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Konstanze Jungbluth (Frankfurt/Oder)



Christiane Maaß (2010): Diskursdeