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Martin Haase (Osnabrück/Berlin)



Grammatikalisierung und Reanalyse aus empirischer Sicht: Apenninenumbrisch*



Grammaticalization and Reanalysis from an empirical point of view
The Grammaticalization model (esp. when encompassing Reanalysis) aims at a theoretical framework for explaining language change. Theoretical arguments are sometimes illustrated by data from different standard (or written) languages which are supposed to have evolved out of each other: The best example is the comparison of data from classical Latin and data from standard French or standard Italian. Of course, in Romance studies it is very well known that classical Latin is not a predecessor of modern Romance languages, and that – where language change is concerned – reliable data can best be obtained from historically documented dialects. This article gives some insight into what happens to concepts such as grammaticalization and reanalysis when such empirical data is taken into consideration. The basis is a "biography" of Romance dialects from Central Italy.




Mit den Begriffen Grammatikalisierung und Reanalyse wird ein Modell zur Erklärung sprachlichen Wandels umrissen, das gerade in der datenorientierten historischen Sprachwissenschaft der Romanistik vielversprechend zu sein scheint. Die Begriffe operieren offenbar auf unterschiedlichen Ebenen der Sprachbeschreibung: Lexeme oder Einheiten des Diskurses übernehmen grammatische Funktionen und "werden" somit grammatikalisiert, während die Reanalyse von Konstruktionen ein Phänomen bezeichnet, das anscheinend den Sprachbenutzern zuzuschreiben ist: Eine spätere Sprechergeneration analysiert eine Konstruktion anders als eine frühere, was mit einer Grammatikalisierung der Ausdrucksmittel einhergehen kann; oder verschiedene Analysen existieren für dieselben Sprecher nebeneinander. Grammatikalisierung und Reanalyse müßten somit in der "Biographie" einer Sprache empirisch beobachtbar sein, und zwar um so deutlicher je detaillierter die Sprachbiographie ausfällt. Von besonderem Interesse wäre in diesem Fall die genaue Untersuchung von Sprachveränderungsprozessen in einem kleinräumigen Dialektareal. So wird beobachtbar, wie Sprecher und Schreiber über mehrere Generationen hinweg mit ihrer Sprache umgehen.

Besonders in dem Nebeneinander verschiedener Analysen oberflächlich gleicher Ausdrucksmittel wird eine Chance gesehen, Synchronie und Diachronie zusammenzuführen. Die synchrone Variation wird als Niederschlag eines sich vollziehenden Wandels gesehen. Die Unterscheidung von Synchronie und Diachronie ist jedoch nicht etwas "reales", sondern ein Konstrukt der Linguisten:





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In synchronischer Perspektive behandeln sie Systeme und Strukturen, die sich nur auf der Ebene der Sprachbeschreibung ergeben, und zwar wenn die Zeit angehalten wird; in diachronischer Perspektive hingegen geht es um die Veränderung der Ausdrucksmittel auf der Zeitachse und nicht innerhalb eines "zeitlosen" Systems. Somit ist es nicht unproblematisch, die beiden Perspektiven zu vereinigen, denn es kann somit leicht zu Verwechslungen zwischen der Ebene der Phänomene und der Ebene der Modellkonstruktion kommen. Linguistische Analysen werden schlimmstenfalls in die Köpfe der Sprecher verlegt und somit auf die Ebene der Realität projiziert ("Realismus"). Eine empirische Vorgehensweise, die sich mit der konkreten Produktion der Sprachbenutzer auseinandersetzt, ist am ehesten geeignet, vor theoretischen Fehleinschätzungen zu bewahren; denn sie ermöglicht die detaillierte Erfassung von Veränderungen, die letztlich notwendig ist, um Modelle der Diachronie zu überprüfen.

In der Literatur zur Grammatikalisierung und zur Reanalyse werden Beispiele aus deutlich unterschiedlichen Sprachsystemen miteinander verglichen, z.B. Konstruktionen des klassischen Lateins mit ihren vermeintlich grammatikalisierten Entsprechungen im modernen Standarditalienisch. Man vergleiche das folgende Beispiel aus der Grammatikalisierungsliteratur (Lehmann 1982/95, 20):

(1)a. Latein: CLARA MENTE > Italienisch: chiaramente
b. Latein: CLARE /r Italienisch: chiaramente

In a. wird das italienische (romanische) Adverb auf ein lateinisches Syntagma etymologisch rückprojiziert: Die Adverbialendung geht auf ein Substantiv ('Art, Weise') im Ablativ zurück; es liegt also eine Form von Reanalyse1 vor. Die neue Adverbialbildung steht anstelle der lateinischen (b.), man spricht von "Renovation" (symbolisiert durch: /r).

