PhiN 72/2015: 24



Jan T. Schlosser (Aalborg)



Orte und Nicht-Orte in Ernst Jüngers Erzählungen Aladins Problem und Eine gefährliche Begegnung



Places and Non-Places in Ernst Jünger's short stories Aladins Problem and Eine gefährliche Begegnung
For the first time Ernst Jünger's short stories Aladins Problem and Eine gefährliche Begegnung are examined in an anthropological context in this paper. The analysis of Jünger's short stories focuses on the implicit presence of Marc Augé's theory of places and non-places.


I Einführung

Das Werk Ernst Jüngers gehört mittlerweile zum "Kanon der Moderne" (Dietka 2011: 61). Seine offenkundige Vorliebe für essayistische und diarische Texte hat aber Anlass zu überaus kritischen Bewertungen seiner wenigen Erzähltexte gegeben. Über den Roman Eumeswil (1977) heißt es in der Forschung, dass er "von einer Spannungslosigkeit gekennzeichnet ist, die in der Gattung der literarischen Utopie ihresgleichen sucht" (Schote 1992: 34f.). Wer das späte Erzählwerk Jüngers auf dessen These vom Ende der Geschichte reduziert (Rutschky 1978), verkennt die Präsenz geschichtsphilosophischer und anthropologischer Kernthemen, die besonders in den Erzählungen der 1980er Jahre erkennbar werden. Bemühungen um eine Gegenbewegung zur 'Übermoderne' (surmodernité) werden – neben der kompromisslosen Forderung nach dem souveränen Subjekt – von Jünger ausgelotet. Der französische Anthropologe Marc Augé betont, dass "die 'Übermoderne' Nicht-Orte hervorbringt, also Räume, die selbst keine anthropologischen Orte sind" (Augé 2010: 83). Im Mittelpunkt von Augés Denken steht eine "Anthropologie des Nahen" (Augé 2010: 19). Er wendet sich von exotischen Lebenswelten als Studienobjekt der Anthropologie ab und fokussiert auf "die Familie, das Privatleben, die Orte des Erinnerns" (ebd.: 34). Mit dem Schwerpunkt der Übermoderne zeigt Augé sich als vehementer Gegner der Postmoderne, der die Gegenwart eher als eine Periode des Verlangens nach Sinn als eine Sinnkrise betrachtet: "Man könnte sagen, die Übermoderne sei die Vorderseite einer Medaille, deren Kehrseite die Postmoderne bildet – gleichsam das Positiv eines Negativs. Aus der Sicht der Übermoderne hat die Schwierigkeit, die Zeit zu denken, ihren Grund in der Überfülle der Ereignisse, die für die gegenwärtige Welt charakteristisch ist, und nicht im Zusammenbruch einer Fortschrittsidee" (ebd.: 38f.). Das Ziel Jüngers ist, Autonomie gegenüber einem anthropologisch gewandelten Raum zu erlangen und die 'Urbilder' des Lebens freizulegen.




PhiN 72/2015: 25


Im vorliegenden Beitrag soll gezeigt werden, dass Jüngers Spätwerk der 1980er Jahre den Versuch eines Gegenentwurfs zur 'Übermoderne' enthält, der zentrale theoretische Diskussionen der 1990er Jahre vorwegnimmt. Die Relevanz der Erzählungen Aladins Problem (1983) und Eine gefährliche Begegnung (1985) für "orts- und zeitenthobene" (Gauger 1999: 139) Kontexte wurde von der Forschung bislang nicht herausgearbeitet. Seferens etwa fokussiert in seiner ausführlichen Analyse von Aladins Problem zwar auf die Modernekritik, reiht sie in seinem Bestreben, verschlüsselte nationalkonservative Botschaften Jüngers nachzuweisen, allerdings nicht in einen anthropologischen Kontext ein (Seferens 1998: 14–40). Die Fokussierung auf Jüngers eigene Zentralbegriffe wie den 'Waldgänger' und den 'Anarchen' mag als Phaseneinteilung seines umfangreichen Gesamtwerks durchaus berechtigt sein, mutet in Titeln wie Krieger, Waldgänger, Anarch (Arnold 1990) jedoch plakativ an und verstellt den Blick der Forschung auf Jüngers Auseinandersetzung mit anthropologischen Problemfeldern der 'Übermoderne'. Mit der Denkfigur des Anarchen suggeriert Jünger eine 'innere' Unabhängigkeit des Individuums gegenüber der Staatsmacht. Die – bei äußerer Loyalität – rein geistige Oppositionshaltung des Anarchen ist im Werkzusammenhang betrachtet die nachträgliche Konsequenz aus der sich nach dem Arbeiter (1932) herauskristallisierenden Ablehnung kollektivistischer Denkkonzepte. Ob man Jüngers Zentralbegriffe nun als "Magna Charta des Einzelnen" (Schwilk 1995: 275) oder als "elitär verbrämte Mitläuferideologie" (Murswiek 1979: 288) einstuft –  zu bedenken ist, dass die angestrebte Verwirklichung der individuellen Freiheit in der 'Übermoderne' wesentlichen Rahmenbedingungen wie der Veränderung des Raumes unterliegt.

Der vorliegende Beitrag fokussiert auf die Modernekritik aus einer anthropologischen Perspektive. Beabsichtigt ist nicht, die Erzähltexte Jüngers vor dem Hintergrund einer spezifischen anthropologischen Methode zu analysieren. Vielmehr sollen die anthropologischen Begriffe Marc Augés in einem kulturgeschichtlichen Kontext verwendet werden. Inwiefern sich das Heranziehen Augés als ein fruchtbarer neuer Ansatz zur Analyse von Jüngers Auseinandersetzung mit Orten und Nicht-Orten erweist, wurde in der bisherigen Forschung im Hinblick auf seine Erzählungen der 1980er Jahre noch nicht untersucht. Lassen sich die Begriffe Orte und Nicht-Orte auf das späte Erzählwerk Jüngers transponieren? Manifestiert sich die Spätmoderne als eine irreversible Bruchstelle?

Augé führte den Terminus Nicht-Orte im Jahre 1992 in seinem Buch Non-Lieux ein, um Phänomene beschreiben zu können, welche für die Periode unmittelbar nach der Moderne kennzeichnend sind. Im Mittelpunkt von Augés theoretischen Erwägungen steht eine "Krise im Denken des Raumes" (Augé 1994a: 34). Orte sind Bestandteile "einer in Zeit und Raum lokalisierten Kultur" (Augé 2010: 42) und gewähren als "Orte des Erinnerns" (ebd.: 34) kulturelle Identität. Eben dies vermögen Transiträume wie Autobahnen, Bahnhöfe und Flughäfen oder Freizeitparks und Einkaufszentren jedoch nicht. Sie gelten als Nicht-Orte, die häufig vom "beschleunigten Verkehr von Personen und Gütern" (ebd.: 42) geprägt sind. Beschleunigten Personenverkehr konstatiert Augé zudem im Massentourismus, denn "der Raum des Reisenden wäre also der Archetypus des Nicht-Ortes" (ebd.: 90). Auch der standardisierte urbane Raum der Großstädte ist als Nicht-Ort, als ein permanenter Transitraum einzustufen: "Die Stadt als Geschichte oder als Gedächtnis bündelt und vermischt die allgemeine mit der individuellen Geschichte" (Augé 2000: 181), wird aber als anthropologischer Ort "von den heutigen Neubauten als Teil der Erinnerung nach und nach ausgelöscht werden" (ebd.).




PhiN 72/2015: 26


Im Gegensatz zu Orten wohnt Nicht-Orten keine historische Kontinuität inne. Während Orte durch "Geschichte gekennzeichnet" (Augé 2010: 83) sind, sind die in der 'Übermoderne' vermehrt vorkommenden Nicht-Orte vom "Provisorischen" (ebd.) bestimmt, so dass sich Geschichte an ihnen nicht mehr ablesen lässt. Augé thematisiert die Beschleunigung des Modernisierungsschubs und bezieht sich auf die von Pierre Nora herausgearbeitete Qualität von 'Erinnerungsorten', so "als verrieten diese alten Formen uns Heutigen, was wir sind, indem sie zeigen, was wir nicht mehr sind" (Augé 1994b: 34). An Nicht-Orten entzündet sich ein sowohl kollektiver als auch individueller Identitätsverlust. Die Geschichte scheint verloren zu sein.

Der anthropologische Ort figuriert als "Sinnprinzip" (Augé 2010: 59). Nicht-Orte sind indes sinnentleerte Funktionsorte des Verkehrs, des Transits und des Kommerzes. Nicht-Orte können im Menschen Einsamkeit, Schweigen und Uniformität hervorrufen (ebd.: 104). Augés Betrachtungen zeigen, dass die Begegnung mit Orten Melancholie auszulösen vermag, die Begegnung mit Nicht-Orten hingegen dezidiertes Unbehagen. Das Leben in 'Orten' ohne Vergangenheit löst das Gefühl des Unbehaustseins aus. Für Nicht-Orte ist einerseits ein Minimum an zwischenmenschlicher Interaktion sehr charakteristisch. Andererseits lässt sich der anthropologische Status von Nicht-Orten anfechten, da die menschlichen Bestrebungen nach Relationen zum Territorium, zur Familie und zu übrigen Menschen noch immer virulent vorhanden sind. Ein Hoffnungszeichen für kulturelle Kontinuität erblickt Augé zudem in der künstlerischen Entfaltung, denn "in der Kunst bewahrt die Moderne sämtliche Zeiten des Ortes" (ebd.: 82).


II Geschichtslosigkeit in Aladins Problem

Rückblickend schildert der Ich-Erzähler Friedrich Baroh ein Leben, das in schlesischen Adelskreisen beginnt, über die Zwischenstationen der Vertreibung und Verarmung in die bundesdeutsche Gesellschaft führt, in der er durch Geschäftserfolg aufsteigt, jedoch seelisch erkrankt, um am Ende scheinbar zu sich selbst zu finden. Diese Selbstfindung erweist sich indes als Trugschluss. Der Anarch Baroh vermag einer zunehmend von Kommerzialisierung und Nicht-Orten bestimmten Gesellschaft nicht standzuhalten.

Die Moderne des späten 20. Jahrhunderts erfährt Baroh als einen Zustand der Disharmonie, der besonders in einem anthropologischen Unbehagen zum Ausdruck kommt. Sein Problem besteht darin, nicht der Geschichtslosigkeit anheim zu fallen. In der Erzählung Aladins Problem wird das Hauptproblem der 'übermodernen' Existenz behandelt: "[D]as Hauptproblem rückt in die Mitte der Existenz, es verdrängt die übrigen. Unablässig begleitet es uns wie ein Schatten und verdüstert den Sinn" (Jünger 1983: 7). Was wie eine Beschwörung hermeneutischer Denkmodelle anmutet, erweist sich als existentielle Diskussion über "den kollektiven und den persönlichen Untergang" (ebd.). Diese bewegt sich in einem theoretischen Spannungsfeld von Orten und Nicht-Orten. Baroh positioniert sich als ein dezidierter Kritiker einer in der 'Übermoderne' vorherrschenden Geschichtslosigkeit und rekurriert auf die Terminologie Augés:

Der Liegnitzer Kulturpark war mir […] ein denkbar unangenehmer Ort. […] Im Zentrum stand eine riesige Granate, ein Blindgänger, der, wie die Inschrift auf dem Sockel lehrte, an die Eroberung der Stadt erinnerte. Eine mit Statuen gesäumte Allee führte darauf zu. Das waren die Kunstwerke, teils aus Gips, teils aus Beton. Freilich waren sie nicht für die Ewigkeit bestimmt. […] Auch an den Straßenschildern und in den Wörterbüchern wurden Namen gestrichen und Daten geändert – kurzum, es gab keine Geschichte mehr, nur noch Geschehen (Jünger 1983: 67f.).




