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Torsten König (TU Dresden)



Die Mittelmeermigration in der italienischen Gegenwartsliteratur – Biopolitik und Erzählung in gesellschaftlichen, medialen und poetologischen Kontexten



The article focuses on the Mediterranean migration, in particular the flight across the Mediterranean, as a topic in Italian contemporary literature. Three texts are at the centre of the investigation: Fabio Geda, Nel mare ci sono i coccodrilli (2010), Allesandro Leogrande, Il Naufragio (2011) and Giuseppe Catozzella, Non dirmi che hai paura (2014). We start with the assumption that the popular media create topoi and narratives of migratory instances that are determined by European bio-political dispositives. The article is based on the premise that literary representations of the Mediterranean migration undermine this kind of perception because literary representations have the capacity to generate and to control empathy and thus have the potential to create a modified view of migration phenomena. Following the theory of narrative empathy developed by Fritz Breithaupt, the article supports the concept of the epistemic relevance of narration. In a second step an attempt is made to situate the texts in the field of contemporary Italian literature. Due to their formal hybridity (which demonstrates textual strategies oscillating between fictionality and referentiality) it is difficult to define these texts in traditional terms like 'novel', 'reportage', or 'fiction/non-fiction'. They can be situated in a tendency that Raffaele Donnarumma has described by the term "ipermodernità". According to Donnarumma this kind of hybrid texts transcend postmodern poetics and forms of knowledge.


Die sogenannte 'illegale' Migration über die südliche Seegrenze Europas, das Mittelmeer, wird in der italienischen Öffentlichkeit spätestens seit 2011, als sich im Zuge des arabischen Frühlings die Zahl der in Italien anlandenden Bootsflüchtlinge sprunghaft mehr als verzehnfachte und mit ihnen die Zahler derer, die bei der Überfahrt ertranken, als humanitärer, verwaltungstechnischer und politischer Notstand wahrgenommen.1 Mit den eingesetzten Steuerungsinstrumenten, der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX oder den Auffang- und Abschiebelagern in Lampedusa, Crotone und Cassibile, gelingt es weder die Migration über das Meer systematisch zu regulieren noch die Aufnahme der clandestini, wie die Migranten ohne Aufenthaltserlaubnis im Italienischen heißen, zu bewältigen. Die Zahl der Opfer blieb trotz des Rettungsprogramms Mare Nostrum katastrophal hoch. Grenzschutzagentur und Auffanglager können als Institutionen im Dienste von Grenzziehungen verstanden werden, die auf die Regulierung der Mobilität von Individuen und Gruppen sowie ihre Disziplinierung abzielen. Sie sollen erlauben, über Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu Bevölkerungsgruppen, über Ein- oder Ausschluss zu entscheiden. Folgt man in der Einordnung dieser Befunde aktuellen Diskussionskontexten der politischen Theorie, lassen sie sich als institutionelle Manifestationen biopolitischer Dispositive verstehen.2 In einem spezifischeren Sinn erscheinen diese Instrumente als Verwaltungstechnologien im Dienste europäischer Biopolitik. Mit Giorgio Agamben kann festgehalten werden, dass deren Funktionsmechanismen die von ihnen betroffenen Menschen auf ihre physische Existenz reduzieren und auf der Grundlage territorial geprägter Handlungslogiken zum Gegenstand politischen Agierens machen. Denn im Moment der Überfahrt über das Mittelmeer begibt sich der Geflüchtete nicht nur in einen physischen Risikoraum, der seine biologische Existenz bedroht, sondern, unabhängig von seiner Herkunft, auch in einen ebenso risikoreichen Rechtsraum, der außerhalb nationalstaatlicher Rechtsordnungen steht. De jure zwar durch das internationale Seerecht und die Genfer Flüchtlingskonvention geschützt, wird er de facto zu einer Art homo sacer, um das vielzitierte Konzept Agambens zu bemühen, der keinen durch territoriale und ethnische Zugehörigkeit verbrieften Rechtsschutz mehr zu erwarten hat.3




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Die etwa ab dem Jahr 2000 zu beobachtenden Manifestationen eines in den populären Medien generierten Bildes der Migration über das Mittelmeer in Italien und Europa können in zahlreichen Ausformungen als Element des biopolitischen Dispositivs gelesen werden. Insbesondere in Italien ist die mediale Wirksamkeit der Migrationsereignisse sehr hoch und hat schon relativ früh Narrative ausgeprägt, welche die Ereignishaftigkeit in Bedeutungsstrukturen überführen. Das übervoll mit Menschen beladene Flüchtlingsboot respektive -schiff, das seit den 90er Jahren als Bildelement in keiner Berichterstattung der Nachrichtenmedien über die Mittelmeermigration fehlt und von Unterstützern und Gegnern mit Bedeutung aufgeladen wird, gehört zu den hier wirkenden Topoi.4 Das Bild des überbordenden Bootes vermittelt einerseits die Vorstellung einer undifferenzierten Masse namen- und geschichtsloser Individuen, die versuchen, das europäische Ufer zu erreichen. Andererseits evoziert es den Eindruck einer unüberschaubar großen Menge. Verbales Äquivalent der visuellen Repräsentation sind Metaphern wie 'Welle'/onda oder 'Flut'/marea der Flüchtlinge. Parallel dazu dominieren statistische Daten die Berichterstattung über Migrationsereignisse: die Zahlen der pro Jahr, Monat oder Tag angelandeten Flüchtlinge, die Zahlen derer, die zu erwarten sind oder auch diejenigen der Ertrunkenen.5

Der Topos des überladenen Flüchtlingsbootes aktualisiert, auch in Fällen, in denen er mit humanitären Intentionen eingesetzt wird, ein älteres Narrativ: das der Bedrohung Europas durch kulturfremde und andersgläubige 'Horden' von jenseits des Mittelmeeres. Sein Ursprung kann bis ins Mittelalter der Kreuzfahrer zurückverfolgt werden. Über die Jahrhunderte virulent wird es im 19. Jahrhundert mit neuen Energien aufgeladen, als die Alterität und damit das latente Bedrohungspotenzial des südlichen Mittelmeerraumes im europäischen Diskurs eine doppelte Funktion zu erfüllen hatte. Sie war einerseits Teil einer kolonialen Legitimationsrhetorik im Konflikt mit dem Osmanischen Reich, in dessen Verlauf der gesamte südliche und östliche Mittelmeerraum unter europäische Herrschaft gebracht wurde. Andererseits kamen der Andersartigkeit Nordafrikas und des Nahen Ostens wichtige Funktionen bei der Artikulation eines europäischen Selbstverständnisses zu. (Vgl. Baumeister 2007: 31) Die im Mittelmeerdiskurs seit dem 19. Jahrhundert stellenweise emphatische Betonung der verbindenden Kraft des Meeres kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in europäischer Wahrnehmung vor allem ein trennender Grenzraum war.6 Das diesen durchquerende Flüchtlingsboot erweist sich als Variation historiographischer Topoi wie der osmanischen Flotte im 15. und 16. Jahrhundert vor Venedig und Malta oder der die künstlerische Vorstellungswelt des romantischen 19. Jahrhunderts bevölkernden Korsaren der Côte des Barbaresques.




