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Agnieszka Komorowska (Bochum)



Maja Figge / Konstanze Hanitzsch / Nadine Teuber (Hg.) (2010): Scham und Schuld. Geschlechter(sub)texte der Shoah. Bielefeld: Transcript. (= Gendercodes. Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht, Band 11)



Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah über die doppelte Perspektive von Scham und Schuld ist ein Topos der Forschung, dessen Spannung sich aus der Verschränkung von individuellen Gefühlen und öffentlich geführten Diskussionen speist. Der vorliegende Sammelband Scham und Schuld. Geschlechter(sub)texte der Shoah nähert sich dem komplexen Themengebiet mit einer konzeptuellen Engführung: Zum einen, indem er explizit die Auseinandersetzung der Täter/-innen und ihrer Nachkommen mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in den Blick nimmt und zum anderen, indem er diese in Bezug auf geschlechtsspezifische Kodierungen und Erzählmuster untersucht. Die Gefühle Scham und Schuld figurieren hierbei – so der Klappentext – als "zentrale Narrationen, in denen die Verbrechen der Shoah verhandelt werden" und sind an der Schnittstelle zwischen Emotionen und ihrer Diskursivierung situiert. In den Fokus der Publikation setzen die Herausgeberinnen in der Einleitung die Untersuchung der "Bedeutung dieser Emotionen in der erinnerungskulturellen und -politischen Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus – immer im Hinblick auf den Subtext, der in und mit diesen Emotionen bzw. Begriffen transportiert wird." (9-10) Dabei stehen Subtexte im Vordergrund, die auf Festschreibungen geschlechtsspezifischer Verhaltensmuster basieren, die zu "Entlastungen, Tabuisierungen oder auch Mystifizierungen der Shoah" (10) führen können. Mit der Frage nach der Rolle von Geschlechtercodes in den Erinnerungsdiskursen der Shoah schreibt der Sammelband sich in einen spezifischen Forschungszusammenhang ein: Er versammelt die Beiträge einer im November 2008 an der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführten Tagung, die von dem Graduiertenkolleg "Geschlecht als Wissenskategorie" veranstaltet wurde, und ist in der Reihe "Gendercodes" erschienen, die u.a. von den Sprecher/-innen des Kollegs herausgegeben wird.




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Der Band nähert sich seiner Fragestellung aus interdisziplinärer Perspektive in 14 Beiträgen aus den Fachrichtungen der Gender Studies, Literatur- und Kulturwissenschaft, Soziologie, Religionswissenschaft und Psychologie, wobei mit Klub Zwei außerdem zwei Filmemacherinnen mit einem Beitrag vertreten sind. Die Publikation gliedert sich in fünf Themenbereiche, denen unterschiedlich viel Raum zukommt. Die zwei Bereiche "Intergenerationelle Weitergabe von Scham und Schuld" sowie "Schuld und Sühne: Geschlechtercodes der Religionen" stehen mit jeweils vier Beiträgen im Fokus des Sammelbandes, während die Teile "Das Ende des Zweiten Weltkriegs in Privatheit und Öffentlichkeit","Weiblichkeit und nationalsozialistische Täterinnenschaft", "Sexualität und Nationalsozialismus" nur mit jeweils zwei Beiträgen behandelt werden. Ob diese ungleiche Verteilung den Zufällen geschuldet ist, welche die Publikation von Tagungsakten mit sich bringt, oder ob es sich um eine konzeptuelle Schwerpunktsetzung handelt, wird leider nicht deutlich.

Der erste größere Teilbereich "Intergenerationelle Weitergabe von Scham und Schuld" versammelt vier Beiträge, die sich mit der Kommunikation und Tradierung von Familienerzählungen über den Nationalsozialismus beschäftigen. Den Auftakt macht ein psychoanalytischer Aufsatz von Jan Lohl über den Zusammenhang von "Gefühlserbschaft und Geschlecht". Der titelgebende Freudsche Begriff der "Gefühlserbschaft" dient Lohl dazu, "generationenübergreifenden Folgen des Nationalsozialismus auf der Täterseite" (22) nachzugehen und hierbei nach spezifisch männlichen und spezifisch weiblichen Modi der Tradierung und Vermittlung zu fragen. Lohl geht unter Rekurs auf Adorno von einer "narzisstische[n] Abwehr" der Schuld auf Seiten der Eltern aus, die ihre Schuldgefühle auf ihre Kinder projizieren (25). Schuld- und Schamgefühle werden demnach nicht explizit verhandelt, sondern unbewusst vermittelt und weitergegeben, wobei "die Zueignung von Gender und die Bildung von Gefühlserbschaften" als "zwei Aspekte ein- und desselben Prozesses" zu betrachten sind (35).

Der Beitrag von Katharina Obens unternimmt eine "Reanalyse sozialwissenschaftlicher Forschung zu Schuld- und Schamgefühlen in der dritten Generation der Täter/-innen". Obens kritisiert an bisherigen empirischen Studien, die narrative Interviews mit Jugendlichen aus der Generation der Enkel auswerten, eine mangelnde Unterscheidung von Scham und Schuld. Während die Forschung von einem unbewussten Schuldgefühl der Interviewten spricht, verfolgt Obens die These, "dass das Schamgefühl bei den Enkel/-innen der Täter/-innen die tragende Säule der generationsspezifischen Verleugnung darstellt" (40). Mit dem Begriff der Verleugnung gibt Obens ein zentrales Stichwort, das sie anstatt des häufig evozierten Moments der Verdrängung stark macht. Dieses Vorgehen ergibt sich aus ihrem Verständnis von Scham: "Diese Emotion tritt nur situativ auf, hat eine kurze Verlaufsform, Solidarität oder Mitgefühl zum Ziel und verhindert durch die einsetzende Schamabwehr eine tiefer gehende Auseinandersetzung" (42). Eine derartige Bestimmung von Scham steht quer zu Theorien, die der Scham nicht das Bedürfnis nach Solidarität, sondern nach Flucht und Austritt aus der Gemeinschaft attestieren und die gerade die Scham zu einem Moment der Selbsterkenntnis machen (Levinas, Sartre). Entsprechend wäre über knappe Verweise auf die Schamtheorie Léon Wurmsers hinaus eine genauere (Er-)klärung der theoretischen Prämissen hilfreich gewesen.




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Während die ersten beiden Beiträge eine Revision theoretischer und empirischer Forschungsliteratur unternehmen, berichten die folgenden Beiträge aus der empirischen bzw. filmischen Praxis. Der Aufsatz von Margit Reiter präsentiert die Ergebnisse ihrer Monographie Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis (2006) und fokussiert diese unter der Perspektive von "Vaterbilder[n] und Mutterbilder[n]". Reiter untersucht die Wahrnehmung der Kinder bezüglich der Verstrickungen der Eltern in den Nationalsozialismus und fragt danach, inwiefern es dabei zu "geschlechtspezifischen Zuschreibungen von Täterschaft und Schuld in der NS-Nachfolgegeneration" (62) kommt. Dabei beobachtet sie vor allem Strategien der Entlastung im Umgang mit den Vätern, die von den Kindern als potentielle Täter u.a. durch sehr eng gefasste Begriffe von Täterschaft ausgeschlossen werden. Bei der Auseinandersetzung mit den Müttern ginge es hingegen weniger darum, was diese während des Zweiten Weltkriegs getan, sondern hauptsächlich darum, was sie gewusst haben. Weisen diese Ergebnisse zunächst die Verbreitung der Stereotype von weiblichen Opfern und männlichen Tätern nach, so ist an Reiters Beitrag interessant, dass hier auch Strategien der Belastung zur Sprache kommen. Dies gilt insbesondere für die Auseinandersetzung mit den Müttern, deren strenge Erziehungsmethoden während der Nachkriegszeit von den Kindern nachträglich mit der NS-Ideologie in Verbindung gebracht werden.

Bei dem Beitrag von Klub Zwei handelt es sich um eine Vorstellung des Films Liebe Geschichte (2010) der Regisseurinnen Jo Schmeiser und Simone Bader, von dem auf der Tagung Ausschnitte vorgeführt wurden. Im Zentrum der Dokumentation stehen Frauen aus Deutschland und Österreich, die sich mit der Position ihrer Familie im Nationalsozialismus beschäftigen und dies publik machen, wie z.B. Katrin Himmler, Großnichte von Heinrich Himmler. Die Perspektive des Films basiert auch auf der theoretischen Ausrichtung der Filmemacherinnen, die Sexualität und Liebe als "politische Bereiche" verstehen (82) und diese Position fragend an ihre Protagonistinnen herantragen.

Die Kürze des zweiten Teilbereichs "Das Ende des Zweiten Weltkrieges in Privatheit und Öffentlichkeit", der nur aus zwei Beiträgen besteht, verwundert nicht allein, weil sie einem derart komplexen Themenspektrum nicht gerecht werden kann. Eine ausführlichere Behandlung des Themas erscheint umso ratsamer, als gerade für eine Diskussion der Scham Verhandlungen zwischen einem privaten Innenraum und einem öffentlichen, exponierten und exponierenden Außenraum von zentraler Bedeutung sind. Die Spannung zwischen den Grenzen des Innen und des Außen beschäftigt die beiden Aufsätze, die zwei Eckpunkte dieser Topik in den Blick nehmen: die private Erinnerung im Tagebuch (Sabine Grenz) und das Denkmal als Beispiel einer öffentlichen Erinnerungskultur (Kathrin Hoffmann-Curtius). Sabine Grenz nähert sich der häufig gestellten Frage danach, was die Zivilbevölkerung tatsächlich von den Verbrechen im Nationalsozialismus gewusst hat, indem sie Tagebuchaufzeichnungen untersucht und somit Selbstzeugnisse, die zunächst




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unter dem Vorzeichen der Authentizität stehen. Dabei interessiert sich die Autorin insbesondere für Aufzeichnungen, die von deutschen Frauen zu Beginn der Besatzungszeit verfasst wurden, als die Alliierten das Ausmaß der Verbrechen bekannt machten. Grenz fragt danach, wie die Diaristinnen diese ggf. 'neuen' Kenntnisstände reflektieren und mit dem eigenen Wissen während des Krieges abgleichen. Der Beitrag arbeitet einen komplexen Zusammenhang von Schuld, Scham und Wissen heraus. Wie Grenz zeigt, stellen die Diaristinnen sich in ihren Aufzeichnungen häufig über das Kollektiv eines nationalen 'Wir' der Deutschen dar. Dieses 'Wir' habe zwar nichts von den Verbrechen bzw. ihrem Ausmaß gewusst, sich aber als Kollektiv schuldig gemacht und schämt sich vor einem anderen, ebenso abstrakten Kollektiv der Siegermächte. Dies beschreibt Grenz als eine Strategie, die Schuld implizit verschiebt und von sich weist: "Die Scham führt dazu, dass sie [die Diaristinnen, A.K.] sich in einem Kollektiv der Passivität und der Unwissenheit verbergen, aus dem jedoch die Täter, die 'eigentlich' Verantwortlichen, ausgegrenzt werden." (117) Die Lektüre der Tagebücher kommt zu interessanten Ergebnissen. Leider wird die Beziehung zwischen den Autorinnen und ihren potentiellen Leser/-innen, die für eventuelle Entschuldungsstrategien zentral ist, nur in Ansätzen reflektiert.

Ebenfalls auf die unmittelbare Nachkriegszeit bezogen ist der Aufsatz über die "Deutsche Denkmalpolitik nach 1945" von Kathrin Hoffmann-Curtius. Sie untersucht ausgewählte Denkmäler aus den ersten Jahren nach dem Krieg und verfolgt die These, dass die damalige Denkmalpolitik auf einem vagen Opferbegriff basierte, der Schuld und Scham auf ambivalente Weise verhandelte. Der Beitrag illustriert dies u.a. an einer Reihe von Skulpturen, die einen gebeugten, sein Gesicht in den Händen verbergenden Mann darstellen. Scheint diese Geste des Schmerzes für den heutigen Betrachter die Scham über die NS-Verbrechen auszudrücken, so ist dieses Motiv in der unmittelbaren Nachkriegszeit eher im Kontext von Darstellungen zu situieren, die sich auf das Leid der deutschen Bevölkerung durch Kriegsverlust und Vertreibung beziehen. Hoffmann-Curtius erklärt diese Ambiguität aus der zwiespältigen Haltung der Nachkriegsgesellschaft zwischen den offiziellen, von den Alliierten dominierten Diskursen im Rahmen der Umerziehungsmaßnahmen und der tatsächlichen Selbstbezogenheit der Bevölkerung. Ähnlich gelagerte Ambivalenzen findet sie auch bei den Diskursen, welche die Einweihung des 'Todesengels' von Gerhard Marcks 1949 in Köln begleiten. Diese betten die Schmerzdarstellung in einen religiösen Kontext ein, der jedes Leid gleich gewichtet, und nivellieren dabei die Unterschiede, die zwischen Opfern des NS-Regimes und der deutschen Bevölkerung bestehen. Ein derartiger Opferbegriff geht einer Auseinandersetzung mit der Schuldfrage aus dem Weg.




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Der dritte Teilbereich "Weiblichkeit und nationalsozialistische Täterinnenschaft" umfasst zwei Beiträge, die sich der Rolle der KZ-Aufseherinnen und ihrer stereotypen, sexualisierten Darstellung zwischen "sadistische[r] Bestie" (160) und femme fatale zuwenden. In dem Beitrag "Verhandelte Schuld" untersucht Ljiljana Heise den ersten britischen Ravensbrück-Prozess hinsichtlich der Be- und Entschuldungsstrategien der weiblichen Angeklagten. Insofern Frauen keine offiziellen Führungsfunktionen in der SS innehatten, konnte ihre Schuld nicht aus ihrer Position hergeleitet werden. Die Anklage basierte stattdessen auf dem Nachweis der "unmittelbare[n], exzessive[n] Gewaltanwendung" (155) der KZ-Aufseherinnen. Sowohl Anklage als auch Verteidigung argumentieren aus einer geschlechtsspezifischen Position: Während die Anklage die Aufseherinnen als denaturierte Frauen darstellt, und als "those brutal types of women" (160) zu sadistischen Ausnahmen stilisiert, rekurriert die Verteidigung gerade auf das weibliche Stereotyp des unschuldigen Opfers, das nur die Befehle der männlichen Vorgesetzen befolgt. Dieses Wechselspiel aus Unschuld und Schuld prägt auch noch die Auseinandersetzung mit einem sexualisierten NS-Bild in der Generation der Enkel bzw. eine "Feminisierung der NS-Täterschaft" (171), wie Simone Erpel anhand des Fernsehfilms Gegen Ende der Nacht (1998) von Oliver Storz zeigt. Die Filmhandlung spielt in der unmittelbaren Nachkriegszeit und erzählt die tragische Liebesgeschichte zwischen einer vermeintlichen ehemaligen KZ-Aufseherin und einem jüdischen, US-amerikanischen Soldaten, dessen Eltern im KZ Majdanek ermordet wurden. Während die Protagonistin als Frau, Fremde und NS-Täterin eine exponierte Position innehat, agieren die männlichen Protagonisten im Hintergrund und sind wie die Figuren des Deserteurs Rudi und des US-Soldaten aus Fragen nach der Kriegsschuld eher ausgeschlossen. Erpel attestiert dem Film eine Strategie der "Emotionalisierung" und "Verkitschung" des Nationalsozialismus (171 f.), die ihn mit jüngeren Kino-Filmen wie Der Untergang (2004) von Oliver Hirschbiegel und Der Vorleser (2008) von Stephen Daldry verbindet. Fragen nach Schuld und Verantwortung würden hierbei entpolitisiert (172), indem zum einen über das jüdisch-deutsche Liebespaar eine implizite Versöhnung imaginiert und zum anderen die Geschichte auf die Ebene der persönlichen Schicksale und Liebesbeziehungen heruntergebrochen wird. Erpel setzt dies analog zu einem "Verdrängungsvorgang", bei dem "die Beschämung […] der deutschen Bevölkerung über die nationalsozialistischen Massenverbrechen in ein sexuelles Schamgefühl transformiert wird" (173).

Der umfangreiche Teilbereich "Schuld und Sühne: Geschlechtercodes der Religionen" versammelt hauptsächlich literaturwissenschaftliche Beiträge. Der Aufsatz "Männlichkeit und Selbstmitleid" von Björn Krondorfer untersucht Selbstdokumente führender NS-Täter, die nach ihrer Verurteilung durch die alliierten Gerichte christliche Glaubensbekenntnisse verfasst haben. Von den weltlichen Richtern zu Tode verurteilt, wenden die Autoren sich vorderhand einer religiösen Instanz zu, präsentieren sich aber tatsächlich der Öffentlichkeit in einer "Leid- und Läuterungsrhetorik" (198), die weltliche und religiöse Schuldbegriffe gegeneinander ausspielt. Der christliche Schuldbegriff wird dazu missbraucht, eine unbestimmte Schuld vor Gott zu evozieren, der sich letztendlich jeder Mensch stellen muss, so dass die tatsächliche Schuld den Opfern des NS gegenüber relativiert und schließlich abgewiesen werden soll. Krondorfer zufolge hat der Rekurs auf die religiöse Rhetorik zudem die Funktion, den Männern der "1918er Kohorte" (207) eine Introspektive zu ermöglichen, die ihrem ideologisch geprägten Männerbild von "Sachlichkeit" (208) entspricht ohne den Verdacht der "Verweichlichung und Verweiblichung" zu wecken (216). Der Versuch, sich in die Tradition der Bekenntnis-Literatur seit Augustinus einzuschreiben, scheitert laut Krondorfer nicht zuletzt daran, dass die untersuchten Autoren die Schuldeinsicht und die "Verwundbarkeit des bekennenden Subjekts" (200) verfehlen.




