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Gesine Müller (Köln)



Vittoria Borsò / Yasmin Temelli / Karolin Viseneber (Hg.) (2012): México: migraciones culturales – topografías transatlánticas. Acercamiento a las culturas desde el movimiento. Frankfurt a.M.: Vervuert.



Die Ausgangsidee des Bandes besteht darin, Migration(en) jenseits der soziologischen Perspektive als "Paradigmen einer kulturellen Produktivität" zu betrachten und (Ohn-)Machtspotentiale von Migranten fruchtbar zu beleuchten. Es geht um die Vielfalt von Migrationsprozessen in globalisierter Zeit (Sprachen, Texte, Bilder, Technologie, Körper) und damit darum, die dualistischen Konzeptionen von Herkunft und Fremde zu überwinden, was eine Entstehung von sog. "Zwischen-Orten" (15) begünstigt. Direkt in der Einleitung der drei Herausgeberinnen wird darauf verwiesen, dass diese Prozesse – insbesondere in Mexiko – bis in die Kolonialzeit zurückgehen. Kulturgeschichtliche Verweise auf Konzepte von Paz, García Canclini, Monsiváis sind die Basis (16). Literatur gilt als privilegierter Raum zur Reflexion von Migrationserfahrung bzw. Hinterfragung hegemonialer Macht- und Identitätskonzeptionen. Das Ziel des Bandes kann sich unter Berufung auf folgenden Satz zusammenfassen lassen: "aborda el potencial de las migraciones culturales en el área transatlántica que relaciona a México con Europa para contribuir, con visiones polimorfas, al análisis del potencial de las culturas vistas desde el punto de vista del movimiento" (17).

Die erste Sektion mit dem Titel: "La escritura como espacio migratorio" beginnt mit dem Beitrag von Margo Glantz: "Migraciones personales interoceánicas: Viaje a la India". Dabei handelt es sich originellerweise um einen fiktionalen Text bzw. eine Reisechronik, welche im Sinne einer programmatischen Eröffnung des Bandes das Motiv der eigentlichen Reise Colóns nach Indien aufnimmt und mit Elementen eines Eroberungsdenkens und mit Grenzziehungen, aber auch mit dem Genre der Chronik spielt und die lateinamerikanische bzw. mexikanische Geschichte aus der Perspektive eines nomadischen (und weiblichen) Subjekts betrachtet und spiegelt.





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Es folgt der Artikel der Mitherausgeberin, Vittoria Borsò, selbst. In "Cultura en movimiento. Rutas e itinerarios para pensar las culturas" geht sie davon aus, daß das Bewegungsparadigma ein zentraler Fokus der Kultur- und Sozialwissenschaften unter Bezugnahme auf A. Appadurais Landschaftsbegriff ist (47). Grenzgebiete liest Borsò als Orte der "deterritorialización" und der Gewalt, der Kulturkontakte und der Diskriminierung, z.B. in Form von Biopolitik gegenüber lateinamerikanischen Immigranten in den USA. Es geht um Kämpfe, um den "topos", den natürlichen Ort (auch in Europa, vgl. Mittelmeer), damit bezieht sie sich auf Foucaults Konzept der Heterotopie. Ihr Ziel ist eine Analyse solcher spatialer Konfigurationen, nicht nur im Kontext der aktuellen Globalisierung, sondern auch mit Blick auf historische Prozesse und die Kultur selbst als Ergebnis eines Konfliktes zwischen "lugar natural" und Bewegung, "cultura sedentaria y cultura nómada". Bewegung ist laut Borsò – in Anlehnung an Deleuze und Flusser – als Schlüsselfigur zur Reformulierung von "conceptos de espacio y de cultura" zu lesen (49). Die Argumentation verläuft anhand zweier entgegengesetzter Konzepte: der Ort als Basis von spatialen Strukturen und die Bewegung als Prinzipien der kulturellen Dynamik werden zusammengedacht, um Bewegungsfiguren zu denken (49). In der Antike galt der Ort als Existenz des Körpers, der zugleich unendlich und souverän ist. Er trete, so die innovative Beobachtung von Borsò, nun in Verbindung mit der Entwicklung von Identitätskonzepten, die auf Nicht-Bewegung basieren und in Zeiten globalisierter Bewegung aufeinander prallen; seit der Moderne werde er auch als ideeller Ort gedacht mit dem Effekt, dass der Ort nicht mehr von einer einzigen Instanz her gedacht werden könne und notwendigerweise verhandelt werden müsse. Ein Verweis auf Lefebvre dient Borsò dazu, Karten neben sozialen Praktiken und Symbolen nur als eine Art der Raumordnung anzusehen. Der Raum sei damit nicht als Gegebenes, sondern als etwas, "que se ejerce" (vgl. Foucault), als eine Aushandlung zwischen Subjekten (52) zu betrachten, der eine Entstehung von "politicas del espacio" fördere und zugleich eine Bedrohung dieser traditionellen Politiken und westlichen Epistemologien durch die Einführung der Bewegung ermögliche. Das Denken des Ortes wird selbst zur performativen Kategorie, die jeweils von den Subjekten in bestimmten Situationen kreiert werde. Damit laufe ein solches Denken den westlichen Vorstellungen eines fixen Ortes zuwider. Borsò äußert ihre Kritik am Identitätsdenken von der Antike an besonders durch ihre Kritik an der Vorstellung eines Orts-Konzeptes zu Ungunsten dem einer Bewegung. Der Atlantik ist für sie eine Kontaktzone, an der sich Prozesse der Fixierung von Orten/Grenzen und ihrer Durchbrechung beobachten lassen (58).

