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Jasmin Wrobel (LAI, FU Berlin)



Nina Preyer (2013): Severo Sarduys Zeichenkosmos. Theorie und Praxis einer Romanpoetik des neobarroco cubano. Heidelberg: Universitätsverlag Winter.



Der neobarroco bezeichnet neben dem real maravilloso, dem realismo mágico und dem realismo fantástico einen der bedeutendsten diskursiven Leitbegriffe zur Charakterisierung moderner lateinamerikanischer Literatur. Theoretisiert wurde der Begriff in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere von den Kubanern Alejo Carpentier, José Lezama Lima und Severo Sarduy.

Ausgangspunkt von Sarduys theoretischen Überlegungen ist die Annahme einer epistemologischen Solidarität zwischen geometrischer und rhetorischer Figur, die er auf Kosmologie und Kunst überträgt. Die Erkenntnis des deutschen Astronomen und Naturphilosophen Johannes Kepler, dass sich die Planeten nicht in kreis-, sondern ellipsenförmigen Bahnen um zwei Zentren, nämlich die Sonne und deren eigenen Brennpunkt bewegen, findet Sarduy in der barocken Weltsicht des 17. und frühen 18. Jahrhunderts widergespiegelt: Die Dezentralisierung bzw. Duplikation des Zentrums steht für einen Ordnungsverlust, aber noch keineswegs für die Auflösung des harmonischen Weltbildes und entspricht dem hermetisch-literarischen Prinzip eines versteckten Zentrums, eines "significante oculto" (Sarduy 1974: 70). Der neobarroco reflektiert nach Sarduy hingegen die komplette Auflösung dieser Harmonie, den Bruch mit der Homogenität und den Verlust von Logos als absoluter Größe. Dabei dient ihm die 1927 durch George Lemaître begründete Urknalltheorie als Illustrationsmodell.

Preyer geht es in ihrer mit "summa cum laude" bewerteten Dissertation zunächst um eine Unterscheidung zwischen dem neobarroco als (bisweilen unpräzise gebrauchtem) Leitbegriff zur Beschreibung der Literaturen Hispanoamerikas und einer von Sarduy begründeten spezifischeren Poetik, die die Autorin als neobarroco cubano bezeichnet und deren narrative Strategien und Methoden sie im ersten Teil ("Die Romanpoetik des neobarroco cubano in der Theorie") ihrer grob zweigliedrigen Arbeit herausarbeitet. Dabei stützt sie sich insbesondere auf Sarduys pragmatische Schrift El barroco y el neobarroco von 1972 sowie auf verschiedene weitere Essays, in denen Sarduy sein Barock- bzw. "Neobarock"-Konzept behandelt und erarbeitet.1




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Gleichzeitig betrachtet Preyer, indem sie zu Recht die eklektizistische Vorgehensweise des kubanischen Autors und Kritikers hervorhebt (12), den Einfluss des französischen Poststrukturalismus auf Sarduy bei seiner Konzeption des neobarroco. Erklärtes Ziel der Autorin ist es dabei, die "Lücke zwischen Arbeiten zu Tel Quel, dem Poststrukturalismus und der Psychoanalyse Lacans, in denen Sarduy nur marginal erwähnt wird und solchen über das literarische Werk von Sarduy, in denen Tel Quel, der Poststrukturalismus und die Psychoanalyse Lacans wiederum nur eine untergeordnete Rolle spielen, zu schließen" (11). Sarduy begann 1960 ein Kunststudium an der École du Louvre in Paris, wo er bis zu seinem Tode 1993 leben sollte. In dieser Zeit knüpfte er bekanntlich sehr enge Kontakte zu den Mitgliedern von Tel Quel, unter anderem zu seinem späteren Lebensgefährten François Wahl und zu Roland Barthes, der auch ein Vorwort zu Sarduys Romandebüt De donde son los cantantes (1967) schrieb. Preyer bezieht in ihre Überlegungen hinsichtlich einer "Neobarock"-Poetik auch Sarduys großes Interesse an der Malerei und den bildenden Künsten insgesamt mit ein, ausgehend von dessen Annahme einer epistemologischen Solidarität zwischen Kunst und Kosmologie. Anhand Sarduys Essay La simulación (1982) geht sie zudem der Frage nach, "inwieweit Sarduy sein Konzept des neobarroco um ein spezifisches Körperkonzept erweitert" (12), ein Aspekt, der in der Tat keinesfalls außer Acht gelassen werden darf.