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Eine andere Lesart des überbordenden Flüchtlingsbootes wird durch Eva Horns Beobachtungen zu medial und dabei vor allem in Fiktionen entworfenen Katastrophenszenarien im 20. und 21. Jahrhundert nahegelegt. Nach Horn modellieren diese Szenarien verschiedene Typen von Not- bzw. Überlebensgemeinschaften, also gesellschaftliche Strukturen, die sich in Krisensituationen herausbilden. Während die klassische Moderne gruppenspezifische Antagonismen auf der Grundlage einer "Ontologie der Feindschaft" geschaffen habe, sei die Gegenwart durch Narrative geprägt, die eine "Biopolitik der Knappheit" spiegeln. (Horn 2013: 1002) Es handele sich um Erzählmuster, die "Orte mit drastisch begrenzten Ressourcen" in Szene setzen und in ihnen eine Situation der Knappheit entwerfen, in denen das Überleben der Einen den Tod der Anderen erfordere. (Ebd.: 1000, 1002) Das Bild vom vollen Flüchtlingsboot entfaltet in diesem Vorstellungshorizont spezifische Semantiken. Vor dem Hintergrund des emphatischen Menschheitsbegriffes, der den öffentlichen Diskurs der westlichen Welt prägt, appelliert es einerseits an die Bereitschaft zur Solidarität, andererseits scheint es in einem verdrängten Subtext diejenigen metonymisch zu indizieren, die allein aufgrund ihrer schieren Menge von der Teilhabe an den Ressourcen ausgeschlossen werden müssen. Jean Raspails umstrittener Roman Le Camp des saints aus dem Jahr 1973 illustriert den topologischen Charakter auch dieses Narrativs. In einer Zeit, die, was Quantitäten betrifft, weit von den Migrationsbewegungen des Jahres 2015 entfernt ist, imaginiert der ultrakonservative Romancier eine dystopische Endzeit europäischer Kultur, die durch die Anlandung von einer Million Armutsflüchtlingen aus Indien an der französischen Mittelmeerküste ausgelöst wird. Dass dieses Narrativ Teil eines allokationsethisch begründeten biopolitischen Dispositivs ist, zeigt sich in der aktuellen politischen Diktion. "Non possiamo accogliere tutti coloro che vogliono andare via dall'Africa"7 affichiert eine Logik der Alternativlosigkeit und einen ethischen Paradigmenwechsel, bei dem der Tod "mit Begründungen und rationalen Verfahren" versehen wird, statt das Dilemma schamhaft zu beschweigen. (Horn 2013: 1002)

Vor dem hier skizzierten Wahrnehmungshorizont soll im Folgenden die italienische Gegenwartsliteratur in den Blick genommen werden, die zwischen 2010 und 2014 die Migration über das Mittelmeer thematisiert. Wenngleich es in Italien eine seit den 90er Jahren ständig anwachsende Literatur gibt, die sich aktuellen gesellschaftlichen Migrationsprozessen und -phänomenen widmet, geschrieben von Autoren mit und ohne Migrationsbiographien,8 ist die Flucht nach Europa über den südlichen Seeweg erst seit wenigen Jahren Gegenstand von Erzählungen, die sich im Bereich literarischer Kommunikation verorten lassen. Diese Texte, soviel sei vorausgeschickt, gleichen sich, abgesehen vom gemeinsamen historischen Themenhorizont, in zwei strukturellen Merkmalen: dem Umstand, dass sie ihre Gegenstände im Modus der Narration verhandeln sowie in ihrer gattungstechnischen Hybridität, die zwischen Fiktionalität und Faktualität oszillierende Vertextungsstrategien in Szene setzt. Diese machen es schwer, sie mit traditionellen Kategorien wie Roman oder Reportage zu beschreiben. Das Interesse an dieser Textgruppe richtet sich auf zwei Aspekte. Zum einen auf die Beschreibung möglicher epistemischer und gesellschaftlicher Funktionen der Erzählungen bei der Unterwanderung biopolitischer Dispositive, zum andern auf die Bestimmung ihrer Stellung im Kontext aktueller Entwicklungen der italienischen Narrativik und in poetologischen Debatten.

Angesichts der Dynamiken, welchen die Diskussionen um die Migrationsbewegungen in Europa und deren mediale Verhandlungen seit dem Sommer 2015 unterworfen sind, sei an dieser Stelle explizit darauf hingewiesen, dass der untersuchte Zeitraum für die folgenden Beobachtungen vor 2015 liegt.




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Narration, Empathie und Biopolitik

Nach der schrittweisen Schließung der seit den 90er Jahren bis 2002 stark frequentierten kürzeren und damit weniger gefährlichen Flüchtlingsrouten über das Mittelmeer, der Meerengen von Gibraltar und Otranto, ist die Zahl der Flüchtlinge, die von Libyen über das offene Meer nach Italien und Malta kommen sowie von der Türkei über die griechischen Inseln, in den Folgejahren stark angestiegen.9 Das gleichzeitige Auftauchen von Publikationen zum Thema Flucht über das Mittelmeer, die das Nachrichtenformat überschreiten, steht in Italien fraglos in engem Zusammenhang mit der öffentlichen Wahrnehmung dieses Anstiegs sowie desjenigen der Opferzahlen. Zu den ersten Texten, welche in diesem Kontext die Migration von Afrika über das Mittelmeer nach Europa thematisieren, gehört Bilal. Il mio viaggio da infiltrato nel mercato dei nuovi schiavi (2007) des Journalisten Fabrizio Gatti. Der Autor folgt Migranten auf ihrem Weg durch die Sahara über Libyen nach Italien und dokumentiert diese Reise in einer Mischung aus journalistischer Reportage und Abenteuererzählung, die es nicht versäumt, die Rolle des Erzählers als Reporter entsprechend in Szene zu setzen. Der Journalist, Blogger und Regisseur Gabriele del Grande widmete sich mit Mamadou va a morire. La strage dei clandestini nel mediterraneo (2007) im selben Jahr, ebenfalls in Form einer umfangreichen Reportage, dem Sterben der Bootsflüchtlinge. Er berichtet über einzelne Schicksale von Ertrunkenen, indem er ihnen durch Interviews mit Familienangehörigen und investigativen Recherchen in ihren Herkunftsländern bzw. auf ihren zurückgelegten Wegen nachgeht. Während die genannten Texte und weitere10 in Form von journalistischen Reportagen die Mittelmeermigration thematisieren, erscheint ab 2010 eine im Folgenden näher interessierende Reihe von Erzählungen, die von diesem Gattungsmuster abweichen.