Juan Bruce-Novoa zeigt in "La Ruptura como espacio migratorio", inwiefern Mexiko historisch gesehen als Produkt des Zusammentreffens europäischer und indigener Kulturen fungiert. Er analysiert drei Maler (Arnaldo Coen, Manuel Felguérez und Vicente Rojo), die sich alle mit der Ruptura als "espacio migratorio" beschäftigen. Kennzeichen des Bruches sei die Aufhebung der Grenzen zwischen den Künsten. Die Merkmale der Künstler der Ruptura seien eine Identitätskritik, offene Werke und Kunst als intertextuelles Netzwerk (80). Die Maler betonen die migratorische Eigenschaft von Identität, die immer auch einen migratorischen Betrachter Kunst mitdenkt (81).



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Die zweite Sektion wird von Sara Poot-Herrera eingeleitet und hat den Titel "Migraciones culturales y cultura novohispana". Poot-Herrera beschäftigt sich mit "Sor Juana: de la migración cultural a la migraña personal y al milagro de su trascendencia". Der Beitrag dreht sich vor allem um die Publikation der Carta Athenagórica von Sor Juana (1690 in Neuspanien, 1691 in Spanien) und um ihre kontroverse Rezeption, welche Sor Juana in eine Phase der von ihr selbst als "migraña personal" bezeichneten Schreibkrise führte. Poot-Herrera weist gleichzeitig auf die Rezeption von Sor Juana in Portugal als "migración poética" hin. Im Anschluß daran beschäftigt sie sich mit der weiteren Rezeptionsgeschichte Sor Juanas im Mexiko des 20. und. 21. Jahrhunderts in Literatur und Philosophie (z.B. bei Rosario Castellanos, Margo Glantz oder Angeles Mastretta), aber auch in der Ikonographie. Auch wenn der Beitrag das Konzept "migración" terminologisch nicht konkret faßt, werden indirekt neue Spielarten von Bewegung angedacht.

María José Rodilla León zeigt in "Pluma o pincel. La Ciudad de México como metáfora y emblema", inwiefern Mexiko-Stadt als Gegenstand vielfältiger poetischer Lobpreisungen und künstlerischer Verewigungen fungiere: "La ciudad se poetiza, se metaforiza y se vuelve un objeto artístico a la vez que convoca certámenes poéticos en los que ella misma es celebrada por las plumas cirollas que exaltan sus grandezas o exhiben sus miserias" (113). Es folgt eine sehr präzise Analyse verschiedener Texte bzw. "decorados" an Gebäuden. Auch wenn hier eine Aneinanderreihung von Beispielen stattfindet: Angesichts des anschaulichen Charakters erfolgt hier implizit eine Auseinandersetzung mit der zentralen Fragestellung des Bandes.