Auf der Grundlage des essayistischen Werks Sarduys ermittelt die Autorin dezentralisierende Mechanismen, die sie einerseits auf der Zeichenebene und auf der Textoberfläche verordnet und darüber hinaus als Strategien zur Erschaffung von Texträumen herausstellt. Auf der Zeichenebene benennt sie die sustitución (Metaphorisierung), die proliferación (Ersatz eines Signifikanten durch eine Signifikantenkette) und die condensación (Fusion zweier Signifikanten zu einem neuartigen dritten Signifikanten). Alle drei Methoden dienen der starken "Verkünstlichung" des Textes (artificialización). Auf der Textoberfläche benennt Preyer die von Bachtin, Kristeva und Barthes geprägten Konzepte der dialogicidad, die polifonía, die parodía, die carnevalización und die intertextualidad. Bezüglich der Mechanismen, die eine Verräumlichung und Dimensionierung des Textes begünstigen, werden metaficción, anagrama und palíndrome genannt. Des Weiteren stellt die Autorin drei Motive, die für die Romanpoetik des neobarroco cubano gleichermaßen paradigmatisch seien, heraus: den erotismo, den espejo und die revolución, in der Tat drei Motive, die sich durch eine dezentralisierende Wirkungsweise charakterisieren. Wichtig ist hier vor allem, dass die Autorin auch Sarduys Körperkonzept in ihre Überlegungen mit einbezieht und den in dessen Romanen so präsenten Transvestismus als Inkorporation dieses Konzeptes erkennt: Sarduy versteht Körper wie Text als "referenzlose Zeichen und so als Einschreibefläche einer Vielzahl von Bedeutungen" (322). Alle von Preyer herausgearbeiteten Mechanismen ermöglichen so durch ihre dezentralisierende Funktion eine ideologiekritische Lesart "neobarocker" Texte.




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Nachdem die Autorin sich im ersten Teil ihrer Arbeit ein Analyse-Instrumentarium erarbeitet hat, geht es ihr im zweiten Teil ("Die Romanpoetik des neobarroco cubano in der Praxis") um eine konkrete Untersuchung der Umsetzung der oben genannten Mechanismen in kubanischen Romanen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Ihr Textkorpus umfasst dabei Sarduys letzten Roman Los pájaros de la playa, den er kurz vor seinem Tod 1993 fertigstellte und der autobiografische Züge trägt, Reinaldo Arenas' El color del verano o nuevo "Jardín de las Delícias" (1991), Guillermo Cabrera Infantes La Habana para un infante difunto (1979), Virgilio Piñeras La carne de René (1952 u. 1985) und José Lezama Limas Paradiso (1966) und Oppiano Licario (1977).

Im Kapitel zu Sarduys postum veröffentlichtem Roman identifiziert die Autorin unter anderem die AIDS-Erkrankung als eines der zentralen Motive und untersucht dieses in Beziehung zu den zuvor herausgearbeiteten "neobarocken" Erzählstrategien bzw. Methoden der artificialización des kubanischen Autors, der selbst noch vor der Veröffentlichung von Los pájaros de la playa an den Folgen seiner AIDS-Erkrankung starb. Preyer zeigt hier beispielsweise auf, inwiefern in dem Roman eine proliferación stattfindet, wenn die Krankheit nicht beim Namen genannt wird, sondern vielmehr mit Metonymien oder Umschreibungen wie "el mal", "el cansancio" und "la enfermedad de los mexicanos" umgangen wird (135). Mit Blick auf die verschiedenen Lesarten des Textes legt sie zudem die Mechanismen der Dezentrierung im Roman offen und erläutert unter Bezugnahme auf die Figur des Cosmólogo, inwieweit die Krankheit auch in ihrer Eigenschaft als Metapher des Universums (sustitución) zu einem Motiv der Dezentralisierung im Roman wird. Vermieden wird auch die direkte Benennung des Handlungsortes (ein sidatorio auf Kuba), der aber ebenfalls durch den Mechanismus der proliferación im Text "überpräsent" scheint (323). Zusätzlich macht die fragmentarische Romanstruktur eine lineare Lesart des Textes unmöglich.

Im Folgenden unterzieht die Autorin auch die anderen oben genannten Romane einer eingehenden Untersuchung, indem sie versucht, die Strategien und Mechanismen der von ihr herausgearbeiteten Romanpoetik in den Texten zu identifizieren und entsprechend einzuordnen. Dabei bezieht sie die Poetiken der jeweiligen Autoren in ihre Überlegungen mit ein und gleicht sie mit der auf der Grundlage von Sarduys essayistischem Werk erarbeiteten Romanpoetik des neobarroco cubano ab. Parallelen bzw. Anwendungsmöglichkeiten findet sie in den Romanen von Arenas und Cabrera Infante (insbesondere in Bezug auf das den Texten inhärente ideologiekritische Potenzial), für Piñera schließt sie einen Einfluss durch die Poetik des neobarroco cubano aus. In Bezug auf Lezama Lima resümiert Preyer am Ende ihrer Analyse, dass der Reichtum an Metaphern und Metonymien in dessen Werk eher von dem Versuch herrührt, "mit Hilfe von Tropen eine plastische Vision der Zusammenhangskraft der lateinamerikanischen Kultur zu erschaffen" (326), während Sarduy die ideologiekritische Form der Textgestaltung und deren Mechanismen der Dezentrierung verschiedenen poststrukturalistischen Theorien entlehnt. Allerdings lässt sich, so die Autorin, Sarduys stark von seinem Kontakt zur Tel Quel-Gruppe geprägter Barockbegriff dennoch in Relation zu Lezama Limas Konzeption einer contraconquista sehen, "einer Einverleibung fremder kultureller Merkmale" (329; in dieser Idee kann man ohne weiteres eine Parallele zu der brasilianischen Antropofagia sehen).




