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Maik Neumann (Bonn)



Angela Oster und Karin Peters (Hg.) (2012): Jenseits der Zeichen. Roland Barthes und die Widerspenstigkeit des Realen. München: Wilhelm Fink.


Kurz nach dem Unfalltod des französischen Literatur- und Zeichentheoretikers Roland Barthes im Jahr 1980 gesteht Serge Doubrovsky in seiner eindrucksvollen Erinnerungsschrift Eine tragische Schreibweise ein ambivalentes Gefühlsbild ein, mit dem er sich bei der Relektüre von Barthes' Texten konfrontiert sieht. Er habe, so hebt Doubrovsky gleich zu Beginn hervor, "den größten Teil des Barthesschen Werkes wiedergelesen, ohne eigentlich genau zu wissen, von welcher Seite ihm beizukommen sei" (Doubrovsky 1988: 139). Um gleichwohl einen produktiven Zugang mit Blick auf "diese in unaufhörlicher Bewegung begriffenen Texte" (ebd.) zu eröffnen, vergegenwärtigt er sich die Veränderungen sowie damit verbunden die Widerstände, die ihm bei seiner erneuten Lektüre begegnen:

In krausem Durcheinander auf meinem Schreibtisch aufgehäuft, löst dieser so reiche, vielgestaltige, ungleichartige, anarchische Schriftkörper […] sich auf und fügt sich auf andere Weise wieder zusammen: er ist jetzt zum Korpus geworden. […] Der doppelten Lähmung des Todes und der Kanonisierung, die die Bewegung, die Unruhe des Werkes stillstellt, entspricht bei mir ein unverwandter, starrer Respekt. (ebd.: 140)

Zugleich jedoch verbindet sich der hier pointierte "Respekt", der sich beim Lesen u.a. durch "eine Art von Schwindel" sowie "einen Zustand von Hilflosigkeit" (ebd.: 142) äußert, mit einem elementaren Verantwortungsgefühl: "Für diese außerordentlich lebendigen Texte obliegt fortan mir die Seelsorge." (ebd.: 140) Die wiederholte Annäherung an die Barthes'schen Werke geht für Doubrovsky, wie er selbstreflexiv anmerkt, in diesem Sinne mit dem Erleben eines sich zunehmend manifestierenden Sinn- und Lektürebezugs einher, der sowohl das Empfinden von "Achtung" (ebd.: 143) als auch von "Vergnügen" (ebd.: 180) evoziert. Doubrovsky nimmt die wesentliche "Zerrissenheit" (ebd.) bzw. die "widersprüchliche Verwindung" (ebd.: 155) der Schreibweise Barthes' im Lesegenuss auf, um ihre Bewegungen im Rahmen seiner weiteren Ausführungen unter verschiedenen Gesichtspunkten näher zu charakterisieren.




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Das von Doubrovsky dergestalt akzentuierte Lektüreempfinden in einer produktiven Melange aus Schwindel, Achtung und Vergnügen markiert bereits zu Beginn der 80er Jahre ein entscheidendes Paradigma, das die zahlreichen Analyseansätze der Barthes-Forschung bis in die gegenwärtigen Publikationen bzw. Projekte vielgestaltig prägt.1 Die lebendigen, fragmentarischen sowie widersprüchlichen Texte Barthes' provozieren immer wieder aufs Neue eine vielfältige Auseinandersetzung, innovative Fragestellungen und Kontextualisierungen, die ihren Schriftkörper aber gerade nicht letztgültig feststellen, sondern in seinem Sinnpotential und seiner Dynamik perpetuieren.

Der von Angela Oster und Karin Peters herausgegebene Tagungsband pointiert dieses Paradigma in einer doppelten Zuspitzung. Gemäß dem Tagungsprojekt, das im November 2010 anlässlich des 30. Todesjahres Barthes' an der Ludwig-Maximilians-Universität München realisiert wurde, nimmt der Band zum einen die sich seit etwa fünf bis zehn Jahren intensivierende, internationale Barthes-Diskussion – einhergehend bzw. verbunden u.a. mit der "Neuveröffentlichung zahlreicher Vorlesungen und privater Dokumente aus dem Nachlass"2 – "aus deutsch-französischer Perspektive" (9) konstruktiv auf. Zum anderen schließt der leitende Untersuchungsakzent an die gegenwärtige Forschungstendenz an, den Fokus weniger auf die "strukturalistischen und semiotischen Pionierarbeiten" Barthes' denn vermehrt auf "die Frage nach den Real-Referenzen, die ihn im Laufe seiner Arbeiten immer häufiger beschäftigte" (ebd.), zu richten.3 Die versammelten Beiträge gruppieren sich davon ausgehend um eine innovative Perspektivik, die eine der zentralen Motive im Barthes'schen Schreiben vielfältig zu fokussieren intendiert: "Barthes' lebenslange Sehnsucht nach dem Realen" (17). Mit "dem Realen", le réel, verbindet sich jedoch keine konzeptionell zu erfassende oder letztgültig abzubildende 'Wirklichkeit', vielmehr weiß Barthes, wie Karin Peters in ihrer Einleitung hervorhebt, um die "Abgründe" (ebd.) eines sich den Zeichen hartnäckig entziehenden Realen: die Vehemenz, mit der es sich einer zeichentheoretischen sowie -praktischen Einordnung und Darstellung nachhaltig entzieht.4 Gleichwohl bildet die immer wieder neu einsetzende, methodisch und motivisch äußerst heterogene Annäherung an das Reale, das allein ephemer als Effekt im Prozess des Schreibens zu erfahren ist, einen wesentlichen Topos der Schreibweise Barthes'.5




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Die in dieser Konstellation aufscheinenden sowie im Rahmen des Tagungsbandes näher zu untersuchenden "Phänomene des Realen" resümiert Peters treffend als eine "neue Art", das flüchtige Reale "als Heimsuchung oder 'Rauschen' des Sinns" (19) zu vermessen:

Der im Reich des Realen blind gewordene Semiotiker muss die Untiefen und Abgründe des Wirklichen auf neue Art vermessen. Barthes wählt dazu diejenigen Phänomene des Realen – den Tod, die Lust, die Liebe, die Trauer – deren momentane Evidenz jede Zeichenhaftigkeit aufsprengt und deren Unmittelbarkeit vom Subjekt nicht beherrscht werden kann – dieses wird vielmehr schockartig oder epiphanisch von der Evidenz des Realen ergriffen. (20)

An die Stelle eines generellen 'Back to Barthes' tritt in Jenseits der Zeichen die konkretisierte Perspektive eines "Zurück zum Text"6 : "Das Reale stellt sich aus, und der TEXT, der nicht ŒUVRE sein will, wird zur Schrift, die notiert, zur Schau stellt und momenthaft enthüllt." (ebd.)

Das 'Zur-Schau-Stellen' des Realen sowie dessen 'momenthafte Enthüllung' in den Texten Barthes’ bilden davon ausgehend das zentrale Untersuchungsinteresse und damit einen durchgängigen Bezugspunkt der von Oster und Peters aufgenommenen Beiträge. In ihren individuellen Prämissen, Methoden sowie Systematiken – u.a. mit lebens- (Ottmar Ette), musik- (Gesine Hindemith) und literaturwissenschaftlicher (Daniela Kirschstein) Ausrichtung – eröffnen diese ein breit angelegtes, unter dem leitenden Themenakzent jedoch ebenso kohärentes Spektrum, mit dem es gelingt, die Phänomene des Realen primär mit Blick auf die späten Schriften Barthes'7 als eine zentrale Motivik seines fragmentarisch-dynamischen Schreibens detailreich herauszuarbeiten. Entlang der 'Abgründe', die Barthes von einem "Jenseits der Zeichen" trennen und zugleich ein wiederholtes, fasziniert-obsessives Kreisen um eben einen solchen 'Hauch des Realen' (in Diskursen der Trauer, der Liebe, der Lust und des Todes) als Fluchtpunkt der eigenen Schreibdynamik provozieren, gliedert sich der Sammelband in fünf Abschnitte auf.