Blanca López de Mariscal beschreibt in "El encuentro de la cruz y la serpiente. Un acercamiento al proceso de evangelización en la Nueva España", inwiefern ab 1521 mit der endgültigen Eroberung von Mexiko-Stadt der Beginn der Christianisierung stattfindet. Sie beschreibt sehr präzise den "choque cultural" der indigenen, polytheistisch geprägten Bevölkerung beim Kontakt mit dem Monotheismus des Christentums (129) anhand der Schriften von Bernardino de Sahagún und indigener Lyrik. Die Evangelisierung als ein fundamental sprachliches Problem wird aufgrund der rund 2000 verschiedenen indigenen Sprachen auf dem eroberten Territorium neu beleuchtet, wobei interessanterweise náhuatl als lingua franca fungierte. Der Beitrag unternimmt damit eine vergleichende Analyse bestimmter Konzepte wie Gott, Teufel oder Tod in christlicher und indigener Religion (vgl. 134–136) und Probleme der Übersetzung, z.B. im Falle der Schlange, die als Symbol des Quetzalcoatl für Leben und Schutz des Menschen, im Christentum aber bekanntermaßen für den Teufel steht. Bewegungskonzepte werden damit auf sehr originelle Weise im Rahmen einer vergleichenden Analyse von religiösen bzw. weltanschaulichen Übersetzungsprozessen reflektiert.



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Anne Huffschmid unternimmt in "Ciudad, memoria y represión. Marcas y movidas del 'trauma' en la Ciudad de México" eine Analyse von Ciudad de México als Resonanzraum der Erinnerung im Vergleich mit der Erfahrung von Trauma und Memoria in Argentinien. Ihre Auffassung des Traumas als fehlende Vernarbung einer sozialen Wunde ermöglicht das Denken der Straflosigkeit und der Materialität der Gewalterfahrung (144). Der Beitrag vermittelt überzeugend, inwiefern Memoria als soziale Konstruktion dient. Sehr innovativ wird eine vergleichende Analyse von Memoria im urbanen Raum von Mexiko und Buenos Aires durchgeführt. Eine unterschiedliche Behandlung von Memoria und Aufarbeitung drückt sich auch im Stadtbild hinsichtlich der Besetzung bestimmter Orte aus: Plaza de Mayo als das Zentrum der Erinnerung vs. Tlatelolco als peripherer Ort des fortgesetzten Traumas: von der Niederlage Cuauhtémocs über das Massaker von 1968 bis zum Erdbeben von 1985. Beide Orte haben eine Wirkung als unvollständige Texte "que requieren el relato y la escucha de quienes las usan y significan" und es seien "en primer lugar las prácticas que modelan y configuran las topografías urbanas de la memoria" (148). Das zweite Beispiel, die Madres de la Plaza de Mayo, eröffnet ein symbolisches Feld durch körperliche Präsenz und Bewegung; damit ermöglicht Huffschmid einen Vergleich mit den Doñas mexicanas, die zur gleichen Zeit entstehen, aber wesentlich weniger Sichtbarkeit hatten (150). Der überaus aufschlußreiche Beitrag ermöglicht eine Auseinandersetzung mit dem Bewegungsparadigma in den Memoria-Debatten im transnationalen Vergleich, dies sowohl auf symbolischer als auch auf materieller Ebene.

Linda Egan beschäftigt sich in "Articulaciones aforísticas: Oscar Wilde y Carlos Monsiváis" mit der Rezeption Wildes in Mexiko (160–162). Sie analysiert strukturelle Gemeinsamkeiten im Denken beider Autoren, insbesondere in der Frontstellung beider gegen autoritäre Systeme: Wilde im England des späten 19. Jahrhunderts, Monsiváis im autoritären Mexiko des 20. Jahrhunderts (165), sowie utopische Gegenentwürfe (167–170). Es handelt sich um eine sehr anregende vergleichende, in diesem Sinne auch transatlantische Studie zu den Parallelen im (aphoristisch-kritischen) Denken zweier herausragender Autoren in der Auseinandersetzung mit den durchaus ähnlichen Problemen ihrer jeweiligen historischen Epochen.

