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Ariane Lüthi (Basel)



Régine Battiston / Margit Unser (Hg.) (2012): Max Frisch. Sein Werk im Kontext der europäischen Literatur seiner Zeit. Würzburg: Königshausen & Neumann.



Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch (1911–1991) wurde durch die Romane Stiller und Homo Faber weltberühmt, aber auch mit seinen Dramen wie Andorra oder Biedermann und die Brandstifter war er äußerst erfolgreich. Frisch gilt als der meistgelesene Schriftsteller der Schweiz und in Deutschland verkaufen sich seine Bücher bekanntlich in Millionenauflage. Der vorliegende Band, welcher die Beiträge einer Tagung vom Mai 2011 in Mulhouse und Zürich enthält, versucht Frischs Werk in den Kontext der europäischen Literatur seiner Zeit zu stellen, was bisher offenbar kaum oder nur sehr selten geschah. Hundert Jahre nach Frischs Geburt und zwanzig Jahre nach seinem Tod wird diese Frage nun in vierzehn Beiträgen mit unterschiedlichen Perspektiven examiniert: Luigi Pirandello, T.S. Eliot, Thomas Mann, Ludwig Hohl, Paul Celan und Elfriede Jelinek werden z.B. herbeigezogen, wenn es um Zeitgenossenschaft geht. Frischs Werk sei "im Existentialismus verankert", von dem es sich jedoch distanziere, um sich "parallel zum Surrealismus und zum Nouveau Roman" zu entwickeln und im "strukturalistischen Zeitalter zu enden" (so der Buchrücken). Im Vorwort betonen die Herausgeberinnen die komparatistischen Grundzüge des Sammelbandes; und da solche Vergleiche bisher nur selten angestellt wurden, stellten die vorliegenden Studien einen "Meilenstein in der aktuellen Frisch-Forschung" (8) dar. Über die Aktualität von Frischs Werk und den gegenwärtigen Forschungsstand sind beide Spezialistinnen gut informiert: Margit Unser leitet seit 2008 das Max Frisch-Archiv an der ETH-Bibliothek in Zürich und hat mehrere Texte von Max Frisch herausgegeben (z.B. Unser 2011, Frisch 2014); Régine Battiston, Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Université de Haute-Alsace in Mulhouse, hat dem Schweizer Autor verschiedene Studien und Aufsätze gewidmet, in denen es unter anderem auch um Fragen der Identitätsproblematik und der Narratologie geht (z.B. Battiston 2009 und 2011).

Max Frisch, ein Klassiker der Moderne? Bald ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod scheint dieses Postulat plausibel. Einerseits bezeugen es die zahlreichen Publikationen, die den Schriftsteller und sein umfangreiches Werk behandeln, andererseits beweist auch der feste Platz im schulischen Literatur-Kanon Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, dass viele Texte von Frisch an Aktualität nichts eingebüßt haben.2 Auch die Tatsache, dass sein Werk in mehr als vierzig Sprachen übersetzt wurde, bezeugt die ungebrochene Rezeption.




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Die Perspektive dieses Sammelbandes, in dem Frischs Romane und Theaterstücke in den Kontext der Literatur des 20. Jahrhunderts gestellt wird, ist ein Versuch, sein Werk neu zu betrachten und von ungewohnten Standpunkten aus kritisch zu bedenken. Frischs Werk versetzt uns ins Zeitalter des blühenden Existentialismus, als deren Vordenker Kierkegaard und Heidegger gelten. Doch selbst wenn Frisch mit der Existenzphilosophie gewisse Ideen teilt, so distanziert er sich andererseits deutlich von ihr. Surrealismus, Nouveau Roman und Strukturalismus sind die Hauptbewegungen, die sein Werk parallel begleiten und deshalb in mehreren der versammelten Einzelstudien beigezogen werden. Als Hauptthemen zeichnen sich die "Ich-Suche", die Beziehung zum Weiblichen sowie das Leben als Paar ab. Nebst dem Schriftsteller Frisch geht es in diesem Band aber auch um den citoyen, der sich Zeit seines Lebens von der Weltpolitik angesprochen fühlte: politische Konflikte in der Schweiz und in Europa (Mai 1968, der Kalte Krieg, Terrorismus) oder die damaligen Konfliktherde weltweit (Koreakrieg, Vietnamkrieg) spiegeln sich in Frischs Werk wider. Man beobachtet einen engagierten Bürger, den das soziale, wirtschaftliche und politische Geschehen seiner Zeit nicht kalt lässt, der sich zum Handeln aufgerufen fühlt und andere zum Handeln aufrufen möchte. Weitere zentrale Themen in Frischs facettenreichem Werk sind aber auch die Zeitproblematik (Gegenwart und Augenblick) und, von den 1960er Jahren an, die Auseinandersetzung mit Altern, Tod und existenzieller Angst.

