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Paola Quadrelli (Mailand)



Gerhard Jens Lüdeker/Dominik Orth (Hg.) (2010): Nach-Wende Narrationen. Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film. Göttingen: V&R unipress.

Der Band sammelt die Beiträge einer Tagung, die im Mai 2009 am Institut für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien der Universität Bremen stattfand, und die darauf zielte, das "externe Funktionspotential" (Orth 105) von literarischen und filmischen Erzählungen im Hinblick auf das Nach-Wende Deutschland zu überprüfen. Dass fiktionale Texte und Filme "Aufschluss über soziokulturelle Befindlichkeiten" (7) geben können, ist bestimmt keine Neuigkeit. Die dem Band zugrundeliegende Ausgangsthese wird allerdings in den einzelnen Beiträgen mit den aktuellsten methodischen Ansätzen und anhand eines breiten Spektrums von Texten verfolgt, das sich von den Gedichten Durs Grünbeins über Pop- und Migrantenliteratur bis zu Splatterfilmen erstreckt. Daraus entsteht ein lebhaftes und vielfältiges Bild von Erzählungen, die versuchen, die gesellschaftliche und kulturelle Lage Deutschlands zu erfassen und sie kritisch zu reflektieren. Unter dem Begriff "Nach-Wende Narrationen", so lautet die Erläuterung der Herausgeber, werden Texte verstanden, die "explizit von der Zeit nach der Wende" handeln (8). Im Fokus stehen nicht primär historische Daten, wie der 9. November 1989 oder der 3. Oktober 1990, sondern die gesellschaftlichen Prozesse, die an diesen Tagen in Gang gesetzt wurden.

Der Rückgriff auf die "Nach-Wende Narrationen" führt die Herausgeber dazu, das für die neueste deutsche Literatur durchaus produktive Assmannsche Paradigma des "kommunikativen" und "kulturellen" Gedächtnisses in Frage zu stellen, da sich die hauptsächlich mündlich vermittelten Erinnerungen lebender Akteure an die Übergangsphase vom deutsch-deutschen zum gesamtdeutschen Staat nicht von einer bereits tradierten und institutionalisierten Erinnerung trennen lassen. Diese Narrationen finden im ‘kommunikativen Gedächtnis’ der gesamtdeutschen Nation statt, aber sie sind gleichzeitig Teil des ‘kulturellen Gedächtnisses’, indem sie Erinnerungen bewahren, die von den nachfolgenden Generationen aktualisiert werden können.

Der Sammelband ist in drei Sektionen eingeteilt, in denen folgende Schwerpunkte behandelt werden: ‘Identitäten’, ‘Lebensläufe’ und ‘Formwandel’. In der Umbruchphase von der DDR zum wiedervereinigten Deutschland, die durch Entwurzelung und Desorientierung vieler Ostdeutscher gekennzeichnet wurde, spielt der Begriff der Identität eine Schlüsselrolle.




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Eng damit verbunden sind die in den Erzählungen enthaltenen Darstellungen von einzelnen fiktiven Schicksalen, die im vorliegenden Band u.a. anhand von Monika Marons Dilogie Endmoränen und Ach, Glück (siehe den Beitrag von Nikolas Immer), sowie von Jens Sparschuhs Der Zimmerspringbrunnen und von Alexander Osangs Die Nachrichten untersucht werden. Wie Dominik Orth in seinem Beitrag über Sparschuhs und Osangs Romane erläutert, zeigen die Lebensläufe der Protagonisten beider Romane erstaunliche Konvergenzen hinsichtlich der literarisch reflektierten Themen des Nach-Wende Deutschlands: Anpassungsschwierigkeiten, Sehnsucht nach der DDR als verlorener Heimat, der Umgang mit Stasi-Biographien sind die Probleme, mit denen sich die Protagonisten, beide ehemalige Ostdeutsche, auseinandersetzen müssen. Formale Auswirkungen auf literarische Texte und Filme werden schließlich in den vier letzten Beiträgen des Bandes erforscht. Das in vielen Ostdeutschen entstandene Gefühl der Entfremdung und die damit einhergehende Spaltung des Ichs, die Bedeutung der Wende als tiefer Einschnitt im Leben des Einzelnen sowie die erzählerische Erarbeitung der Erinnerungen bilden nämlich formale Herausforderungen für die Schriftsteller und die Regisseure, die sich mit Nach-Wende Themen befassen.

