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Yvonne Hendrich (Mainz)



Prutsch, Ursula / Rodrigues-Moura, Enrique (2013): Brasilien. Eine Kulturgeschichte. Bielefeld: transcript



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Vom Kannibalenland zum Wirtschaftsriesen

Unter dem Motto "Ein Land voller Stimmen" stand Brasilien im vergangenen Jahr als Ehrengastland und Themenschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse im Fokus des nicht nur literarischen Interesses; diesen Sommer schaut die Weltöffentlichkeit auf die im Vorfeld von massiven Protesten begleitete Fußballweltmeisterschaft im selbst ernannten país do futebol, dem Land des Fußballs. Obwohl das Interesse an Brasilien im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist, existierte bis dato keine deutschsprachige kulturhistorische Darstellung der vielfältigen Facetten Brasiliens. Mit ihrer Monographie Brasilien: Eine Kulturgeschichte ist es Ursula Prutsch, Professorin für latein- und US-amerikanische Geschichte an der Universität München, und Enrique Rodrigues-Moura, Professor für Romanistik an der Universität Bamberg, nun gelungen, diese Lücke zu schließen. Das ca. 260 Seiten umfassende und in insgesamt fast 50 Kapitel untergliederte Werk stellt einen chronologischen Streifzug durch die brasilianische Geschichte dar. Es spannt den Bogen von der Landnahme durch die Portugiesen bis hin zu aktuellen sozialen Problemen, beleuchtet Brasiliens Sonderstellung in Südamerika, hinterfragt Mythen und bekannte Stereotype wie etwa Karneval, Samba und Fußball und erläutert deren Ursprünge. Karten- und Bildmaterial sowie eine Auswahlbibliografie im Anhang ergänzen den Text.

Im Vorwort begründen Prutsch und Rodrigues-Moura den "klassischen" Einstieg mit der Entdeckung Brasiliens durch die Portugiesen damit, dass, gerade weil man sich der voreuropäischen Geschichte Brasiliens bewusst sei, man sich deshalb nicht auf ein die eigenen Kompetenzen übersteigendes anthropologisches Terrain begeben wolle. Hierbei sei anzumerken, dass nicht mit dem Jahr 1500 begonnen wird, das offiziell als Datum der Entdeckung des heutigen Brasiliens durch Pedro Álvares Cabral gilt, sondern unkonventionellerweise mit dem Jahr 1498. Wenngleich dies nicht der offiziellen Geschichtsschreibung entspricht, könnte Duarte Pacheco Pereira, der im Auftrag des portugiesischen Königs Dom Manuel Erkundungsfahrten durchführte, bereits 1498 die Nordostküste des heutigen Brasiliens erblickt haben. (12)




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Eine zentrale Rolle in der Wahrnehmung des zunächst als Terra de Vera Cruz (Land des wahren Kreuzes) benannten Gebiets durch die Europäer nahm zweifellos das Wechselspiel von Selbst- und Fremdbild ein. Cabrals Bordchronist, Pêro Vaz de Caminha, hinterließ einen Bericht, der aus eurozentrischer Sicht sozusagen die "Geburtsurkunde" Brasiliens darstellt und das Bild eines faszinierenden tropischen Paradieses mit wohlgeformten nackten Menschen zeichnet, dem jedoch bereits die Forderung nach der Rettung jener "Wilder" durch Zivilisierung und Missionierung inhärent ist. Reiseberichte wie Vespuccis Mundus Novus-Brief oder Hans Stadens Wahrhaftige Historia, die durch Übersetzungen und hohe Druckauflagen weite Verbreitung fanden, begründeten in ihren Schilderungen exotischer Merkwürdigkeiten und Bräuche einen Topos, der die Vorstellung von Brasilien aus europäischer Sicht nachhaltig prägen sollte – der des Kannibalen. (21f.)

Mit dem Handel des Pau Brasil, dem Brasilholz, dessen Bezeichnung eine der möglichen Erklärungen für die Namensgebung sein könnte, begann Anfang des 16. Jahrhunderts die Ausbeutung Brasiliens durch das Mutterland Portugal. Der extensiv betriebene und arbeitsintensive Anbau von Zuckerrohr, Kakao und Kaffee erforderte eine enorme Anzahl an Arbeitskräften, deren Bedarf – nachdem die Jesuiten die Indios sowohl spirituell als auch räumlich in Schutz genommen hatten – durch die massenhafte Einfuhr afrikanischer Sklaven gedeckt wurde. Den afrikanischen Sklaven im Nordosten gelang es, trotz christlicher Indoktrination und brutaler Repressalien, einige ihrer religiösen und kulturellen Praktiken zu bewahren. Daraus sind synkretistische Religionsformen wie der Candomblé, in dem es für katholische Heilige afrikanische Entsprechungen gibt, und die mittlerweile weltweit bekannte Kampfkunst Capoeira entstanden. Als letztes Land der westlichen Hemisphäre schaffte Brasilien erst 1888 offiziell die Sklaverei ab. Sklavenhaltermentalität und über ethnische Zugehörigkeit definierte hierarchische Strukturen hinterließen tiefe Spuren in der brasilianischen Gesellschaft. (37f.)