Der erste eingehender zu betrachtende Text aus dieser Gruppe ist Nel mare ci sono i coccodrilli. Storia vera di Enaiatollah Akbari aus dem Jahr 2010 von Fabio Geda (*1972), Autor mehrerer z.T. preisgekrönter Romane.11 Geda lässt einen Ich-Erzähler zu Wort kommen, der rückblickend über seine Flucht von Afghanistan nach Italien berichtet. Er wurde als Neunjähriger von seiner Mutter nach Pakistan gebracht, um ihn vor der Taliban-Willkür zu schützen, und von ihr dort allein zurückgelassen. Über verschiedene Zwischenstationen kommt er in die Türkei, dann über das Mittelmeer nach Griechenland und schließlich nach Italien. Der Erzählung dieses Flüchtlingsschicksals unterliegt als strukturgenerierendes Moment ein Itinerarium, das den aus verschiedenen Fluchtepisoden bestehenden Plot an Topographien rückbindet. Durch eine Reihe von Paratexten wird der Leser darauf hingewiesen, dass er es nicht mit einem fiktiven Stoff zu tun hat. Der Untertitel weist die Erzählung als "Storia vera" aus, was in einer knappen vierzeiligen Nachbemerkung weiter erläutert wird: Ihr liege eine biographische Wirklichkeit zugrunde – die von Enaiatollah Akbari, der im Moment der Niederschrift der Geschichte durch Geda zwanzig Jahre alt ist. (Geda 2010: 155) In eine dem Text vorangestellte Karte von Europa und dem Nahen und Mittleren Osten ist die Reiseroute des Protagonisten eingezeichnet, was auf einer anderen medialen Ebene die Faktualität des Erzählten markiert. Die wichtigste Referentialität schaffende Paratext- bzw. genauer gesagt Epitextgruppe ist aber die der zahlreichen Interviews in audiovisuellen und Textmedien, die der Autor gemeinsam mit Enaiatollah Akbari nach Erscheinen des Buches gegeben hat. Man erfährt in ihnen u.a., wie Geda auf die Lebensgeschichte des jungen Flüchtlings gestoßen ist, wie er mit ihm Kontakt aufgenommen hat und nach seinen Beschreibungen die Erzählung entworfen hat.12 Die enorme mediale Aufmerksamkeit, die das Buch erfahren hat,13 ist sicher nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass der Protagonist einen empirischen, außertextuellen Referenten hat, der mit seiner medialen Präsenz für die Authentizität der Erzählung bürgt. Das Wirkungspotenzial der Narration, das aus dem Spannungsfeld zwischen Fiktionalität und Faktualität resultiert, wird durch die epitextuellen Interviews maßgeblich determiniert.




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Trotz aller Verweise auf eine Realbiographie ist die fiktionale Seite des Textes, also jene, die ihn als einen Sprechakt ausweist, der nicht beansprucht, an der 'Wirklichkeit' überprüfbar zu sein, klar markiert. Allein der offensichtliche Rollencharakter der Erzählerstimme verweist auf ein fiktionales Wirklichkeitsverhältnis des Textes. Der Autor modelliert dabei einfühlsam die Vorstellungswelt des Protagonisten, dramatisiert durch Dialoginszenierungen oder arbeitet andere Figurencharaktere heraus. Die Episode der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland im Schlauchboot und nach Italien in einem Containerschiff lässt dabei die strukturelle Differenz zur Repräsentation der Migrationsereignisse in den Nachrichtenmedien deutlich werden. (Geda 2010: 112–134) Der Lesende wird hier mit ihm bekannten Phänomenen der Mittelmeermigration konfrontiert, allerdings in einer neuen Perspektive. Nicht von außen, lediglich eine undifferenzierte Menge an Menschen wahrnehmend, blickt er auf das Boot und das Schiff, sondern er sieht die Vorgänge gewissermaßen aus der Innenperspektive durch den Blick eines Zeugen, eines Betroffenen. Legitimiert wird diese Perspektive nicht nur durch ihre literarästhetische Kohärenz, sondern durch die verbriefte Authentizität des Zeugen.

Ähnliche Strukturen wie Gedas Erzählung weist Giuseppe Catozzellas (*1976) Non dirmi che hai paura aus dem Jahr 2014 auf. Der Autor leiht seine Stimme einer weiblichen Erzählerfigur, die im Rückblick ihre Lebensgeschichte erzählt: Samia, zu Beginn der Geschichte zehn Jahre alt, wächst im bürgerkriegsgeschüttelten Mogadischu der 90er Jahre in Somalia auf und verfügt über ein großes Talent – sie kann schneller laufen als alle anderen. Aus einfachsten Verhältnissen kommend qualifiziert sie sich durch hartnäckiges Training für die Teilnahme an den olympischen Spielen in China 2008. Nach ihrer Rückkehr wird es für die Athletin immer schwerer, unter dem Terrorregime der islamistischen Al Shabaab-Milizen ihr Talent zu entfalten, so dass sie sich für die Emigration entscheidet. Ihr Weg führt über Äthiopien nach Libyen, ihr Ziel ist Europa, wo sie 2012 an den olympischen Spielen in London teilnehmen will. Das Boot, in dem sie mit hunderten anderer Menschen über das Mittelmeer nach Italien gelangen soll, wird vom italienischen Küstenschutz abgedrängt. Entschlossen, nicht nach Libyen zurückzukehren, springt die Nichtschwimmerin ins Wasser.

Auch diese Erzählung affichiert eine starke Rückbindung des Stoffes an die historische Wirklichkeit und zwar nicht nur im Hinblick auf allgemeine Strukturphänomene wie Armut und Bürgerkrieg am Horn von Afrika. Vielmehr erweist sich die fiktionale Erzählung ebenfalls als einer realen Lebensgeschichte nachgebildet, der von Samia Yusuf Omar. Es ist wieder, wie bei Geda, eine Reihe von Paratexten – ein Epilog, Fotos und eine "Nota dell'autore" –, welche die fiktionale Ebene der Erzählung mit der der Faktizität des Falles der somalischen Athletin verbinden, die 2012 beim Versuch umkam, über das Mittelmeer nach Italien zu gelangen. Während der literarisierte, fiktive Lebensbericht der Figur Samia mit einer Vision der Ertrinkenden endet, die sich gerettet und als Teilnehmerin an den olympischen Spielen sieht, hält der kurze Epilog, kursiv vom Haupttext abgesetzt, nüchtern fest: "Samia Yusuf Omar è morta nel Mar Mediterraneo il 2 aprile 2012 mentre tentava di raggiungere le funi lanciate da un'imbarcazione italiana." (Catozzella 2014: 229) Zwei Fotos auf den folgenden Seiten zeigen Samia Yusuf Omar und ihre Nichte Mannaar. In der "Nota dell'autore" erfährt der Leser, wie der Autor auf den Stoff gestoßen ist – über eine Nachrichtenmeldung – und wie er den Stoff recherchiert hat – u.a. über Interviews mit Angehörigen. (Ebd.: 233–234) Ähnlich wie in Gedas Erzählung tragen auch bei Catozzella Epitexte in Form von Nachrichten aus den Medien, in denen der Fall der somalischen Sportlerin sehr präsent war, hinsichtlich des Status der Aussagen zur Etablierung einer faktualen Ebene parallel zur fiktionalen bei.