PhiN 72/2015: 27


Was ein Erinnerungsort sein sollte, wird in der 'Übermoderne' zur permanenten Jetztzeit degradiert. Denkmäler sind nunmehr weder vom Baumaterial noch von der Funktion her Monumente historischer Kontinuität, sondern besitzen lediglich den von Augé dargestellten provisorischen Charakter. Der Kulturpark ist ein Ort der Geschichtslosigkeit und lädt als solcher nicht zu dem von Augé eingeforderten Verweilen ein. Das geschichtslose Gepräge des Kulturparks korrespondiert damit, dass die realhistorische Verortung des geographischen Ortes Liegnitz in der Volksrepublik Polen schwierig ist. Da der Nicht-Ort keineswegs an einen konkreten realhistorischen Ort gebunden ist, gibt Jünger nur wenige Hinweise auf ein polnisches Liegnitz nach 1945. Er erwähnt zwar den Polen Jagello und verweist auf die Revision von deutschen Namen und Daten im Nachkriegsschlesien, aber der politisch-geschichtliche Handlungsraum in Aladins Problem birgt verfremdete Züge. Nicht Heimatverlust oder nationale Geschichtsrevision, sondern das anthropologische Paradigma steht im Zentrum der Erzählung.

Der konservativ gesinnte Bestattungsunternehmer Baroh registriert die Sinnkrise einerseits in seiner Berufssphäre, andererseits an sich selbst: Schlaflosigkeit, Trunksucht, ein zunehmendes berufliches Desinteresse und die Entfremdung von seiner Ehefrau sind die Symptome einer gesellschaftlich bedingten Identitätskrise. In Anbetracht dieses Krisenbewusstseins verbringt Baroh "Stunden in untätiger Träumerei" (Jünger 1983: 91) und hegt "Erinnerungen an die alten Zeiten" (ebd.: 64). Er tritt als Melancholiker hervor und reagiert damit im Sinne Augés auf den Aufenthalt in geschichtslosen Provisorien.

Dadurch, dass die Verwirklichung der individuellen Freiheit in Aladins Problem als unabhängig vom jeweils herrschenden politischen System figuriert, wird eine substantielle geistige Überlegenheit des Einzelnen gegenüber der Staatsmacht postuliert, die Jünger etwa im Arbeiter noch bestritten hatte: "Die Freiheit trägt man in sich; ein guter Kopf verwirklicht sie in jedem Regime. Als solcher erkannt, kommt er überall voran, passiert jede Linie. Er geht nicht durch die Regimes, sie gehen durch ihn hindurch, hinterlassen kaum eine Spur. Er kann sie entbehren, sie ihn aber nicht" (ebd.: 36). Von Seiten Barohs erfolgt keine glaubwürdige Distanzierung von den internalisierten preußisch-autoritätsbejahenden Tugenden, die scheinbar mühelos mit der Programmerklärung des Anarchen einhergehen. Dessen Autonomieanspruch erweist sich in der 'Übermoderne' allerdings als nicht mehr realisierbar.


III Von Orten zu Nicht-Orten

Barohs Interesse an dem anthropologischen Ort beruht auf seinen "historischen Neigungen" (ebd.: 90). Der intertextuelle Bezug zu Eine gefährliche Begegnung fokussiert auf das Jahr 1888, das Jahr der um Gerhard vom Busche zentrierten Handlung in Jüngers Kriminalerzählung: "Ich bin in diesen Daten wenig bewandert, denn obwohl Geschichte mich begeistert, reichen meine Studien nur bis 1888, zum Dreikaiserjahr. Mit ihm beginnen für mich die Vorwehen des Titanismus, der geschichtslosen Zeit" (ebd.: 44). Sowohl in Aladins Problem als auch in Eine gefährliche Begegnung legt Jünger – der Prognose Nietzsches von einer nihilistischen Zeitenwende folgend – den Beginn des Zeitalters der Nicht-Orte auf das Dreikaiserjahr fest.




PhiN 72/2015: 28


Die Thematik der Orte entfaltet sich im Kontext der beruflichen Tätigkeit Barohs als Bestatter: "Auf dem Totendienst beruht die Kultur; sie schwindet mit dem Verfall der Gräber – oder, besser gesagt: dieser Verfall kündet an, daß es zu Ende geht.  Immer noch halte ich es für einen guten Gedanken, die Toten zu beschwören und ihnen eine Stätte zu schaffen, bevor der Fortschritt uns vernichtet" (ebd.: 104). Ein entmythisierter, um anthropologische Veränderungen zentrierter Diskurs der 'Übermoderne' figuriert als narrativer Mittelpunkt des Textes. Fortschritt identifiziert Baroh mit Nicht-Orten. Der Totenkult ist hingegen ein potenziertes Beispiel für das von Augé betonte Verweilen des Einzelnen am Ort.

"Der Gedanke ewiger Ruhestätten" (ebd.: 80) verweist auf den anthropologischen Ort. Zunächst hebt Baroh die jüdische Begräbniskultur als exemplarisch hervor: "[D]ie Juden legen Steine auf das Grab. Dieser Ort war mir der alten, geheimnisvollen Grabsteine wegen besonders lieb" (ebd.: 59). Nicht die auf Rationalität beruhende Welt, sondern historische Kontinuität definiert den Ort.

Ausführlicher ist die literarische Gestaltung einer Kapelle in Süddeutschland mit angegliedertem Friedhof:

Es war ein einsamer Ort; kein Wagen kam vorüber […] Auf diesem Hügel war seit langem nicht mehr beerdigt worden und, wie Kornfeld meinte, stand die Einebnung bevor. Bald würde das Land nur noch aus Straßen und Tankstellen bestehen. Wir betrachteten die Grabsteine, entzifferten die Inschriften. Es war ein Hundertjähriger dabei. Von einem bescheidenen Denkmal mußten wir den Efeu abheben und sahen, daß es dem einzigen Gefallenen gewidmet war, den das Dorf in einem der Feldzüge des vorigen Jahrhunderts verloren hatte; über seinem Namen stand das Eiserne Kreuz.

An der Wand der Kapelle waren die Grabsteine der Pfarrherren gereiht. Die Daten führten bis auf den Dreißigjährigen Krieg zurück. In rotem Sandstein wiederholten sich Kelch und Oblate vom Barock bis zum Jugendstil (Jünger 1983: 74, 76).

Der mustergültige Ort ist für Baroh – und Augé – ein Erinnerungsort. Als solcher bündelt er historische Epochen mehrerer Jahrhunderte. Bedroht wird auch dieser Ort durch die "Einebnung". Die zukünftige Dominanz von Nicht-Orten ist an der Ausbreitung von den bei Augé herausgearbeiteten Transiträumen des vermehrten Autoverkehrs wie "Straßen und Tankstellen" erkennbar. Lediglich einzelne 'Reservate' sind noch als Orte einzustufen, wohlgemerkt ohne motorisierten Verkehr.