Obwohl die in der Nach-Wende Wirklichkeit auftretenden Probleme als solche eine spezifische nationale Eigenschaft besitzen, versuchen die Autoren, Nach-Wende Themen wie Identitätsbestimmung und Identitätsverlust sowie Beschleunigung und Dynamisierung auf ökonomischer und sozialer Ebene in der allgemeinen Situation der Gesellschaft in der Spätmoderne zu verankern, und schreiben damit diese Fragen in einen breiteren Zusammenhang ein. Das für unsere konsumorientierte Gesellschaft typische Motiv der Marken wird z.B. von Markus Kuhn aufgegriffen, um zwei Nach-Wende Texte, die Erzählung Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern (1991) von Thomas Rosenlöcher und den erfolgreichen Film Good bye, Lenin! (2003) zu untersuchen. Die Analyse bestätigt die Hypothese Kuhns, nach der in einigen Nach-Wende Narrationen Markennamen nicht nur für Produkte, sondern für „die mentalen Vorstellungswelten“ (21) stehen, die sich mit diesen Produkten verknüpfen. Die penible Rekonstruktion einer illusorischen und vertrauenserregenden DDR-Realität für die Mutter des Protagonisten von Good bye, Lenin! beinhaltet neben der Produktion falscher Beiträge der Nachrichtensendung Aktuelle Kamera seitens des Sohns und seiner Freunde auch die Inszenierung von Ostprodukten, was bei der aus dem Koma erwachten Mutter vertraute Erinnerungen auslösen sollen. Meistens handelt es sich nicht um konkrete Produkte, sondern nur um leere Verpackungen, die der Junge auf dem Müll findet. Was hier zählt, sind nicht die Produkte selbst, sondern deren äußerliche Elemente, wie Schriftzeichen, Logos und Verpackung, die den Mechanismus der Markentreue in Gang zu setzen vermögen.




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Die mentalitätsprägende und identitätsstiftende Funktion der Marken, der Mechanismus der Markentreue, der Zusammenhang zwischen den Produkten und der Mentalität seiner Nutzer bestimmen auch die Begegnungen mit der westdeutschen Realität des namenlosen Ich-Erzählers von Rosenlöchers Roman. Auf einer Wanderung über den Ostharz in Richtung Westharz unmittelbar nach der Währungsunion am 1. Juli 1990 gerät der Protagonist an West-Marken, die er nicht kennt und zu denen er kein Vertrauen aufbauen kann, und er erkennt in West-Produkten, wie den als "Chromschiffe" bezeichneten West-Autos, den Reflex der Überheblichkeit ihrer Besitzer.

Auf die Kommerzialisierung ostdeutscher Städte, in denen plötzlich BMW-Autohäuser und Supermärkte auftauchen, und auf die rapide Angleichung urbaner Landschaften an die bundesrepublikanischen Standards wird oft in den Nach-Wende Erzählungen hingewiesen, um den "Ausverkauf" der DDR zu betonen. So wird auch in Michael Kleebergs Roman Ein Garten im Norden (1995) die rasche Veränderung einer sächsischen Kleinstadt beschrieben, die sich innerhalb von fünf Jahren in eine typische bundesdeutsche Kleinstadt verwandelt hat, deren auffällige Sauberkeit und Anonymität, wie Branka Schaller-Fornhoff anmerkt, die Kennzeichen "der totalen, rasanten und ästhetisch zweifelhaften Usurpierung" sind (60). Die Kolonisierung der DDR, die unkontrollierte Umgestaltung der neuen Hauptstadt Berlin, die von besinnungsloser Bauwut geprägt ist, sowie das Verhältnis zu der Väter-Generation zählen zu den Hauptthemen, die im ambitionierten und nicht unkompliziert konstruierten Roman Kleebergs behandelt werden.

Die Auswirkungen der Wende zeigen sich nicht nur an den gebrochenen Lebensläufen von Ostdeutschen, sondern auch am Schicksal von Emigranten, wie dem Deutschtürken Hasan Kazan, der als Protagonist in Yadé Karas Roman Salam Berlin (2003) auftritt und der sich während der Wirren der Wende in Berlin befindet. Seine deutsch-türkische Identität und die damit verbundene kulturelle Nicht-Zugehörigkeit, sowie die durch die Wiedervereinigung nach Westberlin gekommene Feindseligkeit treiben Hasan am Ende des Romans dazu, Deutschland zu verlassen und seine Zukunft in einem positiv gedeuteten "Nomadendasein" (81) zu erkennen. Der Roman, mit dem sich im vorliegenden Band Nico Elste befasst, bietet nicht nur eine lebhafte und witzige Darstellung des euphorischen Lebens in Berlin zur Zeit der Wende, sondern liefert auch anhand der verschiedenen Schicksale von Hasans Familienmitgliedern ein desillusioniertes und kritisches Urteil über ein im heutigen Europa häufig debattiertes Thema, i.e. die Koexistenz verschiedener Kulturen.