Den ersten Schwerpunkt bilden drei Abhandlungen namhafter Barthes-Kenner (Ottmar Ette, Éric Marty und Claude Coste), die als "Einführungen" fungieren und zentrale Aspekte der gegenwärtigen Forschung in Deutschland sowie Frankreich aufrufen. Zudem lassen sie bereits wesentliche Kernakzente des um ein Nachzeichnen von Evidenzen des Realen – die zwar vielfältig, allerdings allein ephemer im Schreibfluss aufscheinen – bemühten Ansatzes erkennen.




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So fokussiert Ottmar Ette in seinem Beitrag "Auf der Suche nach dem (sich verlierenden) Leben. Wissenschaft und Schreiben bei Roland Barthes" gleich zu Beginn den spezifischen Konnex, den Wissen, Literatur, Schreiben, Text, Wirklichkeit und Leben in den Schriften Barthes' ausbilden, und greift dabei seine Programmatik einer "Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft" (vgl. Ette 2007) produktiv auf. Ausgehend von dem äußerst eindringlichen Sprachbild, mit dem Barthes in Le Plaisir du Texte den Text als ein Netz, ein Gewebe, definiert, in dem sich die Spinne, und damit das Subjekt, selbst auflöst,8 schlägt Ette einen Deutungsansatz vor, der die "Bedeutsamkeit" der in dieser Spinnenmetaphorik entfalteten Texttheorie "für aktuelle Herausforderungen und Problemstellungen" (37) aufzeigt:

Denn wir sollten auf keinen Fall die im Grunde deutlich signalisierte Tatsache übersehen, daß hier eine die Verkettungsmetaphorik überbietende Text- und Gewebemetaphorik in eine komplexe Metaphorologie des Netzes überführt wird, wobei die sich auflösende Spinne dem Netz zusätzlich eine organizistische, vor allem aber durchaus lustvolle und mehr noch lebendige Strukturierung verleiht. (ebd.)

Die pointiert charakterisierte "lebendige Strukturierung" geht in ihren Implikationen und Anschlusspunkten elementar über das poststrukturalistische Theorem einer Ablösung subjekt- und autorzentrierter Werk-Konzeptionen durch eine "Produktivität namens Text" (36) hinaus, wie Ette in der Folge mit Blick auf verschiedene Schriften Barthes' luzide veranschaulicht. In der "Entfaltung einer lebendigen Netzmetaphorik" (37) zeichne sich vielmehr die "Lebendigkeit" eines Textes bzw. Netzes ab, "die durch ein lebendiges Wesen animiert wird, das seine Vitalität, aber auch – so ließe sich hinzufügen – sein gesamtes Lebenswissen, kraft der eigenen Auflösung ins Netz einzuspeisen vermag" (ebd.). Eine solche Auflösung in der eigenen Text- bzw. Netzproduktion sieht Ette im Barthes'schen Schreiben sowohl grundlegend konzipiert als auch kunstvoll realisiert: "Der Text führt vor, was er darstellt, realisiert, was er repräsentiert." (47) Unter Aufnahme und Ausstellung der Fähigkeit, und damit der Lebenskraft, von Literatur, "durch die Vervielfachung des Sinns den Sinn […] niemals zur Ruhe kommen zu lassen" (38), gehe es Barthes "um die Inszenierung jenes lebendigen, ja lebhaften LebensTextes, dessen Ziel nicht eine bestimmte außersprachliche Realität, sondern eine mit Leben gesättigte textuelle (wie intertextuelle) Relationalität ist." (46) Barthes' LebensTexte folgen darin, wie Ette resümiert, einer "Ästhetik der Lust" (64), die eine Vielzahl von Diskursen, Wissensformen und Stimmen – mithin Leben, Erleben, Wissen und Text – ineinanderflicht, um als "Miniaturen des Lebens" auf ein "Lebenswissen" zu zielen, das er "diesseits wie jenseits des Strukturalismus erlebbar machen will" (49). Ein kritisches Aufgreifen sowie Fortentwickeln der von Barthes dergestalt reflektierten und zugleich inszenierten Ästhetik lässt sich, so Ette abschließend, "nur dann entscheidend weitertreiben […], wenn es gelingt die Literaturwissenschaft als eine Lebenswissenschaft zu verstehen, die das Lebenswissen der Literatur als deren eigentliche Lebenskraft begreift" (64).