Joachim Michael beleuchtet in "Historia y destino en Carlos Monsiváis y Walter Benjamin" das Geschichtskonzept Monsiváis': Geschichte ohne Fortschritt (178). Er zeigt sehr überzeugend eine Parallele zu Benjamins Figur des Engels der Geschichte. Zudem weist Michael auch Parallelen in der Zeitkonzeption bei Monsiváis' Idee einer fragmentierten Zeit (179) auf. Es handelt sich um eine richtungslose Zeit, welche wiederum an die Idee einer zirkulären Zeit gemahnt, die bei Monsiváis in direkter Verbindung zur aztekischen Zeitvorstellung von einer zirkulären Zeit und wiederkehrenden Katastrophen steht (Tlatelolco als Ort der Wiederkehr der Gewalt). Ein Fokus liegt auf den Differenzen in den Möglichkeiten der Erlösung, d.h. Benjamins Messianismus vs. die Unmöglichkeit bei Monsiváis, eine alternative Geschichte zu denken, welche die Zerstörung der Welt akzeptiert oder erfordert (vgl. 189). Es kommt zu generellen Zweifeln bei Monsiváis am Konzept des "Schicksals", konkret der Chronik als Genre, welches versucht, die Geschichte aus einem deterministischen Verständnis heraus zu lesen und als "re-escrituras de la realidad en su calidad de discursos" (190) zu interpretieren. Geschichte werde bei Monsiváis stattdessen als eine Geschichte der "migraciones culturales" gedacht: "los cambios son inevitables y ocurren en parte de forma 'inesperada', involuntaria, casi en forma de efectos colaterales de la modernización" (191). Insgesamt handelt es sich um eine sehr anregende Studie, welche wieder in dieser transatlantischen Perspektive (obgleich das so nicht explizit formuliert wird), ebenso wie der vorangehende Artikel, aus dem Vergleich Potentiale fruchtbar zu machen versteht.



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Beatriz Mariscal Hay unternimmt in "Identidad cultural y frontera" einen Rückblick auf verschiedene Etappen und Versuche der Definition einer kulturellen mexikanischen Identität (193ff.). Es geht um die Erschütterung der Möglichkeit von Identitätskonstruktionen im plurikulturellen und durch intra- und transnationale Migrationsprozesse geprägten Mexiko der Gegenwart. Die Analyse fokussiert sich auch auf die Tradition der Volkskultur und die oralen Traditionen indigener, transgenerational weitergegebener Mythen (196). Der Ausbau der Grenzbefestigungen und Kontrollen in den USA verschärfen einerseits den Migrationsdruck für die in Mexiko verbliebenen Angehörigen und mindern andererseits die Möglichkeit temporärer Rückkehr der bereits in den USA weilenden (meist männlichen) Familienmitglieder (199).

Erna Pfeiffer unternimmt in "Migraciones parentales e infancias mexicanas desde perspectivas femeninas: Margo Glantz y Bárbara Jacobs" einen Vergleich der vielfältigen trans- und interatlantischen Topographien in Margo Glantz' den Las genealogías und Bárbara Jacobs' Las hojas muertas. Es handelt sich um Texte, in denen Figuren im Zustand permanenter Migration zwischen Territorien reisen. Zudem sind es Texte, welche auch Gattungszuordnungen im Zustand permanenter Bewegungen zu unterlaufen suchen. Die Autorinnen kommen ihrerseits aus arabischen bzw. jüdischen transkulturellen Kontexten: "los textos de Glantz y de Jacobs son, a la vez, identitarios y anti-identitarios, muestras de una pluralidad vagante entre religiones, etnias, géneros, nacionalidades y lenguas" (217).