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Auch in den neuesten Filmen, die die Nach-Wende Realität beschreiben, werden Ausschnitte aus einzelnen Lebensläufen von Menschen gezeichnet, die aufgrund der eingetretenen sozialen Veränderungen an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden und in einem durch Migration und Arbeitslosigkeit gekennzeichneten Deutschland um ihr Überleben kämpfen. So spricht Gerhard Jens Lüdeker von einem "Nach-Wende-Realismus", der sich in Filmen wie Yella, Lichter oder Willenbrock äußert und im Sinne des britischen Realismus eines Ken Loach oder eines Mike Leigh Gesellschaftskritik durch die Verwendung von "Authentizitätsstrategien" (159) übt, ohne allerdings, im Gegensatz zu den britischen Beispielen, in einer bestimmten ideologischen Position verankert zu sein.

Große Protagonistin zahlreicher Filme der letzten zwei Jahrzehnte ist allerdings die Stadt Berlin selbst, wie uns Rayd Khouloki in seinem Beitrag erinnert. Anhand eines Korpus von 24 Filmen, die zwischen 1995 und 2009 gedreht wurden und im Berlin der Nach-Wende Zeit spielen, versucht Khouloki eine Kartierung und eine Klassifikation dieser vielfältigen Produktion zu erstellen. Mehrere unter den von Khouloki erwähnten Filmen lassen sich übrigens selbst in die Kategorie des "Nach-Wende-Realismus" einschreiben, weil sie Berlin als sozialen Brennpunkt schildern und in Form von Einzelschicksalen ehemaliger DDR-Bürger die Nach-Wende-Zeit in Berlin problematisieren (siehe Filme wie Berlin is in Germany, Wege in die Nacht, Heidi M., Berlin calling). Gleichzeitig stellt der Autor fest, wie oft in diesen Filmen Coming-of-Age Geschichten und Geschichten von Menschen in Umbruchphasen erzählt werden; die überfordernde, pulsierende und sich rasch verändernde Landschaft vom Berlin der Gegenwart, die sich selbst in einer Art Adoleszenz befindet (145), passt gut zu dem in vielen Berlin-Filmen auftretenden Motiv der Identitätssuche junger Menschen (siehe, z.B., Filme wie Das Leben ist eine Baustelle oder Die fetten Jahre sind vorbei).

Besonders originell und subtil erscheint die von Sven Grampp angenommene Perspektive. Grampp zieht die Endszenen dreier populärer Spielfilme in Betracht (Prager Botschaft, Good bye, Lenin! und Sonnenallee) und zeigt dabei, wie unterschiedlich darin von der DDR Abschied genommen wird, so dass von "filmischer Trauerarbeit" gesprochen werden kann.

Zu den Wiedervereinigungsfilmen der ersten Stunde zählt der vielgepriesene Splatterfilm Das deutsche Kettensägenmassaker (1990) von Christoph Schlingensief, das von Benjamin Moldenhauer aufgrund der seit der 70-er Jahre verbreiteten politischen Lesart der Horrorfilme analysiert wird.




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Laut diesem in der amerikanischen Filmkritik entstandenen Deutungsmuster manifestiere sich in den Horrorfilmen "das gesellschaftlich-Verdrängte" (89) und gerade darauf greift Moldenhauer in seinem Beitrag zurück, um die "Verwurstung" der Ostdeutschen im grotesken Film Schlingensiefs als Manifestation der "verdrängte[n] Seite der Wiedervereinigung, ihre[r] Gewaltförmigkeit" (94) zu interpretieren.

Der den Band schließende Beitrag von Heinz-Peter Preußer bietet einen Rückblick auf die Literaturgeschichte der Nach-Wende Zeit und betont zugleich die Bedeutung von Filmen als Gedächtnismedien. In der heutigen kulturwissenschaftlichen DDR-Forschung ziehen übrigens massenmediale Produkte wie Filme, Fernsehen und Alltagskultur immer mehr die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich, einer Verschiebung folgend, die im Allgemeinen in den Geisteswissenschaften feststellbar ist. Filmische Narrationen bieten ausgeprägter und wirkungsmächtiger als die Romane jene "synthetisierenden Bilder" (216) der Nach-Wende Zeit, nach denen die Nation fragt. "Kognitive und emotionale Verarbeitung von gesellschaftlichen Ereignissen" – so lautet die Schlussfolgerung Preußers – wird vermehrt von narrativen Filmen geleistet, die dadurch zu "Medien der Identitätsstiftung" werden können (216).

Der Band, der auch Aufsätze zur Poetik der Erinnerung in Ingo Schulzes Neue Leben (Christian Sieg) und zur Nach-Wende Lyrik Durs Grünbeins vor der Zeitkonzeption Gilles Deleuzes (Johannes Reißer) enthält, zählt wegen der hohen theoretischen Komplexität seiner Beiträge und der Vielfalt der darin behandelten Themen zu den avanciertesten Forschungsergebnissen im Hinblick auf die Nach-Wende Narrationen.