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Die folgenden zwei Aufsätze unterscheiden sich deutlich von den übrigen Beiträgen des Bandes, indem sie die Perspektive der Opfer des Nationalsozialismus und ihrer Nachfahren fokussieren. Entsprechend anders fällt hier die Auseinandersetzung mit Begriffen von Schuld und Scham aus. Der Beitrag von Naomi Shulman unternimmt eine Untersuchung der "Poetik der Verantwortung" in einer Lektüre des Gedichts Nah, im Aortenbogen (1967) von Paul Celan. Die Autorin liest das Gedicht vor dem Hintergrund der jüdischen Mystik und stellt ein Netz von intertextuellen Verweisen her, in dem die Figuren der Rachel sowie der Schechina zum Sinnbild des Matriarchats bzw. des Weiblichen werden. Shulman spricht vom "Schreiben nach der Shoah als potentiell schuldhafte[r] Form der Kreativität" (223) und geht somit von einem Schuldbegriff aus, der sich radikal von den anderen Beiträgen des Bandes unterscheidet.

Ein gänzlich anderer Zugang zum Umgang mit der Shoah aus der Perspektive der Opfer und ihrer Nachkommen kennzeichnet den Roman Con le peggiori intenzioni (2005) von Alessandro Piperno, den Mirjam Bitter überzeugend untersucht. Der Literaturskandal, den die Publikation des Buches ausgelöst hat, besteht laut Bitter vor allem in dem Tabubruch, "den Shoah-Diskurs mit Sexualität und religiösen Geschlechterbildern" (238) zu verweben. Dabei werden zentrale Motive der Shoah-Literatur wie der Unsagbarkeitstopos oder intertextuelle Verweise auf Werke Primo Levis auf "banale Situationen" eines Teenager-Liebesdramas in den wohlhabenden Kreisen Roms in den 1980er Jahren übertragen (239). Laut Bitter tragen die Tabubrüche dazu bei, "einen oberflächlichen philosemitischen sowie sakralisierenden Erinnerungs- und Schambewältigungs-Diskurs aufzubrechen." (241) Von einem Literaturskandal begleitet war auch die Publikation des Romans Engel sind schwarz und weiß (1992) von Ulla Berkéwicz. Tim Lörke führt die Polemiken in seinem Aufsatz "Geschlecht und Heilsgeschichte" auf die vom Feuilleton missverstandene "Antithetik des Romans" (263) zurück. Diese basiere auf einer Gegenüberstellung eines männlich codierten Begriffs von Täterschaft einerseits und andererseits eines weiblich codierten Opferbegriffs, in dem Weiblichkeit, Unschuld und religiöse Gnade zusammenfallen (262). Während das Feuilleton insbesondere die pathetische, kitschige Sprache des zur Zeit des Zweiten Weltkriegs heranwachsenden Ich-Erzählers kritisierte, da sie deutliche Züge der nationalsozialistischen Ideologie trage, sieht Lörke gerade in der Erzählstimme die Leistung der Autorin: "Der Roman […] zeigt, weil er keine Distanz walten lässt, sondern sich auf völlige Einfühlung verlegt, welche allgemein menschlichen Emotionen der Faschismus ausgenutzt hat" (261). Als problematisch bezeichnet Lörke hingegen die Teleologie, die dem Roman und seiner Antithetik zugrunde liegt, da sie das Opfer zur Voraussetzung des Erzählens mache und somit in einen Sinnzusammenhang stelle, der sich angesichts der Shoah verbietet.