Natürlich ist die Beziehung zwischen den Ausdrucksmitteln dieser beiden Sprachen für empirisch arbeitende Romanisten nicht so unmittelbar. Zunächst einmal läßt sich das heutige Standarditalienische nicht direkt aus dem Lateinischen ableiten, aber selbst wenn dies so wäre, zeigt ein Blick in die schriftliche Überlieferung ein wesentlich differenziertes Bild. Es zeigt sich für das konkrete Beispiel, daß keineswegs von einer Verdrängung der einen Bildung durch die andere geredet werden kann. Außerdem müssen für die älteren Handschriften Abbreviaturen berücksichtigt werden, die sicher einen Einfluß auf die weitere Entwicklung gehabt haben, während in der gesprochenen Sprache der Ersatz von Adverbien durch Adjektive zu verzeichnen ist. Die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit kommt in der Grammatikalisierungsdiskussion ohnehin zu kurz.





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Bekanntlich ist das Phänomen der Standardsprache ein sehr junges, insbesondere im italienischen Raum. Man ist daher gezwungen, in der empirischen historischen Sprachwissenschaft des Italienischen mit lokalen Dialekten zu arbeiten bzw. mit Varietäten einer literarischen Koiné, für die schon im 16. und 17. Jahrhundert ein großräumiger Einigungsprozeß zu verzeichnen ist. Das Spannungsfeld von Dialekt, Koiné und Standard ist ein weiterer Faktor, der ebenfalls kaum Berücksichtigung findet, wenn von Grammatikalisierung die Rede ist.

Gegenstand der folgenden Erörterungen ist die ländlich-kleinstädtisch geprägte sprachliche Situation im umbrischen Apenninenraum (Foligno-Spoleto). Wie auch sonst in Italien (und anderen romanischen Arealen) ist von einer Dialekt-Standard-Dynamik auszugehen.




Dialekt-Standard-Dynamik

Definition 1: Als Dialekt (Vernakulardialekt) wird dasjenige Sprachsystem bezeichnet, das in einer Diglossiesituation zur vertrauten, informellen mündlichen Kommunikation innerhalb der lokalen (bäuerlichen) Sprachgemeinschaft benutzt wird.

Anders als mit dem Dialekt verhält es sich mit der Standardsprache:

Definition 2: Die Standardsprache ist ein Modell, das in Grammatiken und Wörterbüchern kodifiziert ist und dem sich Sprecher und Schreiber mehr oder weniger annähern.

Für die historische Dimension benötigt man noch das Konzept der Koiné:

Definition 3: Vorform des Standards: Koiné – überregionale Schreibtradition (scripta)

Es handelt sich gewissermaßen um einen besonderen Fall der Standardsprache.

Bei der Dialekt-Standard-Dynamik entsteht eine Ausgleichssprache als Übergang zwischen Dialekt und Standard, die als Regionalsprache bezeichnet wird. Man kann sie wie folgt definieren:

Definition 4: Als Regionalsprache ("Regiolekt", Ausgleichssprache) wird dasjenige Sprachsystem bezeichnet, das in einer Diglossiesituation zur mündlichen Kommunikation außerhalb der lokalen (bäuerlichen) Sprachgemeinschaft benutzt wird.

Allerdings sind zwei Formen der Regionalsprache deutlich unterscheidbar:

  • eine standardnahe Form ("dialektalisierter Standard") und
  • eine vom Standard stark abweichende Form.





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Letztere wird bisweilen als "standardisierter Dialekt" (dialetto italianizzato) bezeichnet, obwohl – wie gleich noch gezeigt wird – die Unterschiede zum Dialekt nicht unbedingt mit der Standardsprache übereinstimmen. In Abbildung 1 ist das Modell dieser Interaktion dargestellt.
 

Abbildung 1:  Modell der D-S-Dynamik

Während die standardähnlichere Form der Regionalsprache (R/L1) die Sprache der jüngeren Sprecher ist, die nicht mehr als Vollsprecher des Dialekts zu betrachten sind, also als Erstsprache die Regionalsprache erlernt haben und verwenden, handelt es sich bei der anderen Form (R/L2) um die Sprache derjenigen Sprecher, deren Erstsprache der Dialekt ist und die die Regionalsprache im Laufe ihres Lebens als Zweitsprache erlernt haben.

Die als Zweitsprache verwendete Regionalsprache weist zahlreiche Besonderheiten auf. Zum einen zeigen sich Kompromißformen, wie die folgende:

(2) ir generale 'der General'
Statt des dialektalen maskulinen Artikels lu wird die Artikelform des Standards il verwendet, jedoch in phonologisch angepaßter Form (Rhotazismus des Liquids vor einem Konsonanten). Zum anderen zeichnet sich diese Sprachform durch zahlreiche Hyperkorrekturen aus, wie die folgenden Beispiele zeigen:

(3) brigat(t)iere 'Brigadier' (R/L2)
Da zwischenvokalische Konsonanten im Dialekt lenisiert bzw. sonorisiert werden, vermeidet der Sprecher stimmhafte Konsonanten in der Regionalsprache. So wird aus brigadiere ein brigatiere, möglicherweise auch in Anlehnung an das Wort brigata 'Brigade'. Allerdings weist die Fortisierung des t darauf hin, daß dem Sprecher an der nicht-sonoren Aussprache (im Sinne einer Hyperkorrektur) sehr gelegen ist. Ein ähnlicher Fall liegt im folgenden Beispiel vor:





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(4) antavamo 'wir gingen' (R/L2)
Die im Dialekt bestehende Tendenz, Explosive nach Nasal an diesen zu assimilieren, stimmlose Konsonanten also zu sonorisieren, führt dazu, korrekte Folgen von Nasal und stimmhaftem Explosiv (hier z.B. nd) hyperkorrekt mit stimmlosem Explosiv zu realisieren.

Die Regionalsprache der Dialektsprecher (R/L2) weicht somit insbesondere durch ihre Hyperkorrekturen nicht nur vom Dialekt, sondern auch vom Standard ab. Die Bezeichnung "standardisierter Dialekt" oder dialetto italianizzato ist also eigentlich unzutreffend. Der Dialekt dient als negatives Modell, während der Standard als positives Modell wirkt. Da das positive Modell aber den Dialektsprechern nicht sehr leicht zugänglich ist, kommt es zu Kompromißformen und hyperkorrekten, also vermeintlich standardgemäßen Bildungen. Das sich daraus ergebende Modell der Dialekt-Standard-Dynamik ist in Abbildung 2 veranschaulicht. Interessanterweise identifizieren diejenigen Sprecher, die den Dialekt nicht mehr als Erstsprache erworben haben, die Regionalsprache/L2 mit dem Dialekt und nehmen sie als negatives Modell für ihre Sprachform (R/L1). Somit werden Hyperkorrektismen und Kompromißformen in ihrer Sprache völlig unterdrückt.

 

  Abbildung 2:  Zweidimensionales Modell der D-S-Dynamik





Definiter Artikel

Im folgenden soll das Modell, das ich als "Alteritätsmodell" bezeichne, anhand der Formenvariation des definiten Artikels exemplifiziert werden, zunächst in der Synchronie und dann – um auf das eigentliche Thema des Beitrags zurückzukommen – in der Diachronie.





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Die folgende Tabelle gibt die dialektalen Artikelformen wieder:
 

 

M.S

M.P F.S F.P N

definit, vor Konsonant

(l)u

(l)i

(l)a

(l)e

(l)o

definit, vor Vokal

l'

indefinit

(u)n(u)

-

(u)na

-

-

Man beachte insbesondere die Existenz eines Neutrums (zur Bezeichnung von Unzählbarem), wie sie für das mittelitalienische Dialektareal typisch ist:

(5)a. lu pesce '(einzelner lebender) Fisch (z.B. im Aquarium)'
b. lo pesce 'Fisch (zum Essen)'

Bekanntlich lauten die Artikelformen des Standarditalienischen wie folgt:

 

M.S

M.P F.S F.P

definit, vor Konsonant

il/lo

i/gli

la

le

definit, vor Vokal

l'

gl'

l'

le

indefinit

un/uno

-

una, un'

