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Christoph Oliver Mayer (Dresden)



Solveig Malatrait (2011): "Si fier tornei": Benoîts Roman de Troie und die höfische Kultur des 12. Jahrhunderts. Hamburg: Hamburg University Press.



Die übersichtliche Studie, die Solveig Malatrait zum altfranzösischen Roman de Troie vorlegt, füllt insofern eine Lücke in der romanistischen Mediävistik, als in Deutschland bisher tatsächlich keine eigenständige Monographie zu Benoîts antikisierendem Roman und in französischer Sprache auch nur eine aus dem vorvorhergehenden Jahrhundert (Joly 1870–71) vorliegt. Zählt man Einleitung und Resümee hinzu, so werden uns auf innovative Art und Weise in insgesamt sechs Kapiteln und auf 166 Seiten die zentralen Fragen rund um den kanonischen Text, der den Trojamythos im 12. Jahrhundert gleichsam wiederbelebt hat, aufgezeigt. Vor dem Hintergrund einer profunden Kenntnis von Text und Sekundärliteratur wird aus einer prononciert kulturwissenschaftlichen Perspektive auch interpretatorisches Neuland betreten und ein Beispiel für eine zeitgemäße und gut lesbare Einführung in alte Texte und ihre zeithistorischen Kontexte geliefert.

Die Verfasserin argumentiert dabei im Grunde in zwei Richtungen: Zum einen möchte sie, sichtbar schon am titeleinleitenden Zitat "si fier tornei" (Benoît: V. 20920), den Roman als Manifestation der Kultur des 12. Jahrhunderts verstehen, die sich die antike Kultur gleichsam in einem der vielen ersten Schritte hin zur Renaissance aneignet, was sie selbst sogar als "Kulturtransfer" bezeichnet. Zum anderen arbeitet sie alle relevanten Impulse der neueren Cultural Studies ein, insbesondere Fragestellungen nach Gender und Performativität oder beispielsweise die Debatte um den Realitätsstatus von mittelalterlichen Romanen. Ihre durchaus innovative und mit den einschlägigen Studien von Schöning (v.a. Schöning 1991) zu vereinbarende Grundthese zum Roman de Troie liegt im gleichsam autoreflexiven Bewusstsein von der besonderen eigenen Autorschaft durch den bewusst inszenierenden Autor Benoît (32).




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Um sich einen Überblick über die Fragestellungen zu verschaffen, bietet es sich an, die Verfasserin aus ihrer Einleitung zu zitieren, auch wenn dieser Satz stilistisch nicht unbedingt prototypisch für die ansonsten konzisen wie lesbaren Formulierungen ist: "Im Folgenden sollen daher die immer wieder diskutierten Fragen aus der skizzierten kulturwissenschaftlichen Perspektive neu erörtert werden, nämlich die Sinngebungsmuster des Werks, seine immense Ausdehnung gegenüber der dürren Vorlage, die Darstellung und implizite Bewertung der Liebe, das Wuchern der Beschreibungen, die befremdliche Ästhetik der Schlachtenbeschreibungen und der auffällige Anachronismus des Werks" (10). In den Mittelpunkt der Studie rücken somit zunächst die positivistisch genannten und für eine moderne Interpretation nicht weiter relevanten Diskussionen um Autor, Zeit und Adressaten, die daher von Anfang an verbunden werden mit der wesentlich zeitgemäßeren Frage nach den Hypotexten des Trojaromans. Hierfür benennt Malatrait Diktys und des Dares und ortet eine Verbreiterung der écriture nach vorangehender Reduzierung. Sodann beschäftigt sie sich mit dem Troja-Stoff, den sie als bewusste Transkulturation skizziert. Die Darstellung der Ekphrasis deutet die Beschreibungen als Ausweis eines erzählerischen Freiraums; die Liebesthematik wird ebenso in Anlehnung an neueste Studien als Spiel verstanden, während die Kampfschilderungen nochmals das Hauptaugenmerk darauf legen, wie Troja zum höfischen Paradigma werden konnte. Der Krieg wird zum ambivalenten "dolorose juste", was den Erzähler im Vergleich mit der eigenen Lebenswelt dazu führt, unhöfische Verhaltensweisen des antiken Helden geradezu zu bedauern. Diesen Anachronismus deutet die Verfasserin schließlich als bewusstes Gestaltungsmittel, das der Ästhetik der Zeit ganz und gar entspreche, zumindest aber Benoîts Werk zum Produkt eines durchaus gesteuerten Kulturtransfers werden lasse.