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Während Ottmar Ette somit den überaus fruchtbaren Impuls hervorhebt, den die Barthes'schen Schreib-, Theorie- und Textreflexionen für die gegenwärtige Literaturwissenschaft zu entfalten vermögen, initiiert Éric Marty in seinem Beitrag "Roland Barthes, le réel photographique" eine differenzierte Perspektive auf das Reale als "une catégorie problématique non seulement pour Barthes mais pour une grande partie de sa génération intellectuelle" (65). Er unterscheidet wesentlich zwei – politische, historische, ideologische und künstlerische – Erscheinungs- bzw. Rezeptionsweisen des Realen, von denen Barthes die eine (das entfremdete Reale, "un réel entièrement dominé par l'idéologique", ebd.) in seinen Schriften beständig mythen- und ideologiekritisch hinterfrage sowie die andere (das nicht zu entfremdende Reale, "un réel inaliénable", 67) als Fluchtpunkt des eigenen Schreibens zu konturieren bzw. zu inszenieren intendiere. Vor allem in La chambre claire zeichnet Marty eine intensive Auseinandersetzung mit dem nicht zu entfremdenden Realen nach, das dort in der Photographie ein entscheidendes Formprinzip findet und mit dem nicht einzuholenden Wahnsinn (la "folie de la photographie", 69) elementar in Verbindung steht. Die generellen Ausführungen Claude Costes unter dem Titel "Actualité française de Barthes (1980‒2011)" schließen den Einführungsabschnitt mit einer produktiven Rekonstruktion der französischen Barthes-Rezeption bis hin zu jüngeren Aktualisierungstendenzen ab.

Im Anschluss folgen drei Abschnitte, die den drei Analyseakzenten nachgehen, deren jeweilige Einsatzpunkte sich aus der im Untertitel des Sammelbandes aufgerufenen "Widerspenstigkeit des Realen" ableiten. Im ersten Untersuchungsfeld (Widerspruch gegen die Mythologie des Wissens) zeigt sich die Widerspenstigkeit dabei als Widerspruch, den die Barthes'schen Schriften entgegen den über Stereotypen und Mythenbildung zur Doxa erstarrten Wissensdiskursen artikulieren. Anselm Haverkamp führt diesen Widerspruch in seinem Beitrag "Die vergessene Pointe. Roland Barthes' Anagrammatik des Obtusen" äußerst prägnant vor Augen, indem er die paradigmatische Bedeutung der von Barthes in Le troisième sens markierten Unterscheidung zwischen einem sens obvie und einem sens obtus mit Blick auf dessen Theorie- und Schreibarbeit pointiert. Barthes verfolge Theorie immer als "Theorie von Supplementärem" und widerspreche darin "oft behutsam, aber hartnäckig" der "phänomenologischen Unterstellung der Transparenz aller lebensweltlichen Bezüge" (91). Das Obtuse bilde "das Paradigma, die erste exemplarische Form des Supplementären bei Barthes" und stelle sich damit der "ordinären Aura des obvie entgegen" (ebd.). Wie Haverkamp hervorhebt, stört Barthes daher auch die phänomenale, ja mathematische Unfaßbarkeit der Latenz nicht", deren "vitale Wirkungsmächtigkeit" lasse ihn vielmehr "zu einer dezidiert nicht-phänomenalen Ästhetik des Obtusen tendieren" (99). Andreas Mahler und Jörg Dünne illustrieren in ihren Beiträgen zudem weitere Varianten des Barthes'schen Widerspruchs gegen ein zur Doxa ausgehärtetes Wissen, der sich zum einen in einer schubweisen Annäherung an das "Wissensfeld der Liebe" (102) sowie zum anderen durch das "enge Verhältnis von Alphabet und Dummheit" (116) in spezifischen Schreibarrangements realisiert, und unterstreichen damit zugleich dessen durchgängigen Stellenwert sowie grundlegende Heterogenität.