"Ausgehungert nach einem historisch und literarisch fundierten Gespräch" (ebd.: 81) erweist sich der Bildhauer Kornfeld – offenkundig ein Alter Ego Arno Brekers – als ein geeigneter Dialogpartner Barohs, denn "Kornfeld plante als Architekt und Künstler; sein Ideal war seit langem die Gestaltung harmonischer, der Arbeitswelt entzogener Landschaften. Sie sollten dem reinen Behagen und der Meditation dienen, vielleicht auch kultische Bedeutung haben" (ebd.: 78). Kornfeld ist ein Repräsentant der Orte, ein Repräsentant des von Augé prononcierten Verweilens. Für Kornfeld figuriert die Kunst als Gegenwelt zu Nicht-Orten. Er scheint damit der Vorstellung Augés zu entsprechen, wonach die Moderne in der Kunst sämtliche Zeiten des Ortes bewahre.




PhiN 72/2015: 29


Die Abkehr von den Beschleunigungsprozessen der 'Übermoderne' manifestiert sich als Kornfelds zentrales Anliegen, welches ebenfalls in seiner Bewertung des von Baroh als Erinnerungsort bestimmten süddeutschen Friedhofs zum Ausdruck kommt: "'Das war noch ein Friedhof, der seinen Namen verdient. Wenn ich dagegen an den meiner Vaterstadt denke, in dem ich vielleicht einmal liegen werde: ein Rangierbahnhof – schlimmer als in New York'" (ebd.: 77). Der Nicht-Ort wird auf die Urbanität der modernen Millionenmetropole und ihre Transiträume projiziert. Hier nun geht Jünger durch die Gleichsetzung des modernen Friedhofs mit dem Nicht-Ort einen wesentlichen Schritt über Augé hinaus. Baroh, der die "Einebnung alter Gedenkstätten und den Verfall des Totenkultes" (ebd.: 84) registriert, bemüht sich darum, der Funktion als moderner Bestattungsunternehmer zu entfliehen, dessen Werbekampagnen sich jedoch auch der Nicht-Orte bedienen, denn die Untergrundbahn wird von Augé ebenfalls in den Kontext von Nicht-Orten gestellt: "Den Namen der Firma mit den Palmenzweigen las man zwischen den Todesanzeigen der Zeitungen und in jedem Wagen der Untergrundbahn" (ebd.: 60). Die urbane Bestattungskultur sieht Kornfeld von namenlosen Gräbern dominiert: "'Die Erdbegräbnisse werden dann durch Reihen gleichförmiger Steine ersetzt'" (ebd.: 77). Baroh stimmt Kornfelds Kritik an der anonymisierten Totenruhe zu: "Der geschichtslose Mensch kennt keinen Frieden, vor allem keine ewige Ruh. Er hat noch die Gräber seinem Chauffeurstil angepaßt. Sie sind, wie alle seine Bauten, für dreißig Jahr bestimmt" (ebd.: 77f.). Dieses Zitat sollte als paradigmatisch für Jüngers Auseinandersetzung mit Nicht-Orten betrachtet werden. Geschichtslosigkeit vermag er nicht dem Ideal des Verweilens zuzuordnen. Mit dem "Chauffeurstil" präsentiert er eine für den Transitraum, wie Augé ihn versteht, überaus charakteristische Metapher. Der provisorische Charakter kennzeichnet den Nicht-Ort.

In Anatolien beteiligt sich Baroh an einem Friedhofsprojekt, das auch die Billigung Kornfelds findet. Ihr gemeinsames Projekt ist die Ästhetisierung des Totenkults. Baroh favorisiert abermals den Ort:

Wer glaubt schon an subterrane Städte mit Kirchen, Straßen, Marktplätzen, Ställen, Speichern – an Komplexe, in die sich zu verschiedenen Zeiten ganze Völker zurückzogen? […] Wo wir auf eine solche seit der Vorzeit ununterbrochene Besiedlung stoßen, dürfen wir auf besondere Gunst der Erde schließen […] Die Gänge, durch mühlsteinartige Rollverschlüsse gesichert, führen zu über- und untereinander liegenden Sälen und Kammern bis in große Entfernungen. Sie sind, wie gesagt, nur zum Teil erforscht. Kornfeld erkannte sofort, daß hier, und nirgends sonst auf der Erde, der Ort für die "Terrestra" war. Das Haus, in Jahrtausenden gebaut, war bereitet (Jünger 1983: 95f.).

Die hier beschriebene Landschaft ist ebenso schwer realhistorisch in Anatolien zu verorten wie Liegnitz im Nachkriegspolen. Das anthropologische Grundmuster der von Orten und Nicht-Orten bestimmten Handlungsräume wird von Jünger in Aladins Problem mehrmals hervorgehoben. Der anatolische Ort figuriert nur scheinbar als Gegenpol zum Nicht-Ort des Liegnitzer Kulturparks.

Baroh hegt den Wunsch nach Zugehörigkeit zum Ort, den er als eine anthropologische Konstante versteht: "Ein Urtrieb wachte wieder auf. Man sagt, daß selbst die Elefanten einem gemeinsamen Ort zustreben, wenn es zu Ende geht" (ebd.: 102). Dass die Sehnsucht nach dem Ort in der 'Übermoderne' – denn in ihr sind wohlgemerkt nicht sämtliche Zeiten des Ortes aufgehoben – einer Utopie gleichkommt, konstatiert er mit Bitterkeit, denn "je mehr der Plan sich erfüllte, desto weniger inneren und äußeren Anteil nahm ich an ihm" (ebd.: 104). Es ist die Transformation eines Ortes in einen Nicht-Ort, die Baroh resignieren lässt.