-

Der deutliche Unterschied im Maskulinum schlägt sich auch terminologisch nieder (mit germanistisch anmutender Terminologie):

  • lu: starker Artikel
  • il: schwacher Artikel




Heutige Verwendungsweisen

Die folgende Übersicht zeigt die Verwendung des definiten Artikels:

  • im nicht-dialektalen Diskurs, Regionalsprache: il, ir
  • im dialektalen Diskurs: überwiegend starker Artikel

    • Sprecherin S.F. (Terzo La Pieve):
      • (l)u, (l)o: 22
      • il: 1 (Datumsangabe)

    • Sprecherin G.S. (Annifo):
      • (l)u, (l)o: 15
      • il: 1 (il prète 'Priester' ["gute Aussprache"])

    • Sprecher M.A. (Seggio):
      • (l)u, (l)o: 27
      • il: 4 (ir generale 'General', il vesco[vo] 'Bischof' [zweimal], il Vadigano 'Vatikan')





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Datumsangaben sind wohl deshalb standardsprachlich, da der Umgang mit dem offiziellen Kalender in der Schule vermittelt wird. Auch militärische Ränge, Begriffe der Verwaltungssprache und der (offiziellen) Religion sind standardsprachlich vermittelt bzw. werden mit dem Prestige des Standards assoziiert und treten mit der Standardform des Artikels auf. Dabei fällt auch die Möglichkeit der Unterscheidung von Individualnomen und Massennomen weg, da es keinen funktionalen Neutrumsartikel gibt.

Im Gegenzug verwenden Dialektdichter zur Abgrenzung vom Standard die starke Form des Artikels. Da besonders lu charakteristisch für den Dialekt ist, findet diese Form – sozusagen hyperdialektal – selbst da Verwendung, wo eigentlich der formal mit einer Standardform identische Neutrumsartikel lo:

(6)a. lu toscanu 'das Toskanische (Sprache)' (statt: lo toscanu)
b. lu pane 'das Brot' (kollektiv, statt: lo pane)




Diachronie

Für die mittelitalienische Sprachgeschichte2 läßt sich für die Verwendung des definiten Artikels folgendes festhalten (Haase Ms., §4.2.3):

A.14. – 15. Jahrhundert: Der starke Artikel wird verwendet. Daneben tritt selten der schwache Artikel el auf, meistens in fester Kombination (elquale 'welcher', eldicto 'besagter').
B.16. – 18. Jahrhundert: Der starke Artikel ist i.d.R. durch den schwachen ersetzt; Ausnahme: Vorformen der Dialektdichtung.
C.19. – 20. Jahrhundert: Nur in der Dialektdichtung und im gesprochenen Dialekt findet der starke Artikel Verwendung.

Wie für andere romanische Sprachen (Raible 1985) und das Spätlatein (Selig 1992) sind für das mittelitalienische Dialektareal in der frühen Überlieferungsperiode A. und insbesondere in der mittleren Periode B. alternative Determinatoren ("Artikel") charakteristisch:

  • IPSE-Typ: ip(s)o, ip(s)a, ip(s)i, ip(s)e3 'derselbe usw.'
  • IPSE-Typ: issu, esso, essa, issi, esse 'derselbe usw.'
  • DICTUS-Typ: dittu, detto, d(i)c(t)o usw. 'besagter usw.' (mit und ohne zusätzlichem definiten Artikel)

Diese Determinatoren finden besonders in juristischen Texten (Urkunden, Statuten, Gerichts- und Versammlungsprotokolle, Testamente)4 Verwendung.





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(7)lacandelade-llad(i)c(t)aartede-llifunari
DF.F.SKerzevon-DF.F.Sbesagt:F.S Zunftvon-DF.M.PSeiler:P
'die Kerze der besagten Seilerzunft' (Funari 1385 3r)

Die Funktion dieser Determinatoren entspricht der des Artikels, nämlich die Konstanz der Referenz anzuzeigen. Da die genaue Referenzfestlegung in juristischen Texten besonders wichtig ist, erklärt sich die häufige Verwendung in dieser Textsorte. Dabei ist die Bedeutung der DICTUS-Formen noch durchsichtig, denn im Kontext einer Redewiedergabe wird das anaphorische IPSE verwendet:

(8)a.comoessotestimoniodetto
wieANAPH.M.SZeugehab.PRS.3Ssag.PZP
'wie er (derselbe Zeuge) schon gesagt hat'
b.dixitchegiaessotestimoniodetto
sagKONJschonANAPH.M.SZeugehab.PRS.3Ssag.PZP
'er sagte, daß er (derselbe Zeuge) schon gesagt hat' (Processi 1578 9r/10r)

DICTUS kann mit und ohne Artikel verwendet werden (die unterschiedliche Wortstellung des folgenden Beispiels spielt dabei wahrscheinlich keine Rolle):

(9)a. li detti uenti scudi 'besagte zwanzig Scudi' (Processi 1578 7v)
b. detti scudi uenti 'besagte zwanzig Scudi' (ib.)

Im diachronen Vergleich ergibt sich jedoch eine charakteristische Verteilung:

Periode

Quelle

mit Artikel

ohne Artikel

A.

Funari 1385

43

-

 

Testament 1394

17

-

 

Mercanti 1459

131

-

B.

Mercanti Fortsetzung 1542

18

36

 

Riformanze 1552

4

7

 

Processi 1578

13

99

 

Medici 1622

-

1

 



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In den Texten der ersten Periode (A.) wird der DICTUS ausschließlich mit einem Artikel verwendet. In mittleren Periode (B.) sind beide Verwendungen (mit/ohne Artikel) möglich, wobei die Verwendung ohne Artikel überwiegt. Aus einer Grammatikalisierungsperspektive kann also angenommen werden, daß der DICTUS zu einem Artikel grammatikalisiert worden ist. Dagegen spricht allerdings, daß – wie die Vermeidung in Beispiel (8) zeigt – DICTUS immer noch durchsichtig ist. Eine alternative Erklärung könnte in der besseren Kenntnis des klassischen juristischen Lateins der Schreiber der Texte der mittleren Periode (16. Jahrhundert) liegen. Ein solcher Erklärungsansatz paßt zu der Annahme, daß sprachliche Veränderungen in einer Dynamik positiver und negativer Modellwirkung entstehen.

Im folgenden soll die Verwendung der Determinatoren noch einmal schematisch (anhand des Maskulinums Singular bzw. des Neutrums) in den drei Überlieferungsperioden dargestellt werden – beginnend mit der frühen Periode A.:

Hier steht neben dem starken Artikel schon der schwache Artikel (als Alternative, angedeutet durch den Doppelpfeil) besonders in Verbindung mit ditto (oder dem Relativpronomen quale, möglicherweise als feste Fügung – in der graphischen Darstellung als Linie angedeutet) und die alternativen Determinatoren des DICTUS und des IPSE-Typs, letztere besonders in juristischen Texten. Eine darüber hinausgehende Festlegung einer Alternative auf eine bestimmte Sprachform läßt sich nicht ausmachen.

Das ändert sich in der mittleren Periode (B.). Hier entsteht die mittelitalienische Koiné, für die der schwache Artikel und die alternativen Determinatoren charakteristisch sind. Der starke Artikel gilt als dialektal, wie ein frühes Beispiel der Dialektdichtung zeigt.





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Formen des DICTUS-Typs werden überwiegend ohne Artikel verwendet (also als Artikelersatz). In der Verwendung mit Artikel kann eine Fortsetzung der älteren Schrifttradition gesehen werden (insbesondere bei den fortgeschriebenen Statuten der Gilden liegt diese Annahme nahe), während der innovative artikellose Gebrauch sich am lateinischen Modell orientiert. Dieser Gebrauch könnte – wenn man von den zeitlichen Gegebenheiten und den unterschiedlichen Modellen absieht – als Grammatikalisierung oder Reanalyse eines Adjektivattributs zu einem Artikel aufgefaßt werden.

Die Unterscheidung von dialektal – nicht-dialektal bleibt in der weiteren Entwicklung erhalten. Besonders für die Dialektdichtung des 19. und 20. Jahrhunderts erklärt sie das Aufkommen von Hyperdialektalismen. In der Regionalsprache wird hingegen der starke Artikel vermieden.