Dieser Band wird Max Frisch – einem Meister der Erzählung und der Perspektiven – insofern gerecht, als die Sichtweisen auch bei den Interpreten stark variieren. Beatrice von Matt zeigt beispielsweise auf, inwiefern Frisch als "Textarchitekt" von Luigi Pirandello beeinflusst wurde und auf welche Weise seine Erzählproblematik und die Perspektivensuche im Sinne des "Pirandellesken" funktionieren. Es gehe nicht darum, "Einflussforscherei" zu betreiben, wie Julian Schütt das Aufspüren älterer Autoren in Frischs Werk nennt (Schütt 2011: 101f.), sondern um die Faszination, welche auch Autoren wie Robert Musil oder Alain Robbe-Grillet verspürten: "Wenn andere Dichter des mittleren 20. Jahrhunderts 'kafkaesk' schreiben oder sich auf Faulkner, Hemingway, Thornton Wilder, Joyce berufen, so lässt Frisch eine Inspiration durch Pirandello erahnen." (15) Gemeint ist der Sinn für Spiel und Maskerade, aber auch die Selbstsetzung. Pirandello muss mit seinen Romanen Frischs innersten Nerv getroffen haben, weil dessen Kernthemen von Pirandello offenbar überzeugend dargestellt wurden. Beatrice von Matt betont zu Recht, dass der Schweizer möglicherweise mit einigen seiner Motive bewusst auf den Sizilianer zurückgriff. Ob er allerdings dessen Romane überhaupt gelesen hat, weiß man indessen nicht. (23)




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In ihrem Beitrag über Max Frisch und Ludwig Hohl vergleicht Barbara Lafond-Kettlitz die literarischen Alpenlandschaften und den Heimatbegriff anhand des Briefwechsels der beiden Autoren und der Erzählungen Antwort aus der Stille sowie Bergfahrt. Anhand von Zeugnissen aus dem Max-Frisch-Archiv in Zürich und dem Ludwig Hohl-Nachlass im Literaturarchiv Bern erfährt man mehr über die Beziehung zwischen den zwei Schriftstellern, die beide als passionierte Bergsteiger den Erlebnisraum Alpen in literarischen Berglandschaften festhielten.1 Max Frischs frühe Erzählung Antwort aus der Stille (1937) und Ludwig Hohls Bergfahrt (1975) werden hier als Raumromane und als Dekonstruktion der Heimat- und Alpendichtung ausgelotet. Beide Schweizer Kollegen teilen zwei der urtypischen Schweizer Themen, Alpenraum und Bergsteigen, beide Werke sind konstitutive Merkmale für den Imaginationsraum und die literarische Phantasie der Schweiz und vermitteln so ein differenziertes Verständnis vom Heimatbegriff bei zwei Autoren, die bei Leibe kein einfaches Verhältnis zueinander hatten.

Robert Cohen untersucht seinerseits den Briefwechsel zwischen Paul Celan und Max Frisch, welcher innerhalb von Frischs Korrespondenz einen besonderen Platz einnimmt. "Über Empfindlichkeiten" lautet der Titel des Artikels, in dem es anhand eines Textes auch um die spätere Position von Elfriede Jelinek geht. Frisch lebte zu dieser Zeit mit Ingeborg Bachmann zusammen (die zuvor die Geliebte von Celan war). Die Korrespondenz Frisch-Celan steht unter dem Zeichen von Missverständnis und Missdeutung. Celan, durch eine als antisemitisch empfundene Rezension von 1959 tief verletzt, wandte sich mit der Bitte um Beistand und Stellungnahme unter anderem auch an Frisch. Doch die Antwort, die er von ihm erhielt, enttäuschte ihn sehr. Robert Cohen unternimmt zuerst eine Deutung von Frischs zweifelnder und hilfloser Reaktion, die von verschiedenen Seiten heftig kritisiert worden ist, und er beleuchtet daran anschließend die spätere Position von Elfriede Jelinek. Cohen unternimmt den Versuch, die damalige Mentalität im Umfeld der Shoah begreiflich zu machen, um damit den tiefen Unterschied zwischen Celan und Frisch zu begründen.

Drei weitere Beiträge befassen sich mit Frisch als Theaterautor: Der Theaterregisseur Dirk Schulz beschreibt die Erfahrungen seiner Neuinszenierung von Graf Öderland am Stadttheater Giessen, während die beiden Theaterspezialisten Philippe Wellnitz und Éric Lysøe sich der vom Publikum geschätzten Komödie Don Juan oder die Liebe zur Geometrie widmen. Die Beiträge von Andreas Kilcher und Walter Schmitz behandeln den Roman Stiller, Yahia Elsaghe untersucht Homo faber als Bericht eines Krebskranken und Protokoll einer Krebskrankheit, Melanie Rohner beleuchtet die Parallelen zwischen T.S. Eliot und Frisch, Katrin Beding widmet ihren Beitrag der politischen Bewusstwerdung von Frisch und Thomas Mann, das Thema der DDR in Frischs Werk behandelt der Beitrag von Ruth Vogel-Klein, Régine Battiston untersucht das Thema Altern und Tod und der letzte Beitrag stammt von Peter-André Bloch, einem Zeitgenossen und guten Bekannten von Frisch, der über die Doppelrolle des Schriftstellers und Bürgers schreibt.