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In einer zweiten Blickrichtung (Widerspenstigkeit des Realen) rückt Barthes' immer wieder neu einsetzendes, aporetisches Bemühen, die widerspenstige Flüchtigkeit des Realen "semiologisch oder semiotisch fassbar zu machen" (21), ins Zentrum der Beobachtung. Gabriele Schabacher veranschaulicht diese wiederholte Annäherung an das nicht letztgültig einzuholende Reale in ihrem Aufsatz "Das 'Projekt RB'. Praxen des Autobiographischen und die Medien des Realen bei Roland Barthes" äußerst eindrücklich, indem sie mit Blick auf Barthes' fiktive Autobiographie Roland Barthes par Roland Barthes untersucht, "wie die spezifische Medialität des Autobiographischen Momente des Referentiellen (und Realen) produziert, die im Sinne einer Rhetorik der Evidenz verstanden werden können" (136). Sie knüpft dabei grundlegend an die in ihrer Monographie Topik der Referenz (Schabacher 2007) eröffnete Perspektive an, um in der Barthes'schen Schreibpraxis ein inszenierendes Aufgreifen rhetorischer Figurationen sowie spezifischer Medialisierungen, die das Autobiographische kennzeichnen, aufzuzeigen. Neben eine Praxis des Schreibens trete zudem eine "Praxis des Seminars" (153), über die das "Projekt RB" wesentlich aus einer dem Theater verwandten "Praxis- und Ausbildungsgemeinschaft" (157) hervorgehe. Mit der Unheimlichkeit Barthes' (sowohl in seinem Schreiben selbst als auch im Sinne einer in seinen Schriften spezifisch aufscheinenden Rhetorik des Unheimlichen) sowie einer von ihm in seinen späten Schriften aufgerufenen "Musikalität der Sprache" (173) stellen Christoph Leitgeb und Gesine Hindemith in ihren Beiträgen darüber hinaus zwei weitere Motive zeichentheoretischen sowie -praktischen Kreisens um die Widerspenstigkeit des Realen eindringlich heraus.

Durch eine dritte Akzentsetzung (Widerständigkeit der Zeichen) zeichnet der Band das vielfältige Engagement der Barthes'schen Schreibweise, die ephemeren Phänomene bzw. Evidenzen des Realen im eigenen Schreiben (punktuell) zu realisieren bzw. "das Reale am Signifikanten zu 'kristallisieren'" (21) und damit erfahrbar zu machen, nach. Wie Bettina Lindorfer in ihrem Beitrag "Un troisième tour d'écrou: Die Leitfunktion des Realen für das Schreiben beim späten Barthes" illustriert, verbinden sich Barthes' sprachtheoretische Prämissen mit spezifischen Strategien, über die er beständig versuche, das Reale im Text sprachlich einzuholen: dem Notieren, dem (beim Namen) Nennen sowie dem Zeigen. Vor allem im Haiku erkenne er für ein dementsprechend angelegtes Schreibbemühen die ideale "Ausdrucksform zwischen Zeigen und Sprechen", als "Schnittstelle zwischen Referent und Zeichen" im "reflektierten Umgang mit der Sprache" (198).




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In ihrer ausführlichen Analyse von La chambre claire charakterisiert Angela Oster ("'Larvatus prodeo'. Realitäten des Wintergartenfotos in Roland Barthes' 'La chambre claire'") zudem weitere Verfahren Barthes' im Bemühen um ein Einholen des Realen in der eigenen Textproduktion und spitzt ihre Analyse in einer innovativen These zu: Entgegen der häufig vertretenen Forschungsmeinung, Barthes habe das für ihn zentrale Wintergartenfoto seiner Mutter in La chambre claire selbst nicht aufgenommen, plausibilisiert Oster in ersten Konturen den Gedanken, ihm sei anstatt an einer direkten Darstellung bzw. Verhandlung des Fotos vor allem an einem "diskret" bzw. "lateral" (228) verfahrenden Touchieren gelegen. Gemäß einer solchen "indirekten (Re)Präsentation" (229) lasse sich in dem Bild, das Barthes' Mutter mit ihrem Bruder und ihrem Großvater zeigt (vgl. La Souche, in: Barthes 2002: V 874), das berühmte Wintergartenfoto rekonstruieren. Eine These, die in zukünftigen Forschungsarbeiten noch detailliert zu verifizieren sein wird. Marie Baudry und Judith Kaspar erweitern die Ausführungen zur Widerständigkeit der Zeichen im Schreiben Barthes' zudem um ferner prägnante Aspekte und Bezüge: zum einen in einer reflektierten Aktualisierung der Kategorie des Romanesken in Verbindung mit L'effet de réel sowie zum anderen durch eine differenzierte Konturierung des um ein Zeugnis der Trauer bemühten Schreibansatzes in Journal de deuil.