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Auf den ersten Blick verwundert es, dass der Sammelband den "Geschlechtercodes der Religionen" mit vier Beiträgen einen zentralen Platz einräumt. In der Lektüre der Aufsätze wird deutlich, dass die religiös geprägten Konzepte von Schuldbekenntnis einerseits und weiblich konnotierter Scham andererseits auch die Narrationen der Shoah kodieren. Scham und Schuld sind zentrale Topoi gerade des christlichen Diskurses vom Sündenfall und der Erbsünde bis hin zum Schuldbekenntnis in der Beichte. Eine explizite Reflexion dieser Schwerpunktsetzung in der Einleitung wäre wünschenswert gewesen und hätte die Einsichten der doch sehr unterschiedlichen Beiträge perspektivieren und den Schwerpunkt somit schärfen können.

Der letzte Themenbereich des Bandes widmet sich in zwei Aufsätzen dem Zusammenhang von "Sexualität und Nationalsozialismus". Der Beitrag von Sebastian Winter scheint als Überblick über das weite Forschungsfeld konzipiert zu sein und untersucht "Sexualitätsentwürfe als Medium von Kontinuität und Bruch zwischen Volksgemeinschaft und postnazistischer Gesellschaft". Dass dem Aufsatz der Spagat zwischen Forschungsstand und eigener These leider nicht gelingt, liegt zum Teil an der Komplexität des Themas. Dem versucht Winter durch eine Beschränkung der Quellen beizukommen. Er konzentriert sich zunächst darauf, anhand von Texten und Fotos aus dem Schwarzen Korps, dem Organ der SS, das NS-Ideal einer auf "Ganzheit, Reinheit und Klarheit" (277) basierenden Sexualität nachzuzeichnen, wie sie u.a. das 'BDM-Mädel' repräsentiert. Zugleich zeigt er, wie der NS mit der "Kokotte[n]" (275) eine negative, da schamlose und lüsterne weibliche Sexualität als Negativfolie und Feindbild entwirft. Vor diesem Hintergrund versucht Winter, das 'Fräulein' der Nachkriegszeit zu situieren. Leider verliert der Aufsatz sich, indem er recht viele theoretische Konzepte von Freud über Marcuse und Adorno bis hin zu aktuelleren Arbeiten anspricht, ohne dass seine eigene Position klar wird.

Der Band schließt mit einem literaturwissenschaftlichen Beitrag über den Skandalroman Die Wohlgesinnten (2008) von Jonathan Littell. Birgit Dahlke attestiert dem viel diskutierten Roman, dessen Erzähler und Hauptprotagonist ein SS-Massenmörder ist, der mit kaltem, reuelosen Blick seine Beteiligung an den Verbrechen des Nationalsozialismus schildert, eine "pornografisierend[e] Erzählstrategie" (302). Mit Judith Butler geht die Autorin davon aus, dass die Pornographie kein Nein kenne (313) und die Lektüre trotz Widerständen des Lesers sexualisiere. Littells Roman basiert laut Dahlke auf einer voyeuristischen Perspektive, welcher der Leser sich nicht entziehen könne, da er dem "pornografisierte[n] Blickregime" (311) des Erzählers ungefiltert ausgeliefert sei.

Eine zusammenfassende Beurteilung des Sammelbandes erweist sich aufgrund der teilweise sehr unterschiedlichen Zugänge der Beiträge zu den Gefühlen der Scham und der Schuld als schwierig. Diese Differenzen lassen sich zum einen auf das Genre des Sammelbandes zurückführen. Sie scheinen aber auch dem Umstand geschuldet, dass ein konzeptueller Rahmen insbesondere dort fehlt, wo es um die Schärfe der Begriffe Scham und Schuld sowie um ihre Unterscheidung geht. Auch bei der Umsetzung der Gender-Perspektive reicht das Spektrum von Beiträgen, die darum bemüht sind, ihre Untersuchungen in den Kontext aktueller Gender-Theorien einzubetten, bis zu Arbeiten, bei denen die Kategorie 'Geschlecht' in der Argumentation eine untergeordnete Rolle spielt. Gemeinsam ist den meisten Beiträgen der Fokus auf der Darstellungsebene: Ob literarische oder filmische Erzählungen, Selbstzeugnisse, narrative Interviews oder Zeitungsartikel – stets geht es um die Narration der Gefühle. Das Verdienst der Aufsätze besteht dann auch darin, die narrativen Strategien aufzuzeigen, sie innerhalb der für sie gültigen Diskurse zu verorten und auf die Kommunikation zwischen Erzähler und Leser hinzuweisen, die zwischen Entschuldungsstrategie und Beschämung durch voyeuristische Erzählperspektiven oszilliert.