Norma Klahn beginnt in "Genealogías transterradas. Los nuevos territorios de la literatura y la nación: los casos de Glantz y Jacobs en México" mit einem glänzend resümierten Einstieg über den Paradigmenwechsel mit Blick auf das Denken eines nationalen Projekts nach Tlatelolco: Es kommt zum Ende des nationalen Projekts eines mestizisch, männlich und modern gedachten Landes und zur Öffnung des Diskurses auf Minderheiten. Literatur gilt als Experimentierfeld dieser Öffnung (vgl. 226f.). Formuliert wird dabei eine Kritik an jeglicher Form von Geschichtsschreibung als objektiver Realität, proklamiert wird eine Dekonstruktion essentialistisch gedachter Identitäten. Das Genre der "autobiografía ficticia" sei das Resultat, das zugleich die Nation in die postmodernen Paradigmen der Gattung einschreibt. Die hochinnovativen und präzisen Ausführungen denken von Anfang an die Entstehungsbedingungen dieses migratorischen Denkens mit.

Jacobo Sefamí widmet sich in "El ritual de las pérdidas: Migraciones de Gloria Gervitz", der jüdischen Tradition der Dichtung von Gloria Gervitz (Mexiko 1943), die das Moment der Bewegung und "errancia" aufnimmt. Die Analysen der Inszenierungen von Migration und Erinnerung im Werk Gervitz' vermitteln neue Inszenierungen des Bewegungsparadigmas.



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Die letzte Sektion des Bandes trägt den Titel "Hacia una epistemología transatlántica" und wird von Claudia Parodi mit "Migraciones culturales y semántica cultural en la Nueva España" eingeleitet. Sie beginnt mit einer Kritik an der Tendenz in den Colonial Studies, die Kolonisierung Amerikas mit späteren Kolonialisierungen in Afrika oder Asien gleichzusetzen. Ihr geht es um eine Untersuchung der kulturellen Semantik als alternatives Modell zu den Postcolonial Studies, um die Besonderheiten der spanischen Expansion in Amerika zu erklären (261). Sie entwickelt ein auf Chomsky basierendes Modell, welches die linguistischen Modifikationen (vor allem semantischer und soziolinguistischer Art) zu untersuchen sucht, welche erwachsene Sprecher beim Kontakt mit anderen Kulturen erfahren. Damit ermöglicht Parodi einen neuen Blick auf das Phänomen der "re-recreación socio cultural" (262), die beim Kulturkontakt auf Zeichen- bzw. Kulturebene stattfindet. Es handelt sich um eine überzeugende Analyse soziokultureller und sprachlicher Austauschprozesse im Rahmen kolonialer Kontaktprozesse (264) insbesondere in Mexiko:

Durante este periodo inicial […] se generaron signos biculturales –que son un tipo especial de extensión semántica–, se incorporaron préstamos de una lengua a otra, su usaron varios significantes para designar un referente de la otra cultura y los signos lingüísticos complicaron su naturaleza polisémica, por mencionar solo algunos cambios. (265)

Beleuchtet werden verschiedene Etappen, vom Initialkontakt über Zweisprachigkeit und Diglossie bis hin zum Verschwinden bestimmter Ausgangssprachen, die jeweils mit Blick auf das Beispiel Mexikos sowohl anhand des Spanischen als auch indigener Sprachen und mit Blick auf paradigmatische Lexeme wie "pan" oder "vino" analysiert werden. Die häufige Integration von Lexemen entspricht einer einfacheren Variante aufgrund gegenseitig vorhandener Schwierigkeiten, Konzepte des Anderen kognitiv zu verarbeiten. Der sehr breit angelegte Text überzeugt sowohl durch die theoretischen Anlagen als auch in den linguistischen Einzelanalysen. Das Phänomen der kulturellen Migration wird anhand einer Untersuchung des Sprachmaterials indigener und kolonialer Provenienz überzeugend vermittelt.

