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Markus Oliver Spitz (Luxembourg)



Andrea Bartl und Martin Kraus (Hg.) unter Mitarbeit von Kathrin Wimmer (2014): Skandalautoren. Zu repräsentativen Mustern literarischer Provokation und Aufsehen erregender Autorinszenierung. 2 Bände. Würzburg: Königshausen & Neumann.


Diese ambitionierte Publikation stellt den bis dato umfassendsten Ansatz zur Erfassung der Mechanismen des literarischen oder Kunstskandals dar, dessen Charakteristik sich im Grundsatz vermittels dreier Dichotomien beschreiben lässt: zufällig – geplant, öffentlich – geheim sowie schließlich autonom, das heißt innerhalb des künstlerischen Feldes auftretend, versus heteronom, auf einen "Konflikt zwischen dem Literatursystem und seiner Umwelt" verweisend (Hans-Edwin Friedrich, hier zitiert nach Steffen Groscurth, Bd. II, S. 30).

Als skandalträchtig erweisen sich zunächst literarisch lancierte Indiskretionen, welche bis hin zur Instrumentalisierung des Skandals als Munition bei Autorenfehden reichen können. Hinsichtlich des impliziten Tabubruchs und der Verletzung ästhetischer, ethisch-moralischer sowie religiöser Normen kann man darüber hinaus von Strategien sprechen, derer sich AutorInnen bedienen, um einen Skandal zum Zweck der Aufmerksamkeitserheischung zu instrumentalisieren oder sogar zu fingieren (vgl. Tobias Gunst, II, 297ff). Dabei kann die medial vermittelte (Selbst-)Inszenierung im Extremfall dazu führen, dass Autorschaft erfunden wird, um gängige Rezeptionsmechanismen zu hintertreiben (vgl. Wolfgang Straub, II, 147ff).

Ins Auge fällt zunächst die internationale Ausrichtung der beiden Bände: Ein Beitrag zur Fasson, in welcher deutsche Kritiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts das öffentliche Bild eines skandalisierten Oscar Wilde formten, ist auf Englisch verfasst (Yvonne Ivory), und das Spektrum der Künstler reicht von Balzac, Pierre Guyotat, Michel Houellebecq, Pierre Louÿs und Georges Bataille bis zu Hunter Thompson, Charles Bukowski und Bret Easton Ellis. Für das französische Feld der kulturellen Produktion erscheint dabei Teresa Hiergeist besonders erwähnenswert, welche anhand von Gustave Flauberts Madame Bovary ausführt, wie dem Autor vor Gericht die Gleichgültigkeit seiner Erzählerfigur hinsichtlich moralischer Normen zur Last gelegt wurde. Mit Stanley Tambiah deutet Hiergeist den modernen Literaturskandal in der Folge als "Ritual" im Sinne "symbolische[r] Kommunikation" (I, 248f). Mehr noch als der Autor sei es dabei der Journalist oder Kritiker, welcher die Position des von tradierten Normen unabhängigen Interpreten einnehme und somit seine eigene Position im Feld aufwerte.




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Sinnvollerweise setzt die Publikation jedoch mit grundlegenden theoretischen Betrachtungen ein. Martin Kraus beispielsweise unternimmt es, den aktuellen Forschungsstand zu referieren. Er tut dies insbesondere mit Bezugnahme auf Rolf Ebbinghausen und Sighard Neckel, Anatomie des politischen Skandals (1989), Stefan Neuhaus und Johann Holzner, Literatur als Skandal (2007), sowie auf die Literaturskandale, wie sie der bereits erwähnte Hans-Edwin Friedrich 2009 thematisiert hat. Dabei wird deutlich, dass der Skandal – so Heiko Breit – in der Kunst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einer "Dauerkonstante" (I, 22) geworden ist. Mit Michael Holldorf kann der Skandal insofern als "Katalysator" gesellschaftlicher Prozesse (I, 14) verstanden werden, als er es bei aller Gebundenheit an die jeweilige Epoche und den kulturellen Kontext vermag, auf den Konstruktionscharakter und somit die Veränderbarkeit und den Wandel sozialer Normen hinzuweisen. Hinsichtlich der Rezeption, so Kraus, gerät Skandalliteratur "in das Zentrum von Konflikten, bei denen es eigentlich um etwa politische, soziale oder religiöse Fragen geht" (I, 18) – man denke an juristisch geführte Auseinandersetzungen im Fall so genannter "Schlüsselromane." Aus ästhetischer Sicht nimmt der Skandal daher eine Zwischenposition ein: Einerseits stellt er laut Volker Ladenthin "etwas Unreifes" dar (zitiert nach Wolfgang Straub, II, 159), welches von Seiten der Ästheten als bloße Inszenierung abgewertet wird, andererseits ist er willkommen, da er ein wichtiges Indiz für die Vitalität der Kunst repräsentiert (ähnlich sieht dies Regina Roßbach, I, 167).