PhiN 72/2015: 30


Zwar vermag er sich gegen seinen rationalistischen Onkel durchzusetzen, "daß keine Maschinen verwendet würden; die Toten sollten während der letzten Wegstrecke auf Schultern getragen werden, in den Gewölben sollte kein elektrisches Licht brennen" (ebd.: 103), doch mündet das "Terrestra"-Projekt letztendlich in eine "technische Katastrophe" (ebd.: 115). Um den Ort herum wachsen Nicht-Orte in großer Zahl empor: "Der Bau des zentralen Flughafens" (ebd.: 103) führt "Sekundargeschäfte" (ebd.: 100) wie "Reisebüros, Fluglinien, Versicherungen, Hotels" (ebd.) mit sich. "Die Individuen werden zu Passagieren" (ebd.: 109) in einer von Nicht-Orten dominierten 'Übermoderne' – und zwar nicht nur als Reisende im permanenten Transit, sondern ebenso als Konsumenten. Barohs Versuch, der Moderne einen Totenkult entgegenzusetzen, scheitert an dessen Kommerzialisierung. Diese spielt in Augés Anthropologie der Nicht-Orte bekanntlich eine entscheidende Rolle, weil nicht nur Einkaufsmeilen, sondern auch Transiträume des motorisierten Verkehrs wie Flughäfen eine Nebenfunktion als Kommerzzentrum erfüllen.

In Aladins Problem ist vom Leben in einer geschichtslosen Zeit die Rede. Die Bestattungskultur und deren Ästhetisierung als Projektionsfläche eines anarchischen Lebensanspruchs scheitern. Selbst vermeintliche Ruhestätten werden zu Nicht-Orten. Baroh registriert Auflösungserscheinungen einer disharmonischen und enthistorisierten 'Übermoderne', aus der es auch mit dem "Terrestra"-Projekt kein Entkommen gibt. Omnipotenzvorstellungen des Subjekts erweisen sich in der 'Übermoderne' als obsolet. Die Forschung hat Baroh als systemtreuen Anarchen charakterisiert (Meyer 1990: 597). Dass sich der Anarch nicht von autoritätsbejahenden Verhaltensweisen zu distanzieren vermag, ist freilich nicht bedeutsam. Entscheidend ist die Irrelevanz derartiger Subjektentwürfe in einer von Nicht-Orten bestimmten 'Übermoderne'. Nicht-Orte schränken die Entscheidungsfreiheit Barohs ein. Der Absolutheitsanspruch des außerhalb der Gesellschaft stehenden Einzelnen wird nicht eingelöst. Barohs Identifikation mit den hinter den unmittelbar wahrnehmbaren Erscheinungen des Lebens liegenden 'Urbildern' mag aus Jüngers Optik durchaus ein hehres Ziel sein, das sich allerdings als nicht mehr realisierbar erweist. Die Erzählung Aladins Problem stellt eine Reflexion über Ortsverschiebungen von Orten zu Nicht-Orten dar.


IV Die Großstadt als Nicht-Ort in Eine gefährliche Begegnung

Den endgültigen Durchbruch der Moderne demonstriert Jünger anhand der Nachwirkungen des die erotische Begegnung zwischen Gerhard und Irene abrupt beendenden Frauenmordes im Pariser Etablissement der Madame Stephanie. Das Thema der Kriminalerzählung ist der Epochenwandel Ende des 19. Jahrhunderts. Die Handlung, im September 1888 angesiedelt, bedeutet einen Rückgriff auf jene Zeit, mit der die Dominanz der Nicht-Orte einsetzt.

Gerhard huldigt einem vormodernen Urbanitätsideal:

Das sonst von lärmender Geschäftigkeit belebte Viertel war an diesem Vormittag stiller […] Die Pferde gingen hier im Schritt; die Hufe glitten auf dem steilen Pflaster aus.

Obwohl Gerhard seit über einem Jahr die Stadt bewohnte, war jeder dieser Gänge für ihn ein Mysterium. Er meinte kaum, durch Plätze und Straßen sich zu bewegen; es schien ihm eher, als ob er durch Fluchten und Flure eines großen, unbekannten Hauses schritte oder Schächte durchirrte, die durch geschichtetes Gestein geführt waren. In mancher Gasse, an mancher Kreuzung wurde dieser Zauber besonders stark. Gerhard gab sich kaum darüber Rechenschaft. Es waren weniger die Denkmäler und die Paläste, die ihn als Zeugen historischer Vergangenheit ergriffen, sondern eher war es das namenlose Leben, das diese Residenz wie einen Korallenstock gebildet hatte – ihr Schicksalsstoff. Er fühlte sich daher in jenen Vierteln, die gegen alle Regeln der Architektur gewachsen waren und sich im Lauf der Jahrhunderte verschachtelt hatten, besonders wohl (Jünger 1985: 8).




PhiN 72/2015: 31


Den von Jünger vormals propagierten 'Planlandschaften' ist nun die historisch gewachsene Stadt vorzuziehen. Es ist das vormotorisierte Zeitalter der Reiterei, dem Gerhard sich zugehörig fühlt. Die Stadt figuriert als Auflösung der Kultur mittels Technik. Inmitten der Städte findet ein kultureller und sozialer Transformationsprozess statt. Die Transformation der Stadt in einen Nicht-Ort nimmt in Eine gefährliche Begegnung einen gewichtigen Stellenwert ein. Durch motorisierten Verkehr wird die Stadt zum Durchgangsraum, zum Nicht-Ort.

Eine gefährliche Begegnung markiert die Beschleunigungsbewegung der Moderne, der sich Gerhard zu widersetzen versucht. Die von Augé eingeforderte Kontemplation ist kennzeichnend für seine Wahrnehmung der Großstadt, des "großen, unbekannten Hauses". Angezogen fühlt er sich von der Stadt als Ort historischer Kontinuität. Das gilt ebenfalls für den Kriminalassistenten Etienne, welcher sich der Beschleunigung gedanklich zu widersetzen versucht: "Was hatte er mit dieser Geschäftigkeit zu tun, mit diesen Schwärmen, die sich an den Ufern des Flusses und auf der Insel umtrieben? Die Hast, der Ernst, mit dem sie hier- und dorthin eilten, mußten auf einer optischen Täuschung beruhen. Entweder war er im Irrtum oder alle anderen" (Jünger 1985: 79).