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Das dritte hier zu betrachtende italienische Beispiel für literarische Reaktionen auf die Migrationsereignisse im Mittelmeerraum ist Alessandro Leograndes (*1977) Il naufragio. Morte nel Mediterraneo von 2011. Der engagierte Journalist und Autor einer Reihe von reportage narrativi, in denen er sich u.a. dem organisierten Verbrechen, der Wirtschaftskriminalität und den Strukturproblemen des Südens widmet (vgl. ebd.: Klappentext), umkreist hier in fünfundzwanzig Abschnitten die Ereignisse um den Untergang des albanischen Flüchtlingsbootes Kater i Rades am 28. März 1997 in der Meerenge von Otranto. Bei dem Unglück, das durch den Zusammenstoß des Bootes mit einem Schiff der italienischen Kriegsmarine verursacht wurde, ertranken mehr als einhundert Menschen. Die Schuldfrage wurde nie abschließend geklärt. Die einzelnen Abschnitte des Buches präsentieren sich heterogen, in unterschiedlichen Textformen. Es finden sich narrativierte Zeugenaussagen in Form von Erzählungen in der dritten Person, welche neben der Schilderung unmittelbar mit dem Schiffbruch in Zusammenhang stehender Ereignisse die Lebensgeschichte der Protagonisten und die historischen Kontexte ihrer Herkunft beleuchten.14 Diese wechseln mit Passagen, die im Stil journalistischer Reportagen investigativ die Hintergründe des Unglücks, die polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermittlungsarbeiten sowie die Lebensgeschichten einzelner Passagiere ausleuchten. Dabei berichtet die Stimme des Reporters sowohl über die recherchierten Fakten als auch über den Rechercheprozess in Italien und Albanien selbst.15 Schließlich finden sich in einer dritten Textgruppe Dokumente wie die transkribierten Tonbandmitschnitte des Funkverkehrs in der Unfallnacht, Protokolle aus den Gerichtsverhandlungen o.ä. (Ebd.: 18, 73 etc.) Die im Verbund geschaffene Kontiguität der einzelnen Textteile lässt sie zu einer Erzählung über Ursachen und Verlauf der Katastrophe sowie über die Schicksale einzelner Opfer und Überlebender verschmelzen. Auffällig ist das Oszillieren zwischen fiktional markierter Literarizität und Faktualität ausstellenden Schreibweisen. So weist die Modellierung von Ereignisabläufen in narrativen Handlungsstrukturen, die Dramatisierung vermittels dargestellter Dialogszenen oder die Wiedergabe von Innenperspektiven bestimmte Passagen als zur ersten Textform gehörig aus, minutiöse Dokumentation von Rechercheergebnissen sowie die Inszenierung der Recherche in Reportagenform als zur zweiten.

Zusammenfassend kann zu den drei Erzählungen an dieser Stelle zunächst festgehalten werden, dass sie sich durch die Schilderung von Einzelschicksalen auszeichnen. Alle verweisen ausdrücklich und mit unterschiedlichen Mitteln auf ihre Authentizität. Durch diesen Verweis etablieren sie eine wirklichkeitsbehauptende Beziehung der Erzählung zum historischen Phänomen der Mittelmeermigration. Die erzählten Lebensgeschichten werden zu historisch exemplarischen Schicksalen. Im Raum der medialen Öffentlichkeit treffen sie auf andere Repräsentationen der Thematik: die der Nachrichtenbilder. Kehrt man an dieser Stelle zu den eingangs skizzierten biopolitischen Dispositiven zurück, welche die europäische und italienische Flüchtlingspolitik prägen, wird deutlich, wo das mediale Differenzierungspotenzial dieser Erzählungen liegt. Sie stellen den Repräsentationen in den Nachrichtenmedien, die durch die abstrakten Logiken der Statistik und der Quantifizierung geprägt sind, andere gegenüber, welche im 'Strom' der Migranten einzelne Schicksale, ihre Individualität, ihre Geschichte sichtbar machen. Explizit bringt Alessandro Leogrande diese Funktion im Vorwort zum Libretto der Oper Katër i Radës. Il naufragio (2014) zum Ausdruck, die auf der Grundlage seines romanzo inchiesta von Admir Shkurtaj komponiert und am 12. Oktober 2014 auf der 58. Musikbiennale in Venedig uraufgeführt wurde. Der Diskurs über die Migranten, hier genauer über die Ertrunkenen, werde in der Regel in Form eines "calcolo statistico" geführt. Wenn auf die Migrationsereignisse in Formen wie der Erzählung oder der Oper Bezug genommen werde, dann, um das "universo umano di chi è andato incontro a una delle tante tragedie del Mediterraneo" freizusetzen. (Leogrande 2014: Pos. 32)




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Erst seit dem Sommer 2015, angesichts der bis dato nicht gekannten Dynamiken der Migrationsereignisse in Europa, scheint auch in den Nachrichtenmedien verstärkt jene Dimension auf, die Leogrande im Blick hat. Exemplarisch wird diese Tendenz durch die Berichterstattung zu dem ertrunkenen Aylan Kurdi im September 2015 repräsentiert. Allerdings lässt sich in diesem Zusammenhang in den untersuchten Texten im Vergleich zu anderen Formen medialer Repräsentation ein spezifisches epistemisches Potenzial ausmachen. Es ist durch ihre Eigenschaft begründet, Empathie zu generieren und zu steuern, und zwar nicht nur im Sinne eines emotional stimulierten Ergriffenseins oder Mitleidens, sondern eines handlungsorientierenden Verstehens. Um diese Eigenschaft zu beschreiben, sollen Überlegungen von Fritz Breithaupt herangezogen werden, der eine narratologisch basierte Theorie der Empathie vorgelegt hat. Auf Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zur wesentlich durch Spiegelneuronen verantworteten Fähigkeit des Menschen zum "intellektuellen und emotionalen Verstehen von Anderen" geht Breithaupt von der Hypothese aus, der Mensch lebe als soziales Wesen "in einer Welt emphatischen Lärms", in einer Art Dauerfeuer emphatischer Reize. (Breithaupt 2009: 8) Diese werden aber zwangsläufig nicht alle in Verständnis oder Mitgefühl übersetzt. Folglich müsse es Filter- und Regulierungsinstrumente geben, die eine Steuerung der Empathie erlauben. Hierzu gehöre die menschliche Fähigkeit zum Erzählen. Durch den gedanklichen Nachvollzug des zeitlichen Nacheinanders der Handlungen und Situationen eines Anderen, der mit der Erzählung einhergeht, sind wir mit ihm verbunden, so Breithaupt. Dabei sei von Bedeutung, dass der Beobachter von Ereignissen, die mit Anderen in Zusammenhang stehen, diese spekulativ miteinander verknüpft. "Durch ein solches narratives Hinzudenken […] wird der Betrachter impliziert […] und beginnt dabei, die Perspektive des oder der Handelnden einzunehmen." Wir verstehen andere Menschen, "indem wir sie in kleine gedankliche Erzählungen verwickeln." (Ebd.: 10) Narration ist nach dieser Auffassung definiert als das Verbinden von Ereignissen, die nicht zwingend miteinander verknüpft sind. "Der Beobachter schlüpft also nicht direkt in die Haut des anderen, sondern kalkuliert oder erträumt die Handlungsmöglichkeiten des anderen." (Ebd.) Strukturell kann sich Empathie demnach nur in Konstellationen entfalten, in denen Informationen zu Ereignissen im Zusammenhang mit der Situation des Anderen verfügbar sind und letztere dann durch den Betrachter mit den Ereignissen narrativ in Verbindung gebracht werden. Literarische Narrationen erfüllen diese Entfaltungsvoraussetzungen aufgrund ihrer Struktureigenschaft, Handlungen, Handlungsräume und Handlungsmotivationen von Akteuren vergegenwärtigen zu können.