Zum Abschluss versammelt der Tagungsband vier Beiträge (Lektüren des widerspenstigen Realen), die die bei Roland Barthes beobachtete Auseinandersetzung mit der bzw. um die Widerspenstigkeit des Realen hin zu einer Lektüreheuristik verlängern, um zentrale Paradigmen in anderen Texten, Diskursen und Medien zu erproben. So greift Karin Peters in ihrem Aufsatz "'Die Sprache des Zwerchfells': Semiologie des Körpers und barockes Lachen bei Molière" "Barthes' Semiologie des Körpers als Ausgangspunkt" auf, "um die Frage zu stellen, wie das 'Sprechen des Körpers' in der barocken Komödie gestisch ausagiert wird" (249). Im Anschluss an eine ausführliche anthropologische Erörterung des Lachens nimmt sie dabei Molières letztes Stück comédie-ballet Le malade imaginaire als "Praktik mit einer ihr eigenen Pragmatik" in den Blick, die beim Zuschauer "die 'unordentliche', ja barocke Erfahrung eines katastrophischen, lachenden Leibes" (268) produziere. Wenn Daniela Kirschstein daraufhin die "Produktion von Wirklichkeits- und Präsenzeffekten" (318) in Jonathan Littells Les Bienvéillantes fokussiert, zeichnet sich die breit gefächerte Eindringlichkeit und kreative Produktivität der Barthes'schen Konzeptionen sowie Schreibweisen ab, die sich auch in gegenwärtigen Analysen und Lektüren in anderen Texten, Kontexten sowie Epochen innovativ fort- und neuschreiben – wie Fabienne Imlinger in ihrer Untersuchung zur Darstellung des Hermaphroditen in der Encyclopédie und Simona Oberto in ihrer Charakterisierung der Barthes-Rezeption Italo Calvinos darüber hinaus überzeugend illustrieren.




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Mit 'Schwindel, Achtung und Vergnügen' eröffnen die von Oster und Peters in Jenseits der Zeichen arrangierten Aufsätze eine ungemein detail- und kenntnisreiche Perspektive auf die Prämissen, Figurationen, Lektüren sowie Anknüpfungspunkte der beständig neu einsetzenden Annäherungen Roland Barthes' an Evidenzen und Phänomene des Realen sowie deren Inszenierung im eigenen Schreiben. Sie knüpfen dabei an aktuelle Debatten der Barthes-Forschung an, die sie unter der leitenden Themenstellung einer "Widerspenstigkeit des Realen" konstruktiv weiterentwickeln. Auch kleinere, kritisch zu diskutierende Format-Einrichtungen (etwa das fehlende Sach- und/oder Werkregister zur leichteren Orientierung; die Absetzung der ersten drei Beiträge als "Einführungen", die sich inhaltlich und strukturell allerdings durchaus mit den übrigen Abschnitten überschneiden; das Nebeneinander von alter – bei den Arbeiten von Ette und Haverkamp – und neuer – bei den übrigen Artikeln – Rechtschreibung) können den Eindruck eines in Kohärenz und Vielfalt gelungenen Bandes in keiner Weise trüben.


Bibliographie

Barthes, Roland (2002): Œuvres complètes. Nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty. Bd. I–V. Paris: Seuil. [Zitiert unter der Sigle OC]

Doubrovsky, Serge (1988): "Eine tragische Schreibweise", übersetzt von Hans-Horst Henschen, in: ders. (Hg.): Roland Barthes. München: Boer, 139–180.

Ette, Ottmar (1998): Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Ette, Ottmar (2007): "Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften", in: Lendemains XXXII, 125, 7–32.