Gerhard wird als "Müßiggänger" (ebd.: 11f.) beschrieben, der beabsichtigt, "den Sonntag einsam zu verbringen und fern der Innenstadt" (ebd.: 18). Der Dandy Ducasse "hielt ihn [Gerhard] für einen, der in schier unerlaubter Weise in der Entwicklung zurückgeblieben war" (ebd.: 24). Dass Gerhard sich zum anthropologischen Ort hingezogen fühlt, kommt gleichfalls in seiner Wertschätzung des Etablissements von Madame Stephanie zum Ausdruck: "Die Sessel waren mit rotem Stoff bezogen; das teilte dem Raum eine warme, vertraute Stimmung mit. Gerhard war dafür leicht empfänglich; er fühlte ein Wohlbehagen an diesem Ort" (ebd.: 23).


V Die Parallelexistenz von Orten und Nicht-Orten

Gerhards Reflexion über ein Theater widerspiegelt die Parallelexistenz von Orten und Nicht-Orten:

Gerhard entsann sich dieser Bühne – sie zählte zu den absonderlichen Orten, die zu besuchen der Fremde nicht versäumt. Man mußte sie gesehen haben, ähnlich wie die Katakomben, die Leichenhalle auf der Seine-Insel oder den großen Friedhof des Père Lachaise. Wie diese war er eine düstere Stätte; man führte nur makabre Stücke auf. Sie zweigten vom Stil des alten Kasperle-Theaters ab und münzten in marionettenhafter Starre grausige Motive aus. Im allgemeinen reizte der Besuch nicht zur Wiederholung, doch hatte sich um den Ort ein Publikum gebildet, das dessen Eigenart entsprach. […] Dazu kam noch die Blasphemie, die darin lag, daß das Theater in der Kapelle eines aufgelassenen Klosters eingerichtet und das Eigentümliche des Ortes kaum verändert worden war. Man konnte meinen, im Chorgestühl einer Schwarzen Messe beizuwohnen, die böse Mönche feierten (Jünger 1985: 9f.).




PhiN 72/2015: 32


Historisch durchaus verortet, gemahnt das mittelalterlich-klerikale Ambiente an den beunruhigenden Text Die Klosterkirche. Gleichwohl unterscheidet sich der Theaterraum durch einen expliziten thematischen Aktualitätsbezug von dem Traumprotokoll des Abenteuerlichen Herzens (erste Fassung 1929). Der Schock, den die Moderne auslöst, war bereits in dieser verdichteten Prosa artikuliert worden. In der Klosterkirche wird ein Mönch einer vermutlich verbotenen Glaubensrichtung von anderen Mönchen im Chorgestühl bestialisch gefoltert und ermordet. Der Akzent lag im Jahre 1929 zwar auf beunruhigenden und angstauslösenden Traumprotokollen vor oftmals mittelalterlicher Kulisse, doch das Phänomen der modernen Großstadt wurde bereits angeschnitten: "An den Gesichtern und besonders an den Farben der Großstadt läßt sich Entsprechendes beobachten. Die Hölle selbst könnte nicht mit giftigeren Prunklichtern ausgestattet sein" (Jünger 1961: 86). Der urbane Raum wurde als bedrohlich und widernatürlich empfunden: "So lebt der Einzelne inmitten der Millionenstädte der Zeit in einer eisigen Isolation" (ebd.: 148).

Die von den zeitgenössischen Medien ins Rampenlicht gerückten, von Jack the Ripper begangenen Morde werden in dem Pariser Theater thematisiert. Gerhard identifiziert den Massenmörder mit der Urbanität der modernen Großstadt, die er als Nicht-Ort charakterisiert: "In allen großen Städten hausen Geister, die der Ruf der Unterwelten lockt. Da war es kein Wunder, daß diese Bühne, auf der es kein Stück gab, in dem nicht Blut gezeigt wurde, sich der Sensation bemächtigte. Gerhard ging schnell vorüber; es war kein Ort für ihn" (Jünger 1985: 11). Gerhard wird zum Passagier eines Transitraumes und flieht vor dem Nicht-Ort.

Die Parallelexistenz von Orten und Nicht-Orten kennzeichnet gleichermaßen das Etablissement Madame Stephanies, das für den Schauspieler Coquelin, Ensemblemitglied des obigen Theaters, Schauplatz erotischer Begegnungen ist:

Hier pflegten die Abenteuer des jungen Mannes ihren Höhepunkt zu finden, der meist auch der Schlußpunkt war. Sie führten nicht wie die Stücke, in denen er auftrat, zu Wiederholungen und Jubiläen, sondern oft genug kaum über die Premiere hinaus. Daraus erklärte sich die Wahl des Ortes – einer unpersönlichen Absteige in luxuriöser Ausführung.

Dieses Viertel hatte seinen besonderen Reiz, ehe es durch die großen Boulevards zerstückt wurde. Hinter der Kirche, die eher einem heidnischen Tempel glich, hatte sich noch etwas davon erhalten wie auf einem Inselchen. Der große Verkehr floß daran vorüber; Ateliers von Handwerkern und Geschäfte ohne Auslagen erfreuten sich einer kleinen, doch treuen Klientel. Dazu kamen die Nähe des Marktes und seine belebende Kraft. Für unauffällige Begegnungen war hier der geeignete Ort (Jünger 1985: 49f.).

Das erotische Verhalten Coquelins korrespondiert mit der Flüchtigkeit der Nicht-Orte. An ihm lässt sich die Transformation der Erotik in einen Transitraum aufzeigen, dem – wie Augé unterstreicht – jegliche Erinnerung abgeht: "Die elegante Unpersönlichkeit des Ortes hätte den jungen Coquelin nicht zu stören brauchen, denn er war das Muster des unpersönlichen Liebhabers. Das war einer der Gründe für die Flüchtigkeit seiner Abenteuer; er wirkte wie eine Frucht, die mit höchst angenehmem Geschmack auf der Zunge zergeht, doch kaum Erinnerung hinterlässt" (ebd.: 49f.).