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Obwohl zum neobarroco nicht wenige Arbeiten vorliegen, beweist Preyer mit ihrer Studie, wie wichtig eine spezifischere Auseinandersetzung mit dem häufig unpräzise verwendeten Begriff ist. Die Autorin legt dabei nach Arabella Paulys Studie Neobarroco: zur Wesensbestimmung Lateinamerikas und seiner Literatur von 1993 die zweite deutschsprachige Monografie zum lateinamerikanischen 'Neobarock' vor. Während es Pauly in ihrer Arbeit mehr um eine theoretische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ansätzen Carpentiers, Lezama Limas und Sarduys geht, konzentriert sich Preyer weitgehend auf Sarduys theoretisches Werk, wobei sie Lezama Lima als 'Mentor' Sarduys am Ende ihrer Arbeit ebenfalls einige Reflexionen widmet; dass sie Carpentier, dessen Barockbegriff tatsächlich in einem etwas anderen Kontext zu sehen ist, in ihrer Studie nicht berücksichtigt, ist nachvollziehbar. Insgesamt tut die Autorin gut daran, sich ganz spezifisch mit Sarduy, seinen Lebensumständen und seiner 'intellektuellen Umgebung' zu beschäftigen. Dass sie den neobarroco abschließend als ein spezifisches Konzept von Sarduy definiert, kann allerdings in Hinblick darauf, dass der Begriff schon vorher von dem brasilianischen konkreten Dichter Haroldo de Campos verwendet wird (s. Anmerkung 1), hinterfragt werden.2 Auch die Bezeichnung der erarbeiteten Romanpoetik als "neobarroco cubano" ist in Bezug auf die Analyseergebnisse der Autorin nicht völlig treffend, handelt es sich doch um eine recht spezifische Poetik, die Preyer letztlich nur dem Sarduy'schen Werk zuordnet. Insgesamt ist ihre Studie aber in der Hinsicht sehr hilfreich und innovativ, als sie die ausschlaggebenden Pariser Einflüsse auf Sarduys Werk identifiziert und kontextualisiert. Zudem zeigt sie, dass die zuvor erarbeiteten Analysekategorien sich für eine konkrete Textarbeit eignen und dass sich zumindest in den Fällen Arenas und Cabrera Infantes einige bedeutsame Parallelen zu Sarduys Werk finden.

Zum Schluss liefert Preyer außerdem eine von ihr angefertigte Übersetzung (331–352) von Sarduys paradigmatischer Schrift El barroco y el neobarroco, die bisher noch nicht ins Deutsche übertragen wurde.


Bibliografie

Campos, Haroldo de (2006): "A obra de arte aberta", in: Campos, Augusto de / Pignatari, Décio / Campos, Haroldo de (Hg.): Teoria da poesia concreta. Textos críticos e manifestos 1950–1960. São Paulo: Ateliê Editorial, S. 49–53.

Sarduy, Severo (1974): Barroco. Buenos Aires: Ed. Sudamericana.


Anmerkungen

1 Anzumerken wäre hier allerdings, dass es nicht Severo Sarduy ist, der den Begriff des neobarroco 1972 in diesem Kontext prägt; er wurde bereits 1955 von dem brasilianischen konkreten Dichter Haroldo de Campos in einem kurzen Essay ("A obra de arte aberta") verwendet, um den "barroco moderno" zu bezeichnen (de Campos 2006: 53). Sarduy verweist zudem in El barroco y el neobarroco auf de Campos' polyglottes Hauptwerk Galáxias (work in progress, 1963–1976).

2 Haroldo de Campos und Severo Sarduy waren gut miteinander bekannt und haben auch ihre Werke gegenseitig kommentiert. Der brasilianische konkrete Dichter hatte zudem auch Kontakt zu den Mitgliedern von Tel Quel, weshalb sich in den Poetiken beider Autoren viele Parallelen zeigen. Hier wäre meiner Ansicht nach (trotz des fehlenden kubanischen Kontextes) eine komparatistische, interamerikanische Analyse lohnenswert.