Dass Benoît so gleichsam zu einem Autor wird, der didaktisch wie ästhetisch schreiben will, der durch Wissen seine Lebensqualität verbessern will und die Antike somit vereinnahmt, um die Anerkennung der eigenen Leistung einzufordern, schließt an nuancierte Interpretationen des mittelalterlichen Schreibens an, die ein ähnliches dichterisches Selbstbewusstsein und einen schöpferischen Machtdiskurs durch den Text für Marie de France oder Rutebeuf konstatieren. Indem die Verfasserin ein Nebeneinander von einer neuartigen Modellierung von Liebe, die eine aktive Frauenrolle kennt, und moralisierenden frauenfeindlichen Tiraden bei Benoît konstatiert, wird deutlich, dass es sich hier nicht einfach um einen Apologeten der höfischen Liebeskonzeption der fin'amor handelt, auch wenn hier zur Erklärung erstaunlicherweise auf die biographische Logik des Klerikers Bezug genommen wird, ohne etwa nach der Funktion der narrativen Konturierung der Figuren zu fragen. Auch das Erstaunen über die Sonderrolle der Amazonen, die keine Verbesserung der Situation der Frau nach sich zieht (105), wäre daher als Ausnahme eine Bestätigung der Regeln, die dem amour courtois inhärent sind.




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Besonders gelungen ist neben dem vom allgemein Bekannten zum Spezielleren voranschreitenden Aufbau der innovative Umgang mit den Übersetzungen des mittelalterlichen Textes. An die Stelle älterer deutscher Übertragungen treten moderne und interpretatorische Textvarianten, die die Verfasserin selbst äußerst stilsicher erarbeitet hat. Einige Fragen und Diskussionen um den Trojastoff, die seit Jahren von einer kulturwissenschaftlich verstandenen Mediävistik geführt werden, blendet die Verfasserin allerdings aus, etwa die Frage nach der Genealogie (vgl. ( Kellner 2004). Ob man aus heutiger Perspektive davon sprechen kann, dass die geringe Mobilität der mittelalterlichen Gesellschaft ein Bedürfnis nach Transzendierung der Realität geweckt hat (51), scheint zweifelhaft. Große Teile der Aussagen zur Beschreibung, v.a. die Aufzählungskataloge (116) könnten besser mit Umberto Ecos Buch der Listen (2011) erklärt werden. Die konstatierten "Überwältigungen", ihre exotische Farbenpracht und ihre endlosen Kataloge (61) sind dort bereits als Mittel epischer Diegese beschrieben worden, die nicht nur Troja zur mittelalterlichen Stadt erhebt, sondern eben Totalität evoziert. Die Ästhetik der Kumulationen, ihre innewohnende Serialität und die Erfassung von Totalität gehen miteinander einher, sodass sich tatsächlich das relativ realistische Bild eines 'moralisch integren Ritters' ergibt. Die Fiktionalitätsdebatte würde hiermit abgekürzt und der Roman als Ort der Sinnstiftung ästhetisch wie kulturhistorisch erklärbar, ohne dabei auf komplexere und komplizierende epistemologische Deutungsmuster rekurrieren zu müssen.

Interessant ist jedoch einer der Schlussgedanken, der mit dem Unterkapitel "Notwendige Anachronismen des Kulturtransfers" den Sinn von Adaptionen hinterfragt. Sieht man im Roman de Troie einen Prototyp für Adaptionen und deutet Benoîts Erzählen als didaktische Hinwendung zu einem Publikum, das die Antike über einen historisierenden Zugang nicht mehr verstanden hätte, so würde jegliche moderne Inszenierung in ihrem Charakter als Adaption auch zu einer Kapitulation vor dem Nichtwissen der Zuschauer; oder anders gewendet, müsste die Originaltreue immer dann den Vorzug erhalten, wenn der mündige Leser selbst als ausreichend vorgebildet die historische Realität zu rezipieren weiß. Diese Komplikation tritt also nicht nur dort auf, wo es im Fall der Antike die Überkreuzung von historischer, moralischer, typologischer und eschatologischer Lesart zu konstatieren gilt und die Betonung der Antike eine epistemische Schwerpunktverlagerung hin zur Konzentration auf das Diesseits transportiert. Oder, wie Malatrait schreibt, in dem Fall, wo von der transzendenten Macht abstrahiert werden kann und mit Troja ein Gedankenexperiment entsteht, das von der Tragfähigkeit höfischer Sinngebungsmuster handelt. Jegliche moderne Adaption würde dementsprechend dasselbe Muster fortschreiben und anstatt, wie behauptet, Interpretationen hinzuzufügen, Gehalt reduzieren.




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Bibliographie

Benoît de Saint-Maure (1987): Roman de Troie, hg. v. Emmanuèle Baumgartner. Paris: UGE.

Joly, Aristide (1870–71): Benoît de Saint-More et le Roman de Troie ou les métamorphoses d'Homère et de l'épopée greco-latine au Moyen Age. Paris: Franck.

Kellner, Beate (2004): Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München: Fink.

Schöning, Udo (1991): Thebenroman, Aeneasroman, Trojaroman. Studien zur Rezeption der Antike in der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts. Tübingen: De Gruyter.