Die besondere Leistung der betrachteten Erzählungen zur Mittelmeermigration lässt sich auf der Grundlage dieser Überlegungen weiter präzisieren. Indem sie exemplarisch Einzelschicksale herausgreifen und diese narrativ modellieren, machen sie ein teilnehmendes Verstehen des Phänomens möglich. Bei Geda und Catozzella wird der Schilderung jener Lebensumstände, die für die Flucht ausschlaggebend waren, viel Raum gegeben. Die konsequent aus der Innenperspektive der sie erlebenden Figur entwickelte Erzählung ermöglicht, den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Zwängen in den durch islamistischen Terror und größte Armut geprägten Ländern, den Hoffnungen und Lebensplänen der Protagonisten und der Entscheidung zur lebensgefährlichen Flucht über verschiedene Stationen, u.a. das Mittelmeer, zu verstehen. Leogrande wählt eine andere Perspektive, aber auch bei ihm werden die Schicksale einzelner Überlebender und Opfer rekonstruiert, wobei beispielsweise deren Wahrnehmungsmuster durch weitgreifende Exkurse zur Geschichte erklärt werden.16




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Werten wir die Fähigkeit, Handlungsmotivationen, Befindlichkeiten und Weltsichten des Anderen einfühlend zu verstehen, als Form handlungsrelevanten Wissens, erfüllt die Erzählung hier wichtige epistemische Funktionen. Sie unterscheidet sich von anderen medialen Techniken der Generation sentimentaler Anteilnahme, wie sie zweifelsohne die italienischen Nachrichtenmedien sehr viel stärker prägen als die deutschen. Indem sie Strukturen bereitstellt, die den teilnehmenden Nachvollzug von Erfahrungen anderer ermöglichen, eröffnet sie auf eine sehr basale Weise die Möglichkeit, den Anderen in seinem Menschsein zu erkennen, wie die Philosophin Martha Nussbaum in ihrer breit angelegten Studie Upheavals of Thoughts (2001) zur Rolle emotionaler Intelligenz in gesellschaftlichen Prozessen bemerkt: "If I allow my mind to be formed into the shape of your experience, even in a playful way and even without concern for you, I am still in a very basic way acknowledging your reality and humanity." (Nussbaum 2001: 333) Der Andere rücke auf diesem Weg in unseren "circle of concern" ein, jenen Horizont, innerhalb dessen Dinge unsere intellektuelle und emotionale Aufmerksamkeit erlangen können. (Ebd.: 336)17

Unabhängig von der Frage, ob Europa in der Flüchtlingsfrage politisch 'richtige' oder 'falsche' Positionen vertritt (und auch wenn im Sommer 2015 gar keine Rede mehr von einer 'europäischen' Position sein kann), lässt sich festhalten, dass es in der medial geführten Diskussion eine epistemische Leerstelle gibt. Sie entsteht einerseits durch Versuche, das ethische Dilemma durch rationalisierende Diskursstrategien wie etwa eine Verrechtlichung der Problematik zu lösen. Andererseits scheint sie durch generelle medienspezifische Strukturen erklärbar. Die Literatur- und Medienwissenschaftlerin Carla Benedetti verweist darauf, dass die tägliche, medial kommunizierte Menge an Grausamkeiten, Toten, unschuldigen Opfern und Ungerechtigkeiten bei weitem die Möglichkeiten des Einzelnen zur Anteilnahme übersteigt. Das Problem sei nicht der Grad an Grausamkeit der Bilder, sondern ihre fragmentierte, dekontextualisierte Form und ihre hohe Frequenz, die eine kathartische Verarbeitung unmöglich mache. Dahingehend spricht Benedetti von den Nachrichtenbildern als einer "tragedia senza coro." (Benedetti 2011: 51) Die Erzählungen von Autoren wie Geda, Catozzella oder Leogrande können dazu beitragen, diese Leerstelle zu schließen.


Erzählung – Realismus – Engagement: Poetiken der ipermodernità

Die gesellschaftliche Funktion der untersuchten Texte, eine kritische Gegenperspektive zum in den Nachrichtenmedien transportierten Bild der Mittelmeermigration zu entwerfen, sieht sich mit einer Reihe poetologischer Fragen konfrontiert, die sich auch für eine Vielzahl anderer Werke der italienischen (und europäischen) Gegenwartsliteratur stellen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich in Form von Narrationen gesellschaftlichen Problemen der Gegenwart widmen und in literaturspezifischer Weise ein Urteil zu zeitgeschichtlichen und sehr aktuellen sozialen Phänomenen entwickeln. Die damit verbundene notwendige Affirmation einer referentiellen Beziehung zwischen Text und historischer Wirklichkeit erweist sich vor dem Hintergrund der in den vergangenen Jahrzehnten geführten epistemologischen und poetologischen Debatten zum spezifischen Wirklichkeitsverhältnis medialer Repräsentationen als nicht selbstverständlich. In gegenwärtigen Retrospektiven werden im italienischen Kontext verschiedene, in Literatur, Literatur- bzw. Kulturtheorie und Philosophie der vergangenen Jahrzehnte identifizierte Positionen gern unter dem Begriff 'Postmoderne' zusammengefasst. Gemeinsamer Nenner dieser Bestandsaufnahmen ist der Verweis auf den Konstruktionscharakter medial generierter Bilder und damit auf ihren nur bedingt einlösbaren Referentialitätsanspruch.18 Unabhängig von der Frage, ob man ein solcherart verkürztes Verständnis von Postmoderne teilt bzw. ob der Begriff überhaupt heuristisches Potenzial bei der historischen Bewertung literarischer und theoretischer Phänomene der letzten Jahre hat, lässt sich seine Virulenz in den italienischen Debatten konstatieren.19




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Vor diesem Hintergrund hat kürzlich der italienische Literaturwissenschaftler Raffaele Donnarumma mit Ipermodernità. Dove va la narrativa moderna (2014) eine Bestandsaufnahme zu Tendenzen in der italienischen Gegenwartsnarrativik vorgelegt. Während die Erzählliteratur der 60er bis 90er Jahre auf das eben skizzierte epistemische Paradigma reagierte und sich durch eine Absage an mimetische Realismuskonzepte, intertextuelle Verweisspiele, Autoreferentialität und Metafiktionalität auszeichnete, sei, so Donnarumma, ab den späten 90er Jahren eine abweichende Entwicklung zu beobachten. Es tauchen verstärkt Narrationen auf, die mit unterschiedlichen Mitteln und auf unterschiedlichen strukturellen Ebenen ausdrücklich auf eine textunabhängig gegebene gesellschaftliche Wirklichkeit Bezug nehmen, ohne in ein trotziges Festhalten an überkommenen Realismuskonzeptionen zu verfallen. Da sie mit ihrem Anspruch und der mit ihm verbundenen Suche nach Ausdrucksformen das überschreiten, was Donnarumma postmoderne Epistemen und Poetiken nennt, schlägt er zur Benennung dieser Tendenz abgrenzend den Begriff der "ipermodernità" vor.20 Zu den prominenten Autoren, welche eine literarische "ipermodernità italiana" repräsentieren, gehören Roberto Saviano, Antonio Franchini, Walter Siti oder Helena Janeczek. Eine Reihe von Strukturmerkmalen der oben betrachteten Texte zur Mittelmeermigration erlaubt es, diese im Lichte der neuen Tendenz literaturhistorisch einzuordnen. Auch wenn die Kategorien von Donnarumma einer eingehenderen, differenzierten Kritik bedürften, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann, erscheinen sie vorläufig als sehr geeignet, der Spezifik der hier interessierenden literarischen Phänomene vor dem Hintergrund einer entsprechenden Kontrastfolie Relief zu geben.