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Die Verwendung von DICTUS-Formen nimmt von der Koiné zum modernen Standard hin ab und wirkt heute altertümlich. In der gesprochenen Sprache finden diese Formen keinen Niederschlag. Als besonders schriftsprachlich gilt der Partitiv del (usw.), dessen Funktion in der gesprochenen Sprache vom definiten Artikel übernommen wird:

(10)a. Ci vuole l'acqua.
b.Ci vuole dell'acqua.
'Man braucht Wasser.'

Man spricht dabei gelegentlich von der "Extension" des definiten Artikels auf partitive Verwendungsweisen. Allerdings ist der Partitiv eine schriftsprachliche Innovation, die eine Funktion übernimmt, die dem definiten Artikel mindestens schon seit der frühen Überlieferungsperiode A. eigen ist:

(11)Comosestagressesoprela-bammace
wiewennsteh.KNJ.PRT.3SaufDF.F.S-Watte
'Als ob er auf Watte stünde.'




Grammatikalisierung

Folgender Grammatikalisierungspfad wird für den definiten Artikel in der Grammatikalisierungsforschung angenommen (Lehmann 1982/95, 55):

Heute befindet sich der definite Artikel an Position 3 mit deutlicher Tendenz zu Position 4 (Klitisierung). Im Lateinischen entspricht ihm ein Demonstrativpronomen, so daß sich achronisch der Grammatikalisierungspfad bestätigt.5 Die Entwicklung des definiten Artikels ist aber ungleich komplexer als hier angedeutet; im folgenden steht die Form des Maskulinums Singular (bzw. des Neutrums) stellvertretend für das Artikelparadigma:

  • Im Lateinischen wird kein Artikel verwendet, ILLE und IPSE können jedoch zur Unterstreichung der Referenzidentität eingesetzt werden, das geschieht in der gesprochenen Sprache sicher häufiger als in der klassischen Literatur.
  • Besonders in juristischen Texten (Raible 1985, Selig 1992) wird die Referenzidentität durch Formen von ILLE, IPSE und/oder (PRAE-), (ANTE-) DICTUS sichergestellt; diese nominalen Determinatoren sind praktisch obligatorisch. Obwohl die gesprochene Sprache die schwerfällige juristische Ausdrucksweise nicht übernimmt, verstärkt sich vor diesem Modell wahrscheinlich die Verwendung von ILLE/IPSE.





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  • Diese Ausdrucksweise wird in der frühen Überlieferungsperiode (insbesondere in den Statuten, die ja ebenfalls juristische Texte sind) nachgeahmt, und zwar vor allem die Typen ILLE DICTUS und IPSE (in verschiedenen Formen, meist als Abbreviatur). Texte, die der Mündlichkeit näher stehen (z.B. Rasiglia 14./15. Jh.) weisen hingegen lediglich den ILLE-Artikel auf (in der "starken" Form lu/lo usw.).
  • Die juristischen Texte der mittleren Überlieferungsperiode B. verwenden den Typ DICTUS in der Regel ohne den Artikel als dicto, ditto oder detto (meist ist nur der Vokal abbreviiert). Nicht-juristische Texte bevorzugen die Koiné-Form des Artikels il, der im 18. Jahrhundert auch in juristischen Texten (vgl. Accuse 1763) wieder anstelle von DICTUS verwendet wird. Für die gesprochene Sprache läßt sich die Fortsetzung von lu/lo usw. erschließen.
  • Während Standard und Regionalsprache il verwenden, zeigt der Dialekt (einschl. der Dialektdichtung) den starken Artikel lu/lo usw.

Hier noch einmal eine schematische Darstellung, in der für die konkreten (in den Texten meist abbreviierten) Ausprägungen zum Teil der lateinische Typ eingesetzt ist (| zeigt freie Variation an, || eine funktionale, insbesondere textsortenunterscheidende Variation):

  • kein Artikel | ILLE | IPSE (zur Betonung der Referenzidentität)
  • (juristische Texte:) ILLE | IPSE | DICTUS | ILLE/IPSE DICTUS
  • (insbesondere juristische Texte:) ILLE DICTUS | IPSE (in verschiedenen Formen, vor allem als Abbreviatur)
  • dicto/ditto/detto (z.T. abbreviiert) || (vor allem nicht-juristische Texte:) il (|| lu, lo)
  • il || lu, lo