Vergleiche mit dem übrigen Lateinamerika sowie den Vereinigten Staaten führen dem Leser Brasiliens Entwicklung und Sonderstellung auf dem amerikanischen Kontinent vor Augen. Zwar erlangte Brasilien 1822 die Unabhängigkeit von Portugal, jedoch wurde die nationale Einheit als Kaiserreich unter Dom Pedro I und nachfolgend Dom Pedro II aus der portugiesischen Dynastie der Bragança bis Ende des 19. Jahrhunderts bewahrt: "Im Gegensatz zum vormaligen Spanisch-Amerika, das in republikanische Einzelstaaten zerfiel und die Sklaverei abschaffte, erschuf sich Brasilien nur vermeintlich neu." (57)

Der nur von wenigen Eliten getragene Unabhängigkeitsprozess in Brasilien führte nicht zu einem gesamtnationalen Unabhängigkeitskrieg, zumal es der republikanischen Opposition nicht gelang – wie etwa in den britischen Kolonien in Nordamerika – eine überregional agierende Widerstandsbewegung zu initiieren. (Ebd.) Dies lag nicht zuletzt an der mangelnden Kommunikation zwischen den durch Tausende von Kilometern getrennten lokalen Machtzentren und der post-feudalen Gesellschaftsordnung mit geringem Bildungsniveau, denn Portugal hegte im Gegensatz zu Spanien keinerlei Absicht, in seinen Kolonien Universitäten zu gründen. Sogar die Einfuhr von Druckerpressen nach Brasilien war untersagt. (40)




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Unter Leopoldine von Österreich, die 1817 mit Kaiser D. Pedro I verheiratet wurde, förderte man die Einwanderung aus strukturschwachen Gebieten im deutschsprachigen Raum nach Rio Grande do Sul (erste Siedlung São Leopoldo 1824) und Santa Catarina im Süden Brasiliens. Davon zeugen heute Fachwerkarchitektur, deutsche Dialekte und das mittlerweile über die Grenzen hinaus bekannte Oktoberfest von Blumenau. (67f.) Die europäischen Einwanderer sollten neben der landwirtschaftlichen Nutzbarmachung der Siedlungsgebiete die Grenzen zum heutigen Uruguay sichern und nach Westen hin neuen Siedlungsraum auf Kosten der autochthonen Bevölkerung erschließen. (58)

In diesem Zusammenhang erwähnenswert ist der Hinweis darauf, da der Fokus allzu sehr auf die Pionierleistungen der europäischen Siedler gerichtet war, die aus wirtschaftlicher Not und Entbehrungen zuhause die weite Reise antraten, dass der von den Kolonisten an der Indio-Bevölkerung begangene Genozid in der deutschsprachigen Migrationsforschung lange Zeit unhinterfragt blieb und vernachlässigt wurde. (70)

Zwar rückte die Figur des Indianers in Gestalt des "Edlen Wilden" seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend als Verkörperung des genuin Brasilianischen in das Bewusstsein brasilianischer Literaten, doch erfolgte diese Stilisierung aus einer unverändert eurozentrisch dominierten Perspektive. Erst in den 1920er Jahren setzte die brasilianische Avantgarde in São Paulo ein Fanal, indem sie selbstironisch den Kannibalen-Topos aufgriff, geknüpft an die Forderung nach einer kulturellen Anthropophagie, wie es Oswald de Andrade in seinem Kannibalistischen Manifest (1928) provokant formulierte: Die besten Elemente des einstigen Kolonisators Europa sollten absorbiert werden, um daraus etwas Originäres und Neues zu schaffen. (121f.)

Innerhalb der brasilianischen Kunst sollte die antropofagia zur Metapher der kulturellen Einverleibung avancieren, die u.a. im sozialkritisch intendierten Musikstil der Tropicália in den 1960er Jahren wieder aufgenommen wurde und in Gilberto Gil, Caetano Veloso und Chico Buarque ihre bekanntesten Vertreter fand. (177f.)