Ein erstes dahingehend relevantes Strukturmerkmal ist ihre gattungstechnische Hybridität, welche die Kategorien fiktional / nicht-fiktional als Differenzierungskriterium obsolet macht. Es handelt sich zwar um Narrationen, aber nicht um Romane im Sinne realistischer Poetiken des 19. Jahrhunderts. Die drei untersuchten Texte unterhalten enge Beziehungen zu Formen nicht-fiktionaler journalistischer und dokumentarischer Wirklichkeitsrepräsentation. So verweisen Geda und Catozzella mit Hilfe von Paratexten darauf, dass es sich bei dem Stoff um authentische Lebensgeschichten – storie vere – handelt, wodurch sie dem Genre der Biographie bzw. der biographischen Reportage angenähert werden. Leogrande montiert Textelemente im Stile des investigativen Journalismus und Schriftdokumente in seine Erzählung. Die Strukturelemente nicht-fiktionaler Repräsentationen werden bei allen drei Autoren gleichwohl in Narrationen eingeflochten, die klassische Fiktionalitätsmarker bemühen wie z.B. eine offensichtliche Differenz von Erzählerstimme und Autor, Innenperspektiven von Protagonisten oder die Dramatisierung von Handlung durch Dialoginszenierungen. Für diese Art Texte, die weder als Romane oder andere Formen traditioneller literarischer Erzählung klassifizierbar sind, noch als nicht-fiktionale Genera, und die als wesentliches Strukturmerkmal eine Narration entwickeln, schlägt Donnarumma den Begriff "narrazioni documentarie" vor.21 Sie unterscheiden sich von der klassischen non-fiction novel à la Truman Capote durch die Implementierung von faktualen Elementen, d.h. medialen Repräsentationen, die eine ungebrochene Referentialität zur nichtmedialen Wirklichkeit affichieren. Strukturelemente mit dokumentarischem Charakter wie die Epitexte zu den Erzählungen von Geda und Catozella oder die Funkprotokolle und Gerichtsakten bei Leogrande erfüllen diese Funktion. Hierbei kommt die performative Dimension des Dokuments zum Tragen. Es ist nicht nur Aufzeichnung eines Ereignisses, sondern ausgestellter Teil des Ereignisses selbst, der durch diese Teilhabe Faktizität reklamieren kann.22 Die stoffliche Quelle wird, anders als in naturalistischen Erzählungen üblich, nicht verdeckt und auch nicht postmodern als vertextete Welt präsentiert, sondern in ihrer Alterität ausgestellt.23 An anderer Stelle ist bei Donnarumma hinsichtlich des Oszillierens zwischen fiktionalen und faktualen Modi der Textkonstitution wortspielerisch von "faction" die Rede. (Donnarumma 2014: 165)24




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Die Faktualitäts-Marker der Texte erfüllen keine mimetischen Funktionen im Dienste eines Wirklichkeitsabbildes, sondern verteidigen vielmehr den Wahrheitsanspruch der Aussagen, die über die Wirklichkeit gemacht werden. Ein rhetorisches Mittel, um diese Verteidigung zu realisieren, ist die Inszenierung von Zeugenschaft. Bei Geda und Catozzella erweist sich die Erzählerstimme als die eines Zeugen respektive einer Zeugin, authentifiziert und legitimiert durch die paratextuellen Verweise auf die Faktizität der geschilderten Lebensgeschichten. Und auch die Rekonstruktionen der Passagierschicksale der Kater i Rades bei Leogrande sowie die Beschreibungen des verschleppten Aufarbeitungsprozesses gewinnen ihre Legitimität aus der Stimme des seine Recherchetätigkeit mitreflektierenden Erzählers. Donnarumma identifiziert vergleichbare Strukturphänomene bei den von ihm untersuchten Autoren und fasst sie unter dem Begriff "realismo testimoniale" zusammen. Dieser definiere sich weniger über seine Faktentreue als über "la necessità di dire un vero che esorbita dai limiti dell'empiricamente accaduto." (Donnarumma 2014: 126) Die Textstrukturen erweisen sich nicht als geprägt von einer dokumentarischen Finalität, sondern von einer persuasiven.25 Dabei verbirgt die Erzählung eingedenk der postmodernen Unmöglichkeit universeller Urteile nicht die Subjektivität und Partikularität der Zeugenperspektive, sondern stellt sie vielmehr aus, um gerade aus ihr Glaubwürdigkeit zu beziehen. Nicht die Herstellung einer Konkordanz zwischen Text und vermeintlicher Wirklichkeit motiviert die Narration, sondern der Versuch, Evidenz im Medium der Erzählung zu schaffen.

Die mit den Begriffen "narrazione documentaria" und "realismo testimoniale" gefassten strukturellen Merkmale der Erzählungen lassen sich als Suche nach Ausdrucksformen verstehen, die einer "finzionalizzazione" widerstehen, also jenem Prozess, bei dem im medientechnischen und medientheoretischen Kontext der letzten Jahrzehnte der Wahrheitsanspruch von Aussagen unter Verweis auf die nicht garantierbare Faktizität aller Formen medialer Repräsentation, auch nicht-fiktionaler, ausgehöhlt wird. Angesichts der über jeder Aussage schwebenden Bedrohung, auf ein mediales Phantasma reduziert zu werden, verteidigt sich "l'empirico […] facendo voce grossa." (Ebd.: 127)26

Schließlich sind mit der Poetik des Dokuments und der Zeugenschaft bestimmte Vorstellungen von der gesellschaftlichen Funktion der letteratura ipermoderna verbunden. Ausgehend von einem Verständnis der "scrittura come responsabilità etica" (ebd.: 190) kommt den Erzählungen die Aufgabe zu, zum Verstehen der Wirklichkeit beizutragen und auf diese zurückzuwirken. Wenn Literatur eine gesellschaftliche Bedeutung beanspruchen kann, dann weil sie die Macht hat, Wirklichkeit zu verändern, "il potere di cambiare la realtà", äußert Roberto Saviano zur Rolle der Gegenwartsliteratur. (Saviano 2009: 15) Aus Sicht von Autoren wie Saviano muss Literatur ein Instrument "di analisi e di denuncia del presente" werden, realisiert von einem neuen Typus des Intellektuellen, der nicht nur Wirklichkeit erzählt, sondern auch in sie hineinwirkt. Das bedeutet klar – "lo scandalo sta qui" – eine Zurückweisung der ästhetischen Autonomie der Kunst und deren Unterwerfung unter praktische, außerliterarische, d.h. ethische Ziele. (Donnarumma 2014: 203–205, 221) Ohne Frage, die neuen Realismen der ipermodernità stehen im Zeichen des impegno, eines epistemologisch und poetologisch reflektierten Engagements. Sie konfrontieren sich mit der ethischen Problematik, welche durch den in Frage gestellten Bezug von Text und Welt aufgeworfen wird.