Das achronische Grammatikalisierungsmodell sieht von solchen Einzelheiten in der Diachronie ab, wie z.B. der zeitweise Ersatz des Artikels durch einen anderen Determinierer in der mittleren Überlieferungsperiode B.. Andererseits sagt es richtig voraus, daß die Definitheit des Artikels weiter reduziert werden kann (>"extensive" Verwendung des Artikels). Achronisch ist diese Reduktion an der vierten Position des Grammatikalisierungspfades zu erwarten (Lehmann 1982/95, 39). Es zeigen sich jedoch einzelne Beispiele für die extensive Verwendung des Artikels bereits in der frühen Überlieferungsperiode A. Es ist offensichtlich nicht möglich, aus dem Grammatikalisierungsmodell auf Zeitpunkte in der Diachronie zu schließen, was nicht überrascht, sieht das Modell doch vom Zeitfaktor ab.

Lehmann sieht in der Entstehung des romanischen Artikelsystems einen Fall von "Innovation". Sie erfolgt nach dem Schema 'x /r y', wobei y für die romanischen Artikel steht, aber im Lateinischen x nicht existiert (Lehmann 1982/95, 21): "Innovation is revolutionary; it creates grammatical categories that had not been in the language before. Renovation is conservative; it only introduces new forms for old categories."





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Es ist jedoch der Linguist, der für die synchrone Sprachbeschreibung solche Kategorien schafft, und nicht die Sprache oder die Grammatikalisierung. So ist es zu bestimmten Analysezwecken angebracht, IPSE und DICTUS in spätlateinischen oder frühromanischen Texten als Artikel oder zumindest als nominale Determinatoren zu kategorisieren (Raible 1972), während Lehmann sie wahrscheinlich zu den "schwachen Demonstrativa" rechnet, andere würden zumindest DICTUS als lexikalisches Morphem auffassen und mit 'besagter' übersetzen. Keinesfalls entsteht das romanische Artikelsystem aus dem Nichts. Im Lateinischen besteht (neben anderen) die Variante, konstante Referenzfestlegung mit Demonstrativa anzuzeigen. Gleichzeitig gibt es explizitere bzw. expressivere Varianten für Demonstrativa. Bei einem späteren synchronen Schnitt sieht der Alternativenraum wieder anders aus: Einige Varianten erweisen sich als sehr gebräuchlich (z.B. der ILLE-Typ in Periode C.), während andere praktisch nicht mehr in Gebrauch sind (z.B. der DICTUS-Typ in Periode C.). Unter Berücksichtigung der oben genannten (synchronen) "Grammatikalitätskriterien" sind bestimmte Varianten als grammatische Kategorie zu beschreiben (so DICTUS in juristischen Texten der Perioden A. und B., aber nicht in späten Texten der Periode B. oder in Texten der Periode C., hingegen Ausdrucksmittel des ILLE-Typs in Periode A. und C. und in nicht-juristischen Texten der Periode B.). Verändert hat sich im wesentlichen der Alternativenraum und somit der grammatische Status der Ausdrucksmittel auf der durch die Grammatikalitätskriterien konstituierten Grammatikalisierungsskala.

Die Grammatikalisierungspfade modellieren in erster Linie (und darin liegt ihre Stärke) die Möglichkeiten der synchronen Variantenbildung: So bemühen sich Verfasser schriftlicher Texte (zumal sie nicht auf intonatorische Mittel zurückgreifen können und auch der situative Kontext nur bedingt zur Verfügung steht) um eine besonders explizite Ausdrucksweise: es werden ausgebaute Ausdrucksmittel als Varianten gebildet (Lehmanns "Renovation"). Ein deutliches Beispiel ist die Verwendung der Nominaldeterminanten im juristischen Latein. Häufig verwendete Ausdrucksmittel werden hingegen abbreviiert (insbesondere, wenn entsprechende Abbreviaturmodelle aus der Modellsprache vorliegen). In der Mündlichkeit entsprechen diesen Tendenzen die Bildung expressiver Varianten einerseits und die Verwendung von Allegroformen6 andererseits. Existieren die Varianten (als freie Varianten) über den beobachteten Zeitraum nebeneinander, läßt sich in der Diachronie keine Veränderung konstatieren. Ist jedoch eine Variante zu einem frühen Zeitpunkt vorhanden und zu einem späteren nicht, so liegt eine diachrone Sprachveränderung vor. Handelt es sich bei der aufgegebenen Variante selbst um eine synchrone Innovation zu einem frühen Zeitpunkt, wird sie übersehen, wenn die spätere Synchronie mit einer noch früheren verglichen wird. So hinterläßt die DICTUS-Variante, die ja bei der Nominaldetermination eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat, beim Vergleich des Lateinischen mit dem Italienischen (oder auch mit einem heutigen Dialekt Italiens) keine Spur. Die Argumentation mit positiver und negativer Modellbildung in einer Dialekt oder Kontaktdynamik ist für die sprachgeschichtlich orientierte Romanistik insofern geeigneter, als sie sprachliche Innovationen plausibel machen kann; sie berücksichtigt außersprachliche und textspezifische Faktoren und ist im besten Sinne "diachron", da dem Zeitfaktor Rechnung getragen wird.