Im sogenannten Estado Novo (1937–45) unter dem populistischen Diktator Getúlio Vargas, der sich in der staatlichen Propaganda als "Vater der Armen" inszenierte, wurde mit dem Ziel, einen einheitlichen brasilianischen Charakter zu normieren, der brasilianischen Nation eine sich über die mestiçagem, die ethnische Durchmischung, definierende Identität übergestülpt. Der Soziologe Gilberto Freyre lieferte zu Beginn der 1930er Jahre hierfür die diskursive Grundlage. Mit seinem Werk Casa-grande e senzala (Herrenhaus und Sklavenhütte) erschuf Freyre den Mythos der Rassendemokratie. Die koloniale Vergangenheit erfuhr dabei insbesondere in der Verklärung der Rolle der Mulattin eine harmonisierende Idealisierung. (141f.) Im Zuge der Kulturpolitik der brasilidade – der unverwechselbaren brasilianischen Identität – wurden u.a. Karneval, Samba und Capoeira als volkspopuläre Elemente aufgewertet, die heute zum Kanon brasilianischer Stereotypen zählen. In den 1930er und 40er Jahren war es unter der Regie von Walt Disney mit Carmen Miranda ausgerechnet eine gebürtige Portugiesin, die als Hollywood-Export das Klischee des tropisch bunten, stets gut gelaunten Brasiliens nachhaltig prägen sollte. (157f.)




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Unbestreitbar stellt der Fußball einen essentiellen Bestandteil der kollektiven Identität Brasiliens dar. Bevor Brasilien mit dem als Pelé bekannten schwarzen Talent Edson Arantes do Nascimento vom FC Santos ein globales Aushängeschild für das berühmte brasilianische Spiel des jogo bonito konstruierte, sollte es allerdings einige Jahrzehnte dauern, bis dunkelhäutige Spieler allgemeine Akzeptanz fanden. Denn noch im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts sahen sich Fußballer wie der deutschstämmige Mulatte Arthur Friedenreich aufgrund der in den Fußballclubs vorherrschenden rassischen Restriktionen dazu gezwungen, die Haare glatt nach hinten gekämmt zu tragen oder ihre Haut mit Reismehl zu weißen. (112f.)

Rassismus ist leider auch heute noch in der brasilianischen Gesellschaft latent. Es existieren zahlreiche Bezeichnungen für Nuancen von braunen und schwarzen Hauttönen, woraus die Tendenz abzuleiten ist, sich in der Selbstwahrnehmung sprachlich "aufzuhellen", da damit bessere soziale und wirtschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten einhergehen. Schwarz sein in Brasilien bedeutet nach wie vor zur sozialen Unterschicht zu gehören. (217f.)

War Brasilien 1990 fast bankrott, ist das Land mittlerweile in die Liga der zehn größten Wirtschaftsmächte aufgestiegen. Trotz der unter dem vorherigen Präsidenten Lula da Silva (2003-2011) angestoßenen Sozialprogramme, die angesichts der Erfordernisse einer nachhaltigen Entwicklung nur einen Tropfen auf den heißen Stein darstellen, liegt in Hinblick auf Sozial- und Bildungspolitik noch sehr viel im Argen. Dies zeigt der abschließende Blick auf die Proteste beim Confederations Cup im vergangenen Jahr, die sich gegen Korruption und die Verschwendung öffentlicher Steuergelder richteten:

Man kann die Demonstrationen auch in diesem Sinn begreifen, dass die Welt endlich aufhören möge, Brasilien nur mit Zuckerhut, Copacabana und Fußball zu assoziieren. Diesen Bildern gilt es eine Vielfalt anderer Bilder hinzuzufügen. Fußball gehört zu Brasilien, doch wurde er in der Geschichte des Landes auch mehrfach als Surrogat für fehlende politische Freiheit und fehlende Sozialpolitik missbraucht, besonders während der Militärdiktatur, die jetzt gerade systematisch aufgearbeitet wird. Die Proteste zeigen, dass die Demokratie zu demokratisieren ist. (227)

Prutsch und Rodrigues-Moura haben eine empfehlenswerte Kulturgeschichte vorgelegt, die sich durch eine ausgesprochene Verständlichkeit auszeichnet und die Studierenden und Brasilien-Interessierten einen kompakten Überblick über die brasilianische Geschichte und Kultur bietet. Zum Schluss sei noch auf einige Ungenauigkeiten in Bezug auf die portugiesische Orthografie hingewiesen, die den positiven Gesamteindruck jedoch nicht beeinträchtigen (korrekte Schreibweise in Klammern): "Zê Carioca" (6, 152; "Zé Carioca"), "Dê-me um cigarro" (123; "Dá-me um cigarro"), "Límite" (125; "Limite").