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Die abschließenden Beobachtungen zur Einordnung der untersuchten Erzählungen im Spektrum zeitgenössischer italienischer Literatur zeigen zweierlei. Erstens, dass in dieser derzeit Phänomene zu beobachten sind, die möglicherweise einen Paradigmenwechsel markieren, der sich im Übrigen unter ähnlichen formalen und thematischen Vorzeichen auch in anderen europäischen Literaturen beobachten lässt. Weit davon entfernt, literarästhetisch bedeutungslose Formen des gesellschaftlichen Engagements zu repräsentieren, erweisen sie sich im Gegenteil auf formaler Ebene als komplexe Auseinandersetzungen mit überkommenen Poetiken der vorangehenden Jahrzehnte und definieren gleichzeitig neue Aufgaben der Literatur.27 Dass einzelne Elemente der Schreibweisen einer Poetik des Dokuments und der Zeugenschaft durchaus schon länger zum bekannten Inventar narrativer Formen gehören, mag den Einwand evozieren, es handle sich hier um nichts wirklich Neues. Was aber wäre wirklich neu unter den literarischen Ausdrucksformen? Neu, soviel kann festgehalten werden, ist hier die Funktion, die diese Elemente in der Erzählung übernehmen. Auch wenn man Donnarumma in seinen Befunden nicht in jedem Punkt folgen möchte, zeigt er hier interessante Tendenzen auf, die tatsächlich neue Qualitäten zu markieren scheinen – nicht zuletzt aufgrund der zu beobachtenden Quantitäten dieser Phänomene.

Mit Blick auf den historischen Gegenstand der hier fokussierten Erzählungen, der Mittelmeermigration, lässt sich zweitens festhalten, dass er sich in eine Reihe von gegenwärtigen gesellschaftlichen Problematiken von übergreifender Bedeutung einfügt, die in den Erzählungen der ipermodernità thematisiert werden: u.a. die Formen organisierter Kriminalität und deren Durchsetzung aller Gesellschaftsbereiche, der Kontrollverlust über Verwaltungsstrukturen des modernen Staates, die prekäre Arbeitswelt und die Ökonomisierung aller Daseinsbereiche. Dass die Flucht über die südliche europäische Seegrenze in dieser Form in Italien, anders als im Rest von Europa, schon seit Jahren öffentlichkeitswirksam verhandelt wird, zeigt das gesellschaftliche Gärpotenzial der Thematik.


Bibliographie

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Weinzierl, Ruth / Lisson, Urszula (2007): Grenzschutz und Menschenrechte – Eine europarechtliche und seerechtliche Studie. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.


Anmerkungen

1 Vgl. zur Entwicklung der Mittelmeermigration von den 90er Jahren bis 2011 Klepp 2011, bes. Kap. 1 "Flüchtlinge auf dem Mittelmeer: Tendenzen, Strategien, Hintergründe" (Klepp 2011: 31–70) sowie Monzini 2008.

2 Unter dem Begriff "Biopolitik" werden in aktuellen Diskussionen solche Praktiken und Diskurse verhandelt, bei denen das natürliche Leben und die physische Existenz menschlicher Individuen und Gruppen zum zentralen Ziel politischen Kalküls wird. Die Handlungsziele politischer Gewalt reichen hier von Geburtenregulierung über Seuchenprävention bis hin zum Eingriff in die Mobilität der Menschen. Zu den Ursprüngen des Begriffs 'Biopolitik' in Kulturtheorie und politischer Philosophie u.a. bei Michel Foucault, Giorgio Agamben oder Michael Hardt vgl. Folkers 2014. Zur Rolle des Begriffs in gegenwärtigen Debatten der Politikwissenschaft siehe Pieper u.a. 2011 sowie speziell zur Biopolitik der europäischen Außengrenzen Walters 2011.

3 Der Begriff der Biopolitik wird von Giorgio Agamben unter Rückgriff auf Michel Foucault definiert als "die wachsende Einbeziehung des natürlichen Lebens des Menschen in die Mechanismen und das Kalkül der Macht" (Agamben 2002: 127). Biopolitiken zielen nach Agamben in letzter Konsequenz auf die Überlebenssicherung einer Gruppe auf Kosten des Lebens einer anderen. Das Lager ist für Agamben das biopolitische Instrument par excellence, welches als Raum die Aufhebung der Rechtsordnung markiert. Der von dieser Aufhebung betroffene homo sacer wird von Agamben an anderer Stelle explizit mit dem Flüchtling verglichen (ebd.: 140). Auf den Konflikt zwischen internationalem Seerecht bzw. der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Auftrag von Frontex im Mittelmeer verweisen u.a. Weinzierl / Lisson 2007.

4 Vgl. zur medialen Präsenz der Bootsflüchtlinge in Italien Klepp 2011: 35 sowie Cere 2009. Auf Bildbelege zur These von der Omnipräsenz des Boots-Topos in den Nachrichtenmedien soll an dieser Stelle verzichtet werden. Eine einfache Suche im Internet mit dem Filter "Bilder" und den Stichworten "Flüchtlinge Mittelmeer" bzw. "Profughi Mediterraneo" liefert eine überzeugende Menge an Belegmaterial. Ein frühes, prominentes Beispiel für die auch in künstlerische Medien überführte Ikonographie des Flüchtlingsbootes ist Gianni Amelios Film Lamerica aus dem Jahr 1994. In dessen Schlussszene ist ein heruntergekommenes Schiff auf dem Weg nach Italien zu sehen, auf dessen Deck sich hunderte albanische Flüchtlinge drängen.




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5 Zu den Zahlen im untersuchten Zeitraum Klepp 2011: 33–36.

6 Während das Verbindende zwischen den heterogenen Kulturen beispielsweise bei Elisée Reclus, Fernand Braudel oder Albert Camus akzentuiert wurde, ist die Einheit der Méditerranée bei Ernest Renan, Louis Bertrand oder Paul Valéry, aber auch bei Gabriele D'Annunzio auf den exklusiven Mythos einer verbindenden Kultur europäischen Ursprungs, auch an den südlichen Ufern der Méditerranée, gegründet. Vgl. Baumeister 2007: 31–34 sowie Abulafia 2011: 545–640.

7 Das Diktum findet sich in vielen Variationen im europäischen politischen Diskurs. Hier am 15.6.2015 auf Twitter geäußert vom italienischen Politiker Maurizio Gasparri, 2001 bis 2005 Minister für Kommunikation im Kabinett Berlusconi.