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Der vorliegende Band stellt die Zeitgenossenschaft ins Zentrum und in den meisten Studien finden explizite Vergleiche statt, doch wird jeweils nur marginal reflektiert, was unter "Zeitgenossenschaft" zu verstehen sei, denn der Begriff beinhaltet wohl mehr als bloße Gleichzeitigkeit: "Ein gegenseitiger Bezug zwischen den verschiedenen gleichzeitig erscheinenden Elementen, ein Zusammenhang, eine Verwandtschaft klingt in dem Wort immer schon mit. Doch wie ist diese Struktur der Verwandtschaft genau zu beschreiben?", gibt das Editorial der Zeitschrift Variations zum Thema "Zeitgenossenschaft" zu bedenken (Villiger 2011: 13). Zahlreiche Autoren haben sich zu dieser Frage geäußert: "War meine Zeit meine Zeit", fragt beispielsweise Hugo Lötscher in seinem letzten Buch, das wenige Tage nach seinem Tod erschienen ist und in dem er in seiner Erinnerung die Welt neu ordnet (Lötscher 2009). Mit Hilfe von verbreiteten geistesgeschichtlichen Konzepten wie "Zeitgeist" oder "Epoche" wird die Heterogenität des Gleichzeitigen "zu einem homogenen Raum einheitlichen Sinns" totalisiert. Gleichzeitig erinnert man sich allerdings an Reinhart Kosellecks Erbe, die "Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen" stärker zu berücksichtigen und "historische Synchronien in ihren Dissonanzen und unlösbaren Widersprüchen zu denken" (Villinger 2011: 13). Das Umschlagsbild des besprochenen Bandes wiederum illustriert das Kernthema treffend: Es zeigt Peter Weiss, Siegfried Unseld, Martin Walser und Uwe Johnson zusammen mit Max Frisch anlässlich seines 70. Geburtstags in Frankfurt. Man schreibt das Jahr 1981 – das Ende des Kalten Krieges und der Fall der Berliner Mauer sind noch ferne Zukunftsmusik, aber nichtsdestotrotz repräsentieren die vereinten gewichtigen deutschsprachigen Literaten exemplarisch die freundschaftlichen innerdeutschen Beziehungen, die ebenfalls zum angestrebten "Kontext der europäischen Literatur" gehören.


Bibliografie

Battiston, Régine (2009): Lectures de l'identité narrative. Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Marlen Haushofer, W.G. Sebald. Paris: Éditions Orizons.

Battiston, Régine (Hg.) (2011): Max Frisch philosophe? Germanica 48. Lille: Université Charles de Gaulle.

Battiston, Régine (Hg.) (2015): Max Frisch / Ludwig Hohl, in Europe (revue littéraire mensuelle) 1029-1030 (janvier-février).

Frisch, Max (2014): Aus dem Berliner Journal. Herausgegeben von Thomas Strässle unter Mitarbeit von Margit Unser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Lötscher, Hugo (2009): War meine Zeit meine Zeit. Zürich: Diogenes.

Nielaba, Daniel Müller et al. (Hg.) (2012): "Man will werden, nicht gewesen sein". Zur Aktualität Max Frischs. Zürich: Chronos Verlag.

Schütt, Julian (2011): Max Frisch. Biografie eines Aufstiegs. Berlin: Suhrkamp.




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Unser, Margit (2011): Vier Lesebücher (Max Frisch: Leben ja / Weiss ich es denn selbst, wer ich bin? / Sind Sie sich selber ein Freund? / Man will geliebt werden). Berlin: Suhrkamp.

Villiger, Christian (2011): "Jahrgänge. Versuche über historische Gleichzeitigkeit", in Zeitgenossenschaft / Le Contemporain / Contemporaneity. Variations (Literaturzeitschrift der Universität Zürich) 19, 13–17.

Wieland, Magnus (2015): "Journal avec notes en marge. Ludwig Hohl lecteur de Max Frisch", in Europe (revue littéraire mensuelle) 1029–1030 (janvier-février): Max Frisch / Ludwig Hohl, 255–269.


Anmerkungen

1 Zu Ludwig Hohl als Leser von Max Frisch siehe Wieland (2015: 255–269).

2 Siehe auch Nielaba (2012) und die jüngst erschienene Nummer der Französischen Revue Europe, die Max Frisch Anfang 2015 eine Nummer gewidmet hat, herausgegeben von Régine Battiston (2015).