PhiN 72/2015: 33


Das Stundenhotel als Transitraum: Mag die "Wahl des Ortes" als einer "unpersönlichen Absteige" auch auf den Nicht-Ort verweisen, so war das Etablissement Madame Stephanies jedoch bislang in einem Viertel historischer Kontinuität verortet gewesen. Dieses Viertel wurde mittlerweile durch Verkehrsadern zerstückelt, wie sie für die Großstadt typisch sind. Ein im Sinne Augés exemplarischer Nicht-Ort entstand. Vor seiner weiteren, beschleunigten Ausdehnung haben sich einzelne 'Reservate' urbaner Örtlichkeit erhalten, in denen Quartiere wie das Liebesnest Stephanies noch existieren. Dass die zwielichtige Stephanie die Funktion einer "Bewahrerin" (Jünger 1985: 58) einnimmt, wird an der Beschreibung ihres Etablissements erkennbar, denn "organisch war die Hausordnung auch insofern, als sie nicht auf Vorschriften, sondern auf langer Gewohnheit beruhte" (ebd.). "Angesichts der brutalen Veränderung des Raumes" (ebd.: 110) im ausklingenden 19. Jahrhundert, die durch den von Kargané, dem Gatten Irenes, verübten Mord spürbar wird, muss Stephanie ihr bisher florierendes Unternehmen schließen.

In Anbetracht des Mordes an einer Schauspielerin im Etablissement Madame Stephanies offenbart sich das Denken und Fühlen der Großstadtmenschen in der Moderne: "Der ungewöhnliche Insult im Rahmen einer Großstadt und ihrer Hochkultur erklärte die allgemeine Aufregung. Die Reaktion war zugleich heftig und primitiv. Die Ermordete war keine Frau mehr, wie man ihr in der Stadt zu Tausenden begegnet, und ihr Mörder kein beliebiger Mann. Doch wiederum war es so, daß jede Frau das Opfer hätte sein können und daß jeder Mann verdächtig war. Die Menschen betrachteten sich mit Angst und Misstrauen" (ebd.: 114). Die Individuen sind beliebig und austauschbar geworden. Feste Referenzpunkte scheinen in der Gesellschaft der Moderne nicht mehr fixierbar zu sein. Als Mörder kommt daher auch "ein Anfänger, ein Anonymer unter den Millionen einer Großstadt" (ebd.: 116) in Frage. Aus der Transformation der Stadt in einen Nicht-Ort resultiert der Mord an der falschen Frau. Der Täter Kargané "kannte die Zeit und den Ort" (ebd.: 165) und war über die Verabredung seiner Gattin mit Gerhard im Bilde, doch "die beiden Frauen sind sich sehr ähnlich in Geschmack und Stimmung, auch in der Wahl ihrer Liebhaber. Und dann die gleiche Situation, nicht nur von Ort und Stunde – kein Wunder, daß auch der Kapitän der Täuschung unterlag" (ebd.: 164).

Karganés "Blick fiel durch das Fenster auf das Gerippe des Eiffelturmes, der sich dem Abschluß näherte" (ebd.: 43). Der Eiffelturm wird zum Signum einer beschleunigten Moderne. Der Gatte Irenes präsentiert sich als ein Alter Ego Ernst Jüngers, dessen Frühwerk an der Illusion des 'heroischen' Kampfes Mann gegen Mann auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, des ersten von moderner Waffentechnik geprägten Krieges, festgehalten hatte, während sein Spätwerk bestrebt ist, sich der Macht der Technik zu widersetzen: "Den Siegeszug der universalen Plattheit hielt keiner mehr auf. Kargané war der Meinung, daß er hundert Jahre zu spät geboren sei. Mit den Segelschiffen ging etwas Unwiederbringliches dahin. Er haßte die Ingenieure, die jetzt heraufkamen, haßte den Suezkanal und die Dampfer, obwohl er auf Panzerschiffen kommandiert hatte und eine gute Kenntnis ihrer Taktik besaß. Seit Tegetthoff war es mit der Begegnung von Männern auf dem Meere vorbei" (ebd.: 42f.). Als rastloser Reisender befindet sich Kargané auf der permanenten Suche nach Orten, antizipiert indes charakteristische Verhaltensweisen von Reisenden im Zeitalter des Massentourismus des 20. Jahrhunderts, die während ihrer Jagd nach kultureller Authentizität de facto häufig von Nicht-Ort zu Nicht-Ort reisen:




PhiN 72/2015: 34


"Er liebte die Veränderung der Orte und Hintergründe, die Reisen an die Ränder der bekannten Welt, die Abenteuer in fremden Häfen, in denen er unter anderem Namen lebte, die niedere und die erlesene Ausschweifung. […] er kannte die Grenzen, bis an die zu gehen im Rahmen des Ortes und der Lage möglich war" (ebd.: 28). Das in den späten Tagebüchern Siebzig verweht (1980–1997) behandelte Thema des Reisens mit dem ausschließlichen Ziel des Auffindens von Orten – den noch nicht von der Zivilisation zerstörten Lebenswelten – findet in der Figur Karganés eine konkrete fiktionale Ausgestaltung.

Gerhard war "weder zeitlich noch örtlich orientiert" (ebd.: 120). Der modernen Urbanität wird die Forderung Karganés nach einem Duell mit Gerhard gegenübergestellt. Das Duell gehört der vormodernen Welt an, wie sie in der Wahl des konkreten Ortes noch einmal zum Ausdruck kommt: "Bei der knappen Frist kam nur ein möglichst nahe gelegener Ort in Frage – am besten die Alte Mühle unweit des Fort Montrouge. Sie war verlassen und Eingeweihten als klassischer Ort solcher Begegnungen bekannt" (Jünger 1985: 152). Karganés Insistieren auf einem Duell entspricht zwar den historisch verorteten Konventionen, doch in der Moderne ist das Duell zum Scheitern verurteilt. Er verübt Suizid. Im Werkzusammenhang wirft das Scheitern Karganés als Mörder einen erheblichen ironischen Schatten auf das kriegerische Frühwerk Jüngers der Jahre 1920–1925. Jegliche Bemühungen um eine gesteigerte Lebensintensität auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs erscheinen nun als ein Irrweg, denn bereits im Wendejahr 1888 war die Verwirklichung des 'Heroismus' unmöglich.