8 Eine relativ aktuelle Zusammenfassung liefert Burns 2013.

9 Zu den Entwicklungen siehe Klepp 2011: 32–36. Die Zuwachsrate an Bootsflüchtlingen für den östlichen Mittelmeerraum beträgt für die Jahre 2006–2007 beispielsweise 267%; auf Lampedusa landeten 2008 30.657 Flüchtlinge an, 2007 waren es noch 19.597. (Ebd.: 34) Nach Informationen des Internetportals Fortress Europe wurden 2006 zwischen Libyen und Italien 302 ertrunkene Opfer geborgen, im Jahr 2008 bereits 642, wobei die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher liegen dürfte. Nach UN-Schätzungen liegt die Quote der Flüchtlinge, die die Überfahrt überleben, bei 60%. (Ebd.: 35)

10 Fabrizio Gatti (2007): Bilal. Il mio viaggio da infiltrato nel mercato dei nuovi schiavi. Milano: Rizzoli; Gabriele del Grande (2007): Mamadou va a morire. La strage dei clandestini nel mediterraneo. Formigine: Infinito. Weitere Reportagen in Buchform sind Stefano Liberti (2011): A sud di Lampedusa. Cinque anni di viaggi sulle rotte dei migranti. Roma: Minimum Fax sowie Gabriele del Grande (2010): Il mare di mezzo. Al tempo die respingimenti. Formigine: Infinito. Ähnlich strukturierte Reportagen finden sich auch im deutschen Sprachraum, etwa Klaus Brinkbäumer (2006): Der Traum vom Leben. Eine afrikanische Odyssee. Frankfurt a.M.: S. Fischer.

11 Mit seinem Debut Per il resto del viaggio ho sparato agli indiani (2007) gelangte er auf die Shortlist für den Premio Strega und wurde u.a. mit dem Premio Marisa Rusconi ausgezeichnet. L'esatta sequenza dei gesti (2008) wurde mit dem Premio dei Lettori di Lucca gewürdigt.

12 Beispielsweise in der Talk-Show Che Tempo Che Fa auf dem Sender Rai3 am 25.04.2010 oder im Videointerview auf Libriblog.Com vom 18.05.2010 [https://www.youtube.com/watch?v=BLsZbSaWbOw, 16.12.2015].

13 Das Buch wurde in Italien über 400.000 Mal verkauft und in 28 Sprachen übersetzt.

14 Ebd.: 13–28, "La versione di Bardhosh" oder 55–59, "La riunione", 108–122 "Ermal dentro la rivoluzione" etc.

15 Ebd.: 60–65, "La visita di Berlusconi" oder 38–40, "Soprallungo" etc.

16 Der Abschnitt 1 "La versione di Bardosh" (Leogrande 2011: 13) beginnt mit einer kurzen Beschreibung des Dorfes von Bardosch, in dem sich die Alten die Geschichte des mythischen Königs Pyrrhus von Epirus erzählten, der mit seinem Heer vom Gebiet des heutigen Albanien nach Apulien übersetzte: "Ecco – continuavano i vecchi dei villaggi polverosi a nord di Valona – per arrivare in Italia la strada è stata segnata secoli addietro." (Ebd.: 14)

17 In Teil II "Compassion" dieser umfassenden Reflexion zur kognitiven und epistemischen Funktion von Emotionen sind längere Passagen dem Problem der Empathie und ihrer Rolle in Verstehensprozessen gewidmet. Empathie verstanden als kognitive Kategorie und Kategorie gesellschaftsrelevanten Wissens ist in den vergangenen Jahren verstärkt in den Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt. Vgl. dazu u.a. Rifkin 2009.




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18 Einen solchen, zweifelsohne sehr reduktionistischen Begriff der Postmoderne bringt beispielsweise der italienische Philosoph Maurizio Ferraris mit seinem Manifesto del nuovo realismo (2012) in Anschlag. In seiner Streitschrift verwendet er ihn zur Umschreibung jener aus seiner Sicht seit den 60er Jahren virulenten, radikal konstruktivistischen Episteme, die von der Hervorbringung der Welt durch die medialen Erzeugnisse ihrer Beobachter ausgeht und in verschiedenen Theorieparadigmen – Dekonstruktion, Diskursanalyse, Medientheorie etc. – am Wirken ist. Nach Ferraris gilt es, eine so definierte Postmoderne zugunsten eines "Neuen Realismus" zu überwinden. In der Philosophie wird die Diskussion um die Überschreitung von als post-kantianisch resp. postmodern klassifizierter Epistemen von weiteren Vertretern eines sogenannten speculative realism wie Quentin Meillassoux oder Ray Brassier geführt.

19 Zu den wichtigen Beiträgen in dieser Debatte gehören u.a. Carla Benedetti: Il revival della modernità, Einführung in die italienische Ausgabe von Fredric Jameson (2003): Una modernità singolare. Saggio sull'ontologia del presente, Maurizio Ferraris (2009): Documentalità. Perché è necessario lasciar tracce, Pierpaolo Antonello / Florian Mussgnug (Hg.) (2009): Postmodern Impegno. Ethics and Commitment in Contemporary Italian Culture, Stefania Ricciardi (2011): Gli artifici della non-fiction. La messinscena narrativa in Albinati, Franchini, Veronesi.

20 Wenngleich Donnarumma auf den Ursprung des Begriffes bei Gilles Lipovetzsky (hypermodernité) verweist, handelt es sich um keine Übernahme von Inhalten, die der französische Soziologe mit ihm verbindet. Donnarumma definiert ihn für literarische und mediale Phänomene, die er als "congedo del postmoderno" (Donnarumma 2014: 99) wahrnimmt.

21 Eine umfangreiche Definition des Konzeptes "narrazione documentaria" findet sich in Donnarumma 2014: 121–125. "Mentre adottano i modi di qualcosa che non è tradizionalmente letterario (si chiami reportage, giornalismo, non fiction)", merkt Donnarumma zum Hybridcharakter dieser Texte an, "tuttavia intendono ancora essere letteratura." (Ebd.: 124)

22 Anders als beispielsweise im Briefroman des 18. Jahrhunderts, der ja auch mit persuasiven Authentifizierungsstrategien arbeitet, ist die Quelle der Narration hier identifizierbar und gibt sich als verifizierbar.

23 Gomorra (2006) von Roberto Saviano wird von Donnarumma eingehend als Repräsentant der narrazione documentaria besprochen. Roberto Saviano selbst bezeichnete Gomorra in offensichtlichem Abgrenzungsbestreben gegenüber strukturell ähnlichen Traditionen lediglich als "una sorta di non-fiction novel", grenzt seinen Text also gegenüber dem Modell Capote ab. (Saviano 2009: 200)

24 Die Grenzverwischung zwischen Fiction und Non-Fiction als ein zentraler Zug einer Gruppe von Texten der italienischen Gegenwartsnarrativik wurde auch herausgearbeitet von Tiller 2014.

25 Ebd.: "La verità è quello di cui dobbiamo essere persuasi, la realtà è ciò che bisogna mostrare; a differenza della realtà, la verità è il campo della retorica."

26 Zur "finzionalizzazione" vgl. ebd.: 117 u. 175.

27 Elisabeth Tiller verweist in ihren Beobachtungen zur italienischen Gegenwartsliteratur auf weitere Autoren bzw. Texte, die aufgrund ähnlicher Strukturmerkmale wie die von Donnarumma unter narrativa ipermoderna rubrizierten einen Paradigmenwechsel markieren: Paolo di Paolo, Lorenzo Macchiavelli, Patrick Fogli, Giancarlo de Cataldo. (Tiller 2014)