Ette, Ottmar (2011): LebensZeichen. Roland Barthes zur Einführung. Hamburg: Junius.

Jahraus, Oliver (2011): "Theorietheorie", in: Grizelj, Mario / ders. (Hg.): Theorietheorie. Wider die Theoriemüdigkeit in den Geisteswissenschaften. München: Wilhelm Fink, 9–39.

Langer, Daniela (2005): Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes. München: Wilhelm Fink.

Schabacher, Gabriele (2007): Topik der Referenz. Theorie der Autobiographie, die Funktion 'Gattung' und Roland Barthes' 'Über mich selbst'. Würzburg: Königshausen & Neumann.




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Anmerkungen

1 Gabriele Schabacher charakterisiert das Bemühen der stark anwachsenden, heterogenen Forschungsliteratur zur dynamischen Schreibweise Barthes' äußerst anschaulich, indem sie deren vielfache Rekonstruktion von Mustern, Bezugssystemen, Metamorphosen, Topoi und Brüchen in den Barthes'schen Schriften durch eine Differenzierung von drei 'Rezeptionsfiguren' nachvollzieht: "Der plurale Barthes", "Der eine Barthes" und "Der doppelte Barthes" (zu dieser Figuration vgl. Schabacher 2007: insbes. 185–196).

2 Auch die Publikation der ersten Werkausgabe in den 1990er Jahren stellt in dieser Hinsicht einen zentralen Ausgangspunkt der Forschungsarbeit dar (vgl. hierzu Ette 1998 sowie Ette 2011).

3 Zur sich parallel abzeichnenden, vielfach konstatierten 'Theoriemüdigkeit' generell in den Geisteswissenschaften vgl. etwa Jahraus (2011).

4 Daniela Langer bemerkt daher treffend: "Dass das Verhältnis von Sprache zum Realen bzw. zur Realität in der barthesschen Sprachauffassung keine eindeutige Lösung erfährt, mag unbefriedigend erscheinen. Der Umgang mit dem Begriff réel verweist aber auf ein Spezifikum des barthesschen Schreibens, aufgrund dessen viele seiner Texte so merkwürdig unfassbar bleiben: [...]." (Langer 2005: 193)

5 Einen entsprechenden programmatischen Fluchtpunkt formuliert Barthes u.a. in seinem 1968 erschienenen Aufsatz L'effet de réel, der für verschiedene Beiträge des Sammelbandes einen konstitutiven Bezugspunkt darstellt: "[...] alors qu'il s'agit au contraire, aujourd'hui, de vider le signe et de reculer infiniment son objet jusqu'à mettre en cause, d'une fa?on radicale, l'esthétique séculaire de la 'représentation'." (Barthes 2002: III 32)

6 Peters spielt hier auf die 2001 an der Yale University unter dem Titel "Back to Barthes" veranstaltete Tagung an, um die eigene perspektivische Wendung bzw. Konkretisierung zu markieren. Darin folgt sie jenem in den letzten Jahren generell zu beobachtenden Forschungsimpuls, der das grundlegende Sammeln und Vermessen der Texte Barthes' durch deren Aktualisierung in immer spezifischeren Fragestellungen ablöst. So verfolgte etwa die im September 2012 an der Freien Universität Berlin organisierte Tagung des DFG-Graduiertenkollegs "Schriftbildlichkeit" mit der Themenstellung "Die Sinnlichkeit der Zeichen - Roland Barthes' Aisthetik von Schrift und Bild" eine vergleichbare Zuspitzung (vgl. http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/schriftbildlichkeit, 18.10.2012).

7 Einzelne Verweise auf frühere Arbeiten Barthes', wie sie verschiedene Beiträge des Bandes aufnehmen, verfestigen jedoch den Eindruck einer durchgängigen Auseinandersetzung mit Evidenzen des Realen, auf die noch vermehrt einzugehen wäre.

8 "[...] nous accentuons maintenant, dans le tissu, l'idée générative que le texte se fait, se travaille à travers un entrelacs perpétuel; perdu dans ce tissu – cette texture – le sujet s'y défait, telle une araignée qui se dissoudrait elle-même dans les se´crétions constructives de sa toile." (Barthes 2002: IV 259)