich unvollständige 'Auflösungen' wie in Psycho oder The Birds zuweilen hinter den Erwartungen des Zuschauers zurück bleiben.




PhiN 75/2016: 66


Die anschließenden Kapitel 3 bis 9 – der "eigentliche[…] Hauptteil des Bandes" (35) – widmen sich der Analyse der oben genannten Filme. The Lodger markiert für Heller den Beginn des Voyeurismus-Motivs, die Lust des Zuschauers – und selbstredend des Regisseurs! – am Verbrechen. Weit wichtiger als die Auflösung des Kriminalfalls und die Bestrafung des Mörders sind für Hitchcock die zermürbenden Beziehungen zwischen den Figuren, sodass aus einem vordergründig klassischen Whodunnit eine Parabel über 'wahres' und 'falsches' Sehen wird. Auch The 39 Steps spielt mit verschobenen bzw. verdoppelten Perspektiven und der identifikatorischen Bindung des Zuschauers an den Protagonisten. In Rear Window schließlich erreichen die Rolle des Schauens und der genießerische Voyeurismus, in den sich der Zuschauer verstrickt findet, innerhalb einer metareferentiellen Verweisstruktur einen ersten Höhepunkt im Hitchcockschen Œuvre. Hellers Einschätzung zufolge generiert sich die Spannung in Rear Window jedoch in erster Linie durch die Ambivalenz, die der Zuschauer hinsichtlich des Identifikationsangebots mit dem Protagonisten erfährt, schwanke er doch zwischen Identifizierung mit Jeffries und "differentieller Wahrnehmung" (94). Im Kapitel zu Vertigo, einem ungemein vielschichtigen Film, der die neurotische Obsession der männlichen Modellierung eines idealen – weil sublimen – weiblichen Liebesobjekts schonungslos ausstellt, zieht Heller im Anschluss an jüngere filmwissenschaftliche Forschungen Parallelen zu Rear Window: Auch hier sei die Ästhetik darauf ausgerichtet, "Projektionen des Zuschauers auf der diegetischen Ebene des Films, aber auch auf einer Metaebene zu provozieren; dahingehend den Film als spezifische Modellierung des Kinoerlebnisses schlechthin zu begreifen" (109). Im verhältnismäßig langen Kapitel zu Psycho befasst sich Heller einlässlich mit der Sekundärliteratur und stellt unter anderem die Positionen von Rothman, Wood und Linda Williams einander gegenüber, die der bis dato ebenso einzigartigen wie nachhaltigen Affektwirkung von Psycho Rechnung getragen haben. Für The Birds betont Heller wiederum die Rolle des Zuschauers, der in das Spiel einander entgegengesetzter Wahrnehmungsmodi hineingeworfen werde, das die unterschiedlichsten Affekte produziere und das Publikum somit metaphorisch sowohl zum Opfer als auch zum Täter werden lasse – ein emotionaler Double-bind, aus dem es keine kathartische Erlösung gibt, bleibt doch das Ende des Films eigentümlich offen. Der letzte in diesem Band betrachtete Film, Hitchcocks spätes Meisterwerk Frenzy, für dessen Dreh er nach langer Zeit nach England zurückkehrte, setzt der Autorin zufolge in ähnlicher Weise "auf den überraschenden Umschlag von Stil- und Stimmungslagen, von emotionaler Involvierung und Distanzierung des Publikums" (154). In einer obszönen Überbietungsgeste wird der Zuschauer hier noch radikaler als in Rear Window oder Psycho "in die Position eines perversen Voyeurs" (155) hineingezogen, der die explizite Vergewaltigungs- und Mordszene sowie das spätere Ringen des necktie stranglers mit der widerspenstigen Frauenleiche im Kartoffelsack gewissermaßen unzensiert 'genießen' darf.




PhiN 75/2016: 67


Heller ist mit ihrer Studie eine solide Einführung in Hitchcocks Kino gelungen. Die diachrone Betrachtung einiger der bekanntesten Titel der Sekundärliteratur bietet einen sinnvollen und informativen Überblick über die Hitchcockrezeption und -Forschung der vergangenen Jahrzehnte. Die Analyse der ungebrochenen 'Hitchcockmania' des digitalen Zeitalters überzeugt durch die Betrachtung diverser Aspekte (von der Restaurierung der Stummfilme über das DVD-Package mit suggestivem Bonusmaterial bis zum "künstlerischen Kidnapping" des Regisseurs in der Video- und Installationskunst) und überrascht mit ungewöhnlichen Details. Ausgesprochen knapp fällt hingegen der Abschnitt zu Remakes und Parodien aus – dies ist schade, hat doch Hitchcock wie kaum ein anderer Regisseur nicht nur filmästhetisch stilbildend gewirkt – man denke nur an die unzähligen Filme des Agentenformats, die in der Tradition des nicht behandelten North by Northwest (1959) stehen –, sondern auch diverse Plots in psychoanalytischer Tradition angeregt, z.B. den Thriller Identity (2003) von James Mangold, der eine Replik auf Psycho zu sein scheint. Da es Heller jedoch in erster Linie um eine Aufbereitung der spezifisch Hitchcockschen Filmästhetik und insbesondere um die Involvierung des Zuschauers geht, steht die psychoanalytische oder sozio-politische Semantik der Filme in den einzelnen Kapiteln folgerichtig nicht im Vordergrund. Was die Wahl der im Hauptteil betrachteten Filme angeht, so müssen bei den begrenzten Möglichkeiten einer Einführung zwangsläufig Wünsche offen bleiben. Es wurde hier eine geschickte Auswahl aus einigen der bekanntesten Werke getroffen. Dennoch vermisst man wenigstens einen Film aus den frühen Hollywood-Jahren oder der Selznick-Periode des Regisseurs: Ohne einen detaillierten Blick auf Rebecca (1940), Suspicion (1941), Shadow of a doubt (1943) oder Notorious (1946) ist der Abstand zwischen The 39 Steps von 1935 und Rear Window von 1954 doch sehr groß und nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen. Kritisch anzumerken wäre ferner, dass Begrifflichkeiten wie das "kollektive Gedächtnis" (62) und das "kulturelle Gedächtnis" (63) oder das "Imaginäre" (110) nicht näher erklärt bzw. deren Genese erläutert werden. Insgesamt gesehen schmälert dies jedoch kaum den Verdienst, einen schwer zu fassenden Regisseur bündig und verständlich eingeführt zu haben. Das Buch ist für alle Hitchcock-Einsteiger zu empfehlen und eine informative Lektüre für Hitchcock-aficionados, die ihre Kenntnisse auffrischen und den Weg des Master of Suspense ins Blu-ray-Jahrhundert nachverfolgen möchten.


Bibliographie

Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.