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Abkürzungen

ANAPH

anaphorisches Pronomen

DF

definiter Artikel

F

Femininum

KNJ

Konjunktiv

KONJ

Konjunktion

LOK

Lokativpronomen

M

Maskulinum

N

Neutrum

P

Plural

PART

Partitiv

PRS

Präsens

PRT

Präteritum

PZP

Partizip

S

Singular


Literatur

Haase, Martin (im Druck): Dialektdynamik in Mittelitalien (Apenninenumbrisch) [Habilitationsschrift Osnabrück 1996]. Tübingen: Stauffenburg.

Lehmann, Christian (1982/95): Grammaticalization: a programmatic sketch. Köln: Institut für Sprachwissenschaft [1982]; München: Lincom Europa [1995]. (= Arbeiten des Kölner Universalienprojekts, 48).

Lehmann, Christian (1985): "Grammaticalization: Synchronic Variation and Diachronic Change'', in: Lingua e Stile 20, 303-318.

Lüdtke, Helmut (1980): "Sprachwandel als universales Phänomen", in: Kommunikationstheoretische Grundlagen des Sprachwandels. Hg. von Helmut Lüdtke. Berlin/New York: de Gruyter, 1-19.

Raible, Wolfgang (1972): Satz und Text. Untersuchungen zu vier romanischen Sprachen. Tübingen: Niemeyer. (= Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie, 132).

Raible, Wolfgang (1985): "Nominale Spezifikatoren ("Artikel") in der Tradition lateinischer Juristen oder Vom Nutzen einer ganzheitlichen Textbetrachtung für die Sprachgeschichte", in: Romanistisches Jahrbuch 36, 44-67.

Selig, Maria (1992): Die Entwicklung der Nominaldeterminanten im Spätlatein. Tübingen: Narr. (= ScriptOralia, 26).





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Anmerkungen

* Der Autor dankt den Diskutanden der Sektion Grammatikalisierung und Reanalyse des Romanistentags Romania I in Jena, insbesondere Thomas Krefeld für das Koreferat. Anregungen wurden in dieser Fassung berücksichtigt. Anmerkungen zum mittelitalienischen Neutrum werden an anderer Stelle behandelt werden.

1 Im Spanischen ist es bis heute möglich, die Endung bei der Koordination zweier Adverbien beim ersten Adverb wegzulassen (gapping-Konstruktion).

2 Für die Unterteilung der mittelitalienischen Sprach- bzw. Überlieferungsgeschichte in drei Perioden lassen sich eine Reihe von sprachlichen und außersprachlichen Kriterien finden (Haase Ms., §2.3).

3 Die Schreibweise mit p ist möglicherweise eine spezielle Abbreviaturschreibung, deren Aussprache identisch mit der der folgenden Formen ist.

4 Die Quellenangaben beziehen sich auf das von mir erhobene Manuskriptkorpus (Haase Ms.).

5 Was allerdings mit der Zwischenstufe 2 (schwach demonstrativ?) gemeint ist, bleibt letztlich unklar.

6 Während explizite/expressive Varianten aus lexikalischem Material gebildet werden, entstehen Allegroformen durch phonologische Reduktion. Hier handelt es sich um synchrone Prozesse, aus denen die diachrone Unidirektionalität der Grammatikalisierungsskalen abgeleitet wird (Lüdtke 1980). Auf synchrone Aspekte der Grammatikalisierung (Variation) wird in der Literatur hingewiesen (Lehmann 1985).

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