VI Fazit

Ein zentrales Anliegen des vorliegenden Beitrags ist, einen Fixpunkt im späten Erzählwerk Ernst Jüngers zu benennen, der Widersprüche seiner späten Produktion aufzulösen vermag. Das Problemfeld der Orte und Nicht-Orte verweist nicht nur auf melancholische oder nostalgische Tendenzen, sondern verleiht dem Werk Jüngers neue Impulse, die über die Konstatierung eines thematischen Schwerpunkts des Endes der Geschichte hinausgehen und zu erläutern vermögen, in welchem Maße die Verwirklichung der individuellen Freiheit räumlichen Veränderungen unterliegt. Die Frage der geistigen Zugehörigkeit stellt sich nunmehr nicht im politischen Raum, sondern auf dem anthropologischen Feld. Geborgenheit und Kontinuität erweisen sich als vordringliche Orientierungspunkte in einer chaotisch anmutenden Welt. In Baroh und Gerhard wird ein Selbstbehauptungswille wider die Moderne bzw. 'Übermoderne' und ihre Auflösungserscheinungen ersichtlich. Beide sind Repräsentanten eines untergehenden Ordnungsgefüges, die sich gegen das Gefangensein unter den Gesetzen einer neuen Epoche auflehnen. Die anarchische Auflösung aller Bindungen erscheint ihnen unzumutbar. Das vorherrschende Bewusstsein einer sich jenseits aller Traditionswerte positionierenden Gesellschaft lässt sie in private Revolten fliehen. Private Schutzräume sind indes nicht mehr vorhanden. Gegenwelten zum Sinndefizit  oder gar 'Urbilder' sind nicht auffindbar. Die Gesetze der neuen Zeit beherrschen bereits die sich schließlich in Nicht-Orte transformierenden Räume. Das Leben in 'Orten' ohne Vergangenheit löst in Baroh und Gerhard das Gefühl des Unbehaustseins aus.  Modernität manifestiert sich als die Zerstörung einer Magie, die Jünger vor 1888 lokalisiert. Seine Erzählungen sind ein Seismograph für die Dominanz der Nicht-Orte. Für Jünger ist die Literatur allerdings ein geschichtlich erfüllter Ort. Das Problem Barohs scheint stets dann abgemildert zu sein, wenn er literarische Gespräche mit Kornfeld führt. Literatur figuriert als utopischer Ort, weil in ihr das Unbehaustsein in der Lebenswelt aufgehoben wird.




PhiN 72/2015: 35


Der kulturelle und soziale Transformationsprozess, der den Ort in einen Nicht-Ort umwandelt, erweist sich als übergeordneter Kontext in den späten Erzählungen Jüngers. Dass die bereits in den 1980erJahren von Jünger literarisch vorbegrifflich gestellte Prognose der Dominanz von Nicht-Orten nach der Jahrtausendwende hochgradig aktuell und inzwischen in einer wissenschaftlich terminologischen Form formuliert ist, belegt die deutsche Neuausgabe von Augés Hauptwerk. Dass die 2010 publizierte und von Augé mit einem neuen Nachwort eingeleitete Edition lediglich mit dem Titel Nicht-Orte versehen ist, macht die anthropologische Akzentverschiebung seit dem Titel Orte und Nicht-Orte in der ersten Hälfte der 1990er Jahre sichtbar.

Beide Erzählungen Jüngers legen ein Bekenntnis zur Qualität des Ortes ab, thematisieren allerdings die Erfahrung der Verselbständigung der Technik in einer immer bedrohlicher wirkenden Moderne und 'Übermoderne'. Beider Konklusion lautet, dass das Vergangene – die Orte – nicht zurück gewonnen werden kann. Kulturelle Kontinuität ist nicht mehr etablierbar, auch nicht durch die in den 1920er und 1930er Jahren von Jünger propagierte Beschleunigung der Moderne im Hinblick auf einen Umschlagpunkt, der das destruktive Potential der Technik in eine Positivität transformiert, die das Ursprüngliche und damit die anthropologischen Orte integrieren sollte. Die "alten Formen" nehmen in einem solchen Ausmaß an Bedeutung ab, dass sie kaum noch zu zeigen vermögen, "was wir nicht mehr sind" (Augé 1994b: 34).


Bibliographie

Arnold, Heinz Ludwig (1990): Krieger, Waldgänger, Anarch. Versuch über Ernst Jünger. Göttingen: Wallstein.

Augé, Marc (1994a): "Die Sinnkrise der Gegenwart", in: Kuhlmann, Andreas (Hg.): Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne. Frankfurt/M: Fischer Taschenbuchverlag, 33–47.

Augé, Marc (1994b): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt/M: S. Fischer.

Augé, Marc (2000): "Orte und Nicht-Orte der Stadt", in: Bott, Helmut, Hubig, Christoph, Pesch, Franz & Schröder, Gerhart (Hg.): Stadt und Kommunikation im digitalen Zeitalter. Frankfurt/M: Campus, 177–187.

Augé, Marc (2010): Nicht-Orte. München: C.H. Beck.

Dietka, Norbert (2011): "Ernst-Jünger-Rezeption 2005-2010", in: Les Carnets. Ernst Jünger: Werke und Korrespondenzen. Ernst Jünger im Dialog 11, 59–93.

Gauger, Klaus (1999): "Die Weltschau des Anarchen. Zu den utopischen Romanen Ernst Jüngers", in: Revista de Filología Alemana 7, 139–163.

Jünger, Ernst (1961): Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht, in: Werke. Stuttgart: Ernst Klett 1961, Bd. 7, 25–176.

Jünger, Ernst (1983): Aladins Problem. Stuttgart: Klett-Cotta.




PhiN 72/2015: 36


Jünger, Ernst (1985): Eine gefährliche Begegnung. Stuttgart: Klett-Cotta.

Meyer, Martin (1990): Ernst Jünger. München: Carl Hanser.

Murswiek, Dietrich (1979): "Der Anarch und der Anarchist. Die Freiheit des Einzelnen in Ernst Jüngers Eumeswil", in: Deutsche Studien 17.67, 282–294.

Rutschky, Michael (1978): "Der alte Mann und das Post-Histoire", in: Frankfurter Hefte 33.9, 65–67.

Schote, Joachim (1992): "Ernst Jüngers Roman Eumeswil: Die Theorie der Posthistoire und das Scheitern des Anarchen", in: AUGIAS 43, 28–48.

Schwilk, Heimo (1995): "Der Traum des Anarchen", in: Figal, Günter & Schwilk, Heimo (Hg.): Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten. Stuttgart: Klett-Cotta, 269–277.

Seferens, Horst (1998): "Leute von übermorgen und von vorgestern". Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945. Bodenheim: Philo Verlagsgesellschaft.