Im weiteren Verlauf wird Kraus diese Erkenntnisse auf die Auseinandersetzungen zwischen Karl Immermann und Heinrich Heine einerseits sowie Graf Platen und Ludwig Börne andererseits übertragen. Immermanns Östliche Poeten, von Heine in seine Reisebilder aufgenommen, dienten Platen als Auslöser für einen indirekt auf Heine abzielenden Angriff hinsichtlich dessen jüdischer Konfession. Mit seiner Replik brach Heine sodann ein gesellschaftliches Tabu, indem er auf Platens Homosexualität anspielte. Die in Die Bäder von Lucca vorgenommene Invektive, eine "Skandalisierung als offensiver Vorgang" (I, 221), schlug jedoch negativ auf Heine zurück, ebenso wie der "fortgesetzte ästhetische Positionsstreit" (I, 228) mit Börne.

Martina Wagner-Egelhaaf führt überzeugend aus, dass der Skandal stets an einen "Akteur" gebunden ist (I, 28). Seit Michel Foucault von ihrer quasi religiösen Stellung als auctores befreit, verstehen sich Gegenwartsautoren ihrer Meinung nach zunehmend als "Reflexionsfigur[en]" (I, 29). Weiterhin entfaltet Wagner-Egelhaaf (auch im etymologischen Rekurs) den norm- und tabubrechenden Charakter des Skandals, welcher an etwas rühre, an das "normalerweise nicht gerührt werden soll" (I, 38; ähnlich: Matthias Aumüller, Angela Bandeili, Tobias Gunst und Veronika Schuchter); sie bejaht somit den kohäsionsstiftenden Charakter und die nach wie vor gegebene Signifikanz sozialer Normen.

André Hallers Betrag zielt auf die beabsichtigte Selbstskandalisierung seitens der Autoren zum Zweck der Erringung von öffentlicher Aufmerksamkeit ab. Er sieht in diesem von traditionellen Skandalen grundsätzlich zu unterscheidenden Skandaltyp mit seiner beabsichtigten "Übertretung rechtlicher Normen" (I, 52) geradezu einen "Paradigmenwechsel" (I, 65). Haller verweist zwar auf Skandalisierer, Skandalisierte und das Skandalpublikum, wie sie bereits Sighard Neckel in seiner "Skandal-Triade" zum Zweck der Beschreibung traditioneller Skandale benannt hatte. Beim intendierten Skandal deutet er demgegenüber die Auseinandersetzung um die knappen Güter "awereness" (sic) und "attention" (I, 58f) vor dem Hintergrund einer symbolischen Tauschbeziehung: AutorInnen erhalten Aufmerksamkeit, das Publikum Unterhaltung. Bei diesem symbolischen Tausch, für welchen man Charlotte Roche als paradigmatisch ansehen kann, löse sich die Skandaltriade auf.




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Johannes Franzen erkennt in Anlehnung an Ronald Hitzler (und im Unterschied zu Wagner-Egelhaaf) keine "einhellig akzeptierten Normstandards" mehr (zitiert nach I, 71) und sieht Kunstskandale als "Gelegenheit zur diskursiven Selbstpositionierung" (I, 72). Die Unterschiede zwischen dem Polit- und dem Literaturskandal lassen Franzen zu der Schlussfolgerung gelangen, das "Etikett [des Skandalautoren bedürfe] der Legitimation" (I, 75). Schlüsselromane wie beispielsweise Martin Walsers Tod eines Kritikers, Martina Zöllners Bleibtreu und Klaus Manns Mephisto (zu letzterem vgl. im Detail Birgit Schuhbeck: I, 491ff) würden primär aufgrund individueller Rezeption als solche eingestuft, wobei aus Autorensicht die Gefahr von "Fehllektüren" (I, 77) im Sinne "referenzialisierende[r] Lesart[en]" (I, 86) nicht grundsätzlich auszuschließen sei. Ein gutes Beispiel hierfür wäre Thomas Bernhard, welcher sich bei den durch Holzfällen und Heldenplatz hervorgerufenen Skandalen auf den "Absolutheitsanspruch an die Kunst" (Barbara Mariacher, II, 170ff) sowie das "Spiel mit Realität und Fiktion" (II, 180ff) berief.

