PhiN 70/2014: 146



Marina Ortrud Hertrampf (Passau / Regensburg)



Je sors enfin du Bois de la Gruerie: Jacques Darras' lyrische Stimme zum Ersten Weltkrieg



Französische Gegenwartslyrik zum Ersten Weltkrieg? Ein Jahrhundert nach Ausbruch des Krieges scheint dies kaum wahrscheinlich, erwartet man von lyrischen Auseinandersetzungen mit dem Krieg doch subjektiven Erfahrungs- und Gefühlsausdruck. Doch genau dies gelingt dem in der Vergangenheit bereits mehrfach ausgezeichneten (Prix Apollinaire 2004, Grand Prix de Poésie de l'Académie Française 2006) Gegenwartsdichter Jacques Darras (Jahrgang 1939) mit seinem 'Gedächtnisgedicht' Je sors enfin du Bois de la Gruerie (2014).

Wie der paratextuelle Zusatz "Poème cursif/discursif" ankündigt, ist das knapp über 200-seitige Langgedicht eine äußerst ungewöhnliche Mischung aus subjektiver Prosadichtung, literaturhistorischen Reflexionen und Leserappellen (diskursive Elemente) einerseits und z.T. recht umfassenden durch Kursivdruck markierten Zitaten von Künstlern des Ersten Weltkrieges (kursive Elemente) andererseits. Das Gedicht ist damit beides zugleich, individuelle und kollektive Geschichtsaufarbeitung. Eng ineinander verwoben präsentiert Darras seine sehr persönliche Aufarbeitung der seit über einer Generation tabuisierten Geschichte seiner Familie mit einem Panorama literarischer Verarbeitungen des Ersten Weltkrieges. Darras ver-textet dabei literarische wie testimoniale Zeitzeugenberichte (so etwa Tagebuchauszüge des Blauer-Reiter-Malers Franz Marc) mit subjektiven Erinnerungen und Reflexionen zu einem sprachlich wie stilistisch eigenwillig komponierten, poetischen Ganzen.

Stilistisch auffällig ist der beständige Wechsel zwischen ernst-nachdenklichem, betroffen-anklagendem und verspielt-ironischem Ton. Letzterer resultiert vor allem aus den zahlreichen Wortspielen, assoziativen Wortreihungen und Neologismen, mit denen Darras der Dada-Ästhetik eine Ehre zu erweisen scheint:

Oses-tu mettre en perspective la Guerre avec Dada ?
Oui
Absolument oui
À jamais oui
Oui Da
Da
Yes
Ja
Car la Guerre est carnaval
Car la Guerre est aval donné à Carne la Chair
Dans ce qu'elle a de plus triste de plus révoltant
Da
Oui.
(Darras 2014: 118)




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Ähnlich wirkt eine Reihe von selbstironischen, metaliterarischen Äußerungen, etwa wenn es nach einem ganzen Kapitel von Textauszügen von Sigmund Freud, Romain Rolland und Stefan Zweig heißt:

Nous avons quitté la poésie avez-vous vu
Sommes passés à italique la prose
Zweig Rolland ni Freud ne sont poètes
Ce qu'on appellerait poètes
Sauf par abus de langage
Mais penseurs de la conscience lucide veillant l'humanité
Infirmiers de grande souffrance guerrière en l'occurrence
(Darras 2014: 136)

Ausgangspunkt von Darras' poetischer Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg ist (wie auch bei so vielen zeitgenössischen Gedächtnisromanen) eine Familienphotographie, die in diesem Fall seinen Großvater Édouard Darras zeigt, der 1914 im Bois de la Gruerie als junger Soldat fiel:

Pourquoi croyez-vous que 1914 m'importe ?
Pourquoi croyez-vous que 1914 m'est fatidique à ce point ?
Parce que la date dit le destin, fatum dicere.
Parce que j'ai sous les yeux photographie d'une couple elle assise lui debout devant une haie.
Frêle lui c'est, dirait-on, mon père.
C'est le sien.
Taille fine, seins ronds sous la robe, fossettes aux joues, c'est, dirait-on, ma sœur.
Sa petite-fille.
Le photographe les fait lire á même un livre ouvert.
Ce n'est pas le bon livre !
Très vite la vie va se renfermer devant eux.
Leur éclater au visage aux yeux aux oreilles.
La vie la vi-o-lence (diphtonguez bien)
La vie dévoyée, dévoyellée – la mort.
Après cette photo, plus rien !
(Darras 2014: 98)

In Form eines autobiographischen Berichts über seine Reise in die eigene und kollektive Vergangenheit, bringt das lyrische Ich alias Darras seine emotionale Verstörtheit zum Ausdruck, die der Besuch der Massengrabfelder in ihm auslöste:

J'ai dix mille morts de plus en moi depuis ce 31 Janvier
Je vous laisse Verdun je prends les anonymes
Je vais les ramener avec moi à Orry
Ne m'aidez pas à les porter ils sont légers
C'est l'avantage avec les morts collectifs leur poids s'allège
(Darras 2014: 106)




PhiN 70/2014: 148


Die Vororterfahrung auf den Schlachtfeldern von 1914 ermöglicht Darras die späte Aufarbeitung eines viel zu lange totgeschwiegenen Kapitels individueller und kollektiver Familiengeschichte(n). Die Konfrontation mit dem Ort des Sterbens seines Großvaters und so vieler anderer Menschen füllt Leerstellen des Familiengedächtnisses und lässt ihn in einer seltsamen Mischform aus privatem und kollektivem Gedächtnis endlich einen Weg aus dem Wald des Schweigens und Verdrängens finden – so erklärt sich denn auch der Titel des Gedichtes: "Je sors enfin du Bois de la Gruerie". Zugleich schließt das dichtende lyrische Ich den Leser in seine Erkenntniserfahrung mit ein und fordert diesen damit gleichsam dazu auf, sich auch selbst der Vergangenheit zu stellen:

Vos souvenirs deviennent mes souvenirs mémoire unanime anonyme.
Vous moi entrons dans les allées d'un vaste cimetière nécropole.
Appelez-le roman familial ou national.
J'arrive de mon côté avec l'outil-poème, il est tard, je suis jardinier des vides.
(Darras 2014: 99)

Die Beschäftigung mit dem Grauen des Krieges führt Darras über das persönliche und kollektive Erinnern des Leidens und Sterbens hinaus zu einer mal poetischen mal quasi-literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den literarischen Reaktionen deutscher, französischer und englischer Kriegsdichter. Über weite Strecken wirkt das Buch wie eine Anthologie literarischer Zeugnisse aus dem Ersten Weltkrieg. So werden neben zahlreichen französischen Autoren wie etwa Guillaume Apollinaire, Henri Barbusse, André Breton, Louis-Ferdinand Céline, Blaise Cendrars, Roland Dorgelès, Yvan Goll, Pierre-Jean Jouve und Charles Péguy auch deutsche Autoren wie beispielsweise Hugo Ball, Ernst Jünger und Erich Maria Remarque zitiert. Ein ganzes Kapitel der insgesamt 15 Kapitel des 'Gedichtbuches' widmet der Anglist Darras den englischen War Poets, insbesondere Wilfried Owen, Siegfried Sassoon und Edward Thomas. Bei seinem literaturgeschichtlichen Panorama ist es Darras ganz offensichtlich ein großes Anliegen, die im akademischen Betrieb Frankreichs oft stiefkindlich behandelten pazifistischen Schriften der Kriegszeit wieder sichtbar zu machen. Neben der intensiven Auseinandersetzung mit dem wie er schreibt "trio d'intelligence majeur" (Darras 2014: 125), bestehend aus Romain Rolland, Stefan Zweig und Sigmund Freud, das für ihn stellvertretend für den unerschrockenen Einsatz für ein friedliches Europa voller Menschlichkeit steht, propagiert der Literaturwissenschaftler eine Neurezeption von fast vergessenen Anti-Kriegs-Autoren wie Paul Claudel, Yvan Goll oder Pierre-Jean Jouve:

Il faut très vite réimprimer ce Poème de Jouve Contre le Grand Crime.
Il y a urgence.
Pour cela passer outre condamnation de Jouve lui-même contre lui-même
La répudiation de son œuvre antérieure.
Pourquoi ?
Soyons cursifs & discursifs.
Soyons rapides.
Mettons-nous à la place de l'Université qui ne comprend rien à la poésie.
N'a jamais rien compris
(Apportez-moi preuve du contraire !)
Grande Guerre c'est rupture totale.
C'est ébranlement jusqu'aux reins et cœurs.
Aussitôt universitaires d'acquiescer (quand-même !) de renouer & relacer "moderne" la chaussure fantassine de l'art poésie.
Pour qu'elle ne claudique pas.
Qu'elle ne claudélise pas.
Ce serait un comble !
(Darras 2014: 91)




PhiN 70/2014: 149


Schließlich will Darras, der sich als europäischer Erbe Walt Whitmans versteht, mit seiner poetischen Reflexion im Sinne der Friedensarbeit einen Beitrag wider das Vergessen leisten:

Écrire en 2013 c'est commencer par revenir en 1913, à la veille de commettre l'erreur dans la direction prise. C'est ensuite et surtout travailler au dénombrement des mots dans une manière de contre-épopée. C'est disperser les nuages de l'émerveillement, de l'enchantement sans faire économie des souffrances réelles, individuelles et collectives. Écrire en 2013 c'est changer de présent. C'est changer de futur. Reprendre sur des fondations des socles dûment, âprement, humblement nettoyés. Reprendre juste, juste reprendre.
(Darras 2014: 206)

Darras' ungewöhnliches Gedicht über den Krieg ist in zweifacher Hinsicht eine 'poetische Kriegserklärung' an das Verdrängen und Vergessen: an das persönliche Verdrängen schmerzhaft erfahrener Verluste ebenso wie an das kollektive Vergessen bis heute so wichtiger Stimmen gegen Krieg und Unmenschlichkeit. Je sors enfin du Bois de la Gruerie schreibt sich damit in die gegenwärtig verbreitete Mode der Gedächtnisliteratur ein. Der zunächst verwundernde Fokus auf die europäische Literatur des Ersten Weltkrieges erklärt sich nicht zuletzt durch die Entstehungsgeschichte des Langgedichtes. Den Anstoß für sein Gedicht erhielt Darras von dem Komitee der Bibliothèque Nationale Universitaire de Strasbourg (BNU), das anlässlich der Wiedereröffnung der Bibliothek im Oktober 2014 in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und der Bodleian Library Oxford die Ausstellung "1914: la mort des poètes" konzipierte. Doch trotz dieses Auftragscharakters ist es Darras gelungen, einen Text zu schaffen, der Whitmans Tradition folgend um die Demokratisierung der Dichtung bemüht ist: So ist sein Langgedicht weder pathetisches (Helden-)Epos, rhetorisch elaborierte Elegie der Opfer noch hermetische Lyrik für ein exklusives Publikum. Folgerichtig beschreibt er seine poetische Meditation über Freiheit und Frieden in einem freilich inszenierten Bescheidenheitsgestus auch als "outil-poème" (Darras 2014: 99). Darras' Wunsch, ein möglichst breites Publikum anzusprechen, scheint insofern realistisch, als Je sors enfin du Bois de la Gruerie trotz zahlreicher literarischer und historischer Anspielungen eine mehrdimensional-vielschichtige Lektüre ermöglicht und in seinem kommemorativen Appellcharakter auch von weniger belesenen Lesern als 'Gedächtnisgedicht' rezipiert werden kann.


Bibliographie

Darras, Jacques (2014): Je sors enfin du Bois de la Gruerie. Tout reprendre à 1914. Paris-Orbey: Arfuyen