"La migración transatlántica olvidada: los esclavos africanos en México. Procesos transculturales y translingüísticos" ist der Titel des Beitrages von Klaus Zimmermann. Zimmermann kritisiert dort zunächst, dass dieses Kapitel Migrationgeschichte von der mexikanischen Öffentlichkeit lange nicht wahrgenommen, gar verschleiert, sowie ebensowenig in der historischen Landesforschung näher betrachtet wurde – wohingegen die afrikanischen Migrationen nach Brasilien, in die Karibik sowie in die USA sehr gut erforscht seien (281). Zur Beschreibung der besonders in den Karibikregionen sowie vereinzelt im Bereich der pazifischen Costa Chica lebenden und ca. um die 10 % der mexikanischen Bevölkerung stellenden afromexicanos (286), ihrer Sprache, ihrer Kultur sowie ihrer durch Versklavung erzwungenen Migration nach Mexiko, plädiert Zimmermann dafür, von ganz besonderen Kulturkontaktprozessen zu sprechen und sich von unzureichenden ethnozentrischen Beschreibungsmustern zu lösen (284f.). Vielmehr etabliert er einen differenzierten theoretischen Transkulturationsbegriff, der folgende mögliche Prozesse zu erfassen vermag: (a) die "conservación de la cultura africana entre los afromexicanos" (285); (b) die "africanización", also die afrikanischen Einflüsse in der hispanomexikanischen Kultur auf nationalem sowie besonders auf regionalem Niveau; (c und d) die "indianización", die indomexikanischen Einflüsse auf die afromexicanos und umgekehrt die afrikanischen Einflüsse auf die indomexikanischen Kulturen; (e) die "hispanización", d.h. die Einflüsse der hispanomexikanischen Kultur auf die Gruppe der afromexicanos sowie letztlich (f) die "afromixteca", also die "mixtura" aus der afrikanischen, indomexikanischen sowie hispanomexikanischen Kultur. Im Folgenden zeigt Zimmermann sehr eingängig, welche Transkulturationsphänomene tatsächlich empirisch nachweisbar sind: Als spezifisch afrikanische Praxis findet sich z.B. bei den afromexicanos noch der Glaube an einen Schatten ("sombra"), den jeder Mensch trage und dessen Verlust mit Krankheit und Leid verbunden sei. Abgesehen davon konnten weder religiöse Praktiken (im Gegensatz z.B. zu den kubanischen santerías), noch musikalisches Erbe (bis auf wenige Ausnahmen, wie den Tanz la bamba), noch afrikanische Sprachen bewahrt werden, was auf die Gefangenschaft der Sklaven sowie ihre Analphabetisierung zurückzuführen sei (287). Im letzten Teil des Aufsatzes nähert sich Zimmermann der diffizilen Frage, ob und durch welche methodischen Ansätze man von einer vergangenen "lengua criolla", bzw. "lengua semi-criolla" der afromexicanos sprechen könne und ob es mithilfe der Auswertung historischer Dokumente (eine Analyse der villancicos) sowie diachroner, intertransarealer sowie intertranslingualer Vergleiche verschiedener Varietäten (so wie der Auswertung der Sprache der Cujila) möglich sei, authentische Belege für die Existenz einer solchen Sprache zu finden.



PhiN 72/2015: 61


Walter Bruno Berg beginnt seinen Aufsatz "Jorge Volpi – viajero transatlántico del siglo XX" mit einer Vorstellung von Julio Ortegas 'transatlántico-Konzeptes', ein zwischen Exotismus und indigenem Widerstand, – den zwei dominanten Lateinamerika-Erklärungsmustern vergangener Jahre –, oszillierender Diskurs, in dem Elemente des Eigenen sowie des Fremden sich begegnen, interagieren, sich mischen und genuin 'neue' Elemente erschaffen (310f.). Jorge Volpi passe, so Berg, nicht in diese Kategorie, ist er doch weder ein Avantgardist, den das Problem der "escritura" interessiere (so wie viele große Lateinamerikaner wie García Márquez, Fuentes oder Cortázar), noch schreibe er explizit über Lateinamerika oder Mexiko. Vielmehr drehe sich seine Trilogie En busca de Klingsor (1999), El fin de la locura (2003) sowie No será la Tierra (2006) um den Nationalsozialismus, die 68er-Bewegung sowie die Übergangsphase nach dem Mauerfall mit anschließender Globalisierungskrise. Berg vermutet, dass Volpi mit seinen Romanen das stereotype lateinamerikanische Europabild des 19. Jhd. dekonstruieren möchte, indem Europa seinen Status als kulturelles Zentrum sowie als Schutzhort verliert und als hybride Schwesterkonstruktion von Lateinamerika auftritt. Die Hybridität Europas, die bei Ortega noch immer als ein Gemisch aus Elementen Europas und Lateinamerikas aufgefasst wird, sei nun eine rein innereuropäische Hybridität. Berg liest Volpis Roman-Trilogie nun als drei spezifische Kritiken von Rationalität im Zuge des Vernunft-Diskurses im 20. Jahrhundert, wobei der Mexikaner besonders nach den Limitierungen und Grenzen des totalitären Vernunft-Konzeptes suche. Bezugnehmend auf Goyas Gemälde El sueño de la razón produce monstruos, stellt Berg drei Kategorien von von der Vernunft produzierten Monstern vor ("el poder, la libido, la economía"), die er dann jeweils als Interpretationsschlüssel für die Roman-Triologie Volpis funktionalisiert (314). Letztlich, nach eingängigen Analysen von En busca de Klingsor sowie von El fin de la locura, kommt Berg zu dem Schluss, dass die Entdeckung eines hybriden Europas sowie eine Kritik des (europäischen) Vernunftdenkens keines neuen Konzeptes eines genuin transatlantischen Denkens bedarf, sondern diese Selbstkritik durchaus eine Konstante des westlichen Denkens darstelle (321) (als Referenz hierfür nennt Berg Nietzsche, Mann und Dürrenmatt).

Der Band schließt mit dem Beitrag "Greene y Emilio Cecchi: una visión mítica y festiva de México" von Álvaro Ruiz Abreu, in dem er auf die transatlantischen Fremdansichten Mexikos in Cecchis México (1932) sowie Greenes Camino sin ley (1939) eingeht, die als pure "topografías de la imaginación" (324) ganz eigene Wahrnehmungsbilder Mexikos präsentieren. Ruiz Abreu hebt heraus, dass Cecchis Schrift México, die auf einer langen Reise durch das Land (und einem Aufenthalt im Westen der USA) beruhte, sich bedeutsam von anderen zeitgenössischen Reiseberichten von Europäern abgrenzt, die vermeintliche "tierras bárbaras" (325) betreten. Denn das Werk sei, so Ruiz Abreu mit Todorov, angenehmerweise nicht mit dem stereotypen, eurozentristischen Blick ausgestattet, vielmehr sei es eine "galería de sonidos, de voces, que se desprenden de las calles, los monumentos, la arqueología, las pirámides, las catedrales, que el viajero encuentra a su paso" (328). Dies mache México aber auch zu einem zuhöchst komplexen und paradoxen Zeugnis der Zeit. Dagegen sei Greenes Mexiko in Camino sin ley ein Ort, an dem man ausschließlich "carencia de libertad, olvido, ausencia de Dios" finde. Trotz der dichotom dargestellten Fremdheitserfahrung kommt Ruiz Abreu zu dem Schluss, dass beide Texte doch positiv konnotiert seien, sind sie doch beide geschrieben mit dem "afán por descubrir en otras tierras lo que en la propia no puideron encontrar" (335).



PhiN 72/2015: 62


Insgesamt ermöglicht der Band eine vielseitige Auseinandersetzung mit den Phänomenen der kulturellen Migration in Mexiko. Angesichts der interdisziplinären Vielfalt werden hochinnovative neue Perspektiven vermittelt, die gerade in der Zusammenschau ein bedeutender Forschungsbeitrag sind. Gerade diese Vieldimensionalität ermöglicht eine Annäherung an eine alternative Theoriebildung zu etablierten Raumkonzepten. Mexiko als Anschauungsmodell bietet hervorragende Möglichkeiten, diese universellen Paradigmen auszuloten und durchzuspielen. Insofern ist der Innovationsgrad sowohl für die Mexikoforschung als auch für eine regional-unabhängig Theoriebildung hochrelevant.