Diese Annäherungen an den Begriff des "Skandals" beziehungsweise "Skandalautoren" sowie die eng damit verknüpfte Ästhetik des Skandals sind außerordentlich hilfreich bei der Rezeption der folgenden Beiträge. Die Herausgeber verfahren chronologisch, wenn sie – einsetzend mit Florian Schmids Betrachtungen zur angeblichen "Dichterfehde" zwischen Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach, Matthias Roicks Ausführungen über Antonio Beccadelli und Lorenzo Valla als Skandalautoren des Humanismus und Regina Hartmanns Analyse von Autorinszenierungen in der Aufklärung – schrittweise den Bogen zur medialisierten, das heißt von medial vermittelten "Paratexten" (Maria Brosig, II, 233ff) maßgeblich mitbestimmten, Skandalgegenwart schlagen.

Möchte man auf weitere Arbeiten eingehen, so vielleicht auf diejenigen, welche sich mit für den deutschsprachigen Raum relevanten (Literatur-)Skandalen befassen, deren Nachwehen nach wie vor im literarischen Diskurs präsent sind:

Stefan Neuhaus, als Experte im Bereich Skandalliteratur ausgewiesen, zeigt beispielsweise anschaulich, wie es Wilhelm Hauff vermittels seiner Parodie des klischeebefrachteten Stils Carl Heuns gelang, dessen Status als im Feld kanonisierter Autor dauerhaft zu unterminieren, allerdings um den Preis, dass seine eigene literarische Produktion gleichfalls als trivial eingestuft wurde.

Gleich zwei Autorinnen, Ulrike Wels und Claudia Lieb, setzen sich mit Oskar Panizza auseinander. Während Wels auf das philosophische Werk Der Illusionismus und Die Rettung der Persönlichkeit als Grundlage für den absoluten Individualismus des Skandalautors abhebt, stellt Lieb heraus, wie Das Liebeskonzil durch Werner Schroeters Verfilmung und das darauffolgende Verbot seitens der österreichischen Regierung, bestätigt durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, re-skandalisiert wurde.

Wie zwei Klassiker als Skandalautoren gedeutet werden können, illustrieren Peter Sprengel und Hans-Joachim Schott anhand ihrer Arbeiten über Hauptmann beziehungsweise Brecht. Sprengels Auffassung nach war sich Hauptmann sehr wohl darüber im Klaren, dass sein soziales Drama Die Weber "als agitatorischer Beitrag zur aktuellen 'sozialen Frage'" (I, 309) aufgefasst werden würde. Für die Obrigkeit bis hinauf zum Kaiser bestand der Skandal in der Folge darin, dass das Publikum das Stück nicht verdammte, sondern vielmehr einhellig begrüßte. Schott benennt als Basis der Skandalträchtigkeit insbesondere des jungen Brecht dessen literarischen Kynismus, welchen er auf die Nietzsche-Rezeption zurückführt. Schott argumentiert, Brechts anfangs als Gegenposition zur bürgerlichen Kultur eingenommene kynische Haltung sei zum Postulat der Unterordnung des Einzelnen unter die Parteilinie mutiert, wie sich insbesondere anhand der Maßnahme zeigen lasse.




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Christian Baier weist schlüssig nach, wie es Martin Walser mit seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche gelang, als Skandalisierer einen skandalträchtigen Inhalt zu präsentieren und sich durch die Verwendung einer rein subjektiven Perspektive, mehrdeutiger Formulierungen sowie rhetorischer Fragen gleichzeitig "vor den Konsequenzen dieses Tabubruchs zu schützen" (II, 277). Walsers semantische Substitution des Lexems "Schuld" durch "Schande" referierte auf geschickte Weise einerseits die juristisch korrekte Sicht, dass kein Gegenwartsdeutscher eine persönliche Schuld am Holocaust trage. Andererseits werde die laut Walser auf das Kollektiv der Deutschen durchaus applizierbare Schande als "Drohroutine (...), jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule" (zitiert nach II, 254) dazu instrumentalisiert, die Deutschen zu verletzen. Problematisch bleibt an Walsers Rede allerdings, dass Schande anders als Schuld eine "Tatfolge [ist], die einem von anderen zugefügt werden kann" (Ludger Jansen, zitiert nach II, 268).

Bei Elfriede Jelinek ist der Skandal geradezu Programm; Björn Hayer zufolge resultiert er zuvorderst aus dem konsequenten Verweben eigentlich distinktiver semantischer Felder (Sexualität und Mechanik, Politik und Unternehmertum).

Im Hinblick auf Charlotte Roches Feuchtgebiete und Schoßgebete besteht Konsens zwischen Christer Petersen, Tanja Prokić, Ulrike Kellner und den anderen, diese Romane direkt oder indirekt anschneidenden Interpreten (Martina Wagner-Egelhaaf, Stefan Neuhaus, Teresa Hiergeist, Veronika Schuchter) in der Hinsicht, dass es sich nicht um Skandaltexte handele. Demgegenüber sieht Kellner im Fall der Feuchtgebiete ein "Spiel mit den Konstanten 'Autor'- und 'Romanfigur'" sowie die "Übersteigerung der Realität" gegeben (II, 424, 422). Prokić spricht vergleichbar von "grotesk[en] [Ü]berzeichn[ungen]" (II, 402). Interpretationsansätze, welche den Fiktionalitätsgrad des Textes zugunsten einer Deutung im Sinne von Serge Doubrovskys problematischer "Autofiktion" – also der Vermischung von Autobiographie und Fiktion – reduzieren, begünstigen das durch den Plauderton bereits suggerierte (und auch von Roche selbst ebenso leichtfertig wie medienwirksam beglaubigte) Ineinssetzen der Autorin mit ihren Protagonistinnen. Dies war wiederum dafür verantwortlich, dass die Textanalyse in den Hintergrund, das mehr oder minder voyeuristische Interesse an der Autorin hingegen in den Vordergrund rückte. Dabei lassen sich die Feuchtgebiete mit Fug und Recht auch als Subtext einer fiktionalisierten psychologischen Krankheitsgeschichte lesen – eine Deutung, welche bereits 2011 von Claudia Liebrand lanciert wurde; auch Petersen und Prokić sprechen unisono von einem "Trauma" der Protagonistin (II, 370, 404).

Die annähernd fünfzig Aufsätze analysieren in der Summe das Spektrum skandalträchtiger Kunst- und Literaturproduktion vom Mittelalter bis zur Gegenwart und decken europäische wie außereuropäische Phänomene ab. Mitunter wirkt dabei der Transfer der Erkenntnisse aus der Analyse individueller akademischer Steckenpferde auf die Thematik ein wenig gekünstelt. Der wissenschaftliche Standard ist jedoch generell hoch, in der absoluten Minderzahl befinden sich diejenigen Arbeiten, welchen ein essayistischer Duktus zugrunde liegt. Die Bände weisen darüber hinaus weitreichendes Anknüpfungspotenzial mit angrenzenden Disziplinen wie beispielsweise der Theaterwissenschaft oder der Literatursoziologie auf. Von daher erscheint die Veröffentlichung im Rahmen der Würzburger Reihe "Konnex. Studien im Schnittbereich von Literatur, Kultur und Natur" gerechtfertigt.

Zwar hätte man sich noch einen Personenindex und eine Sammelbibliografie gewünscht, welche die Publikation abgerundet hätten; die (wenn auch sehr zahlreichen) Fußnoten erfüllen die Aufgabe der Verortung nur bedingt. Auch liegt es in der komplexen Natur des Gegenstandsbereiches, dass einige Autoren ausgeklammert werden mussten, man denke beispielsweise an Alan Sokal, Werner Schwab oder auch Sarah Kane. Dennoch liefern beide Bände zweifellos wertvolle Erkenntnisse hinsichtlich der Analyse des Geflechts von "Verfehlung, Enthüllung, Empörung" (Matthias Aumüller, II, 10), welches dem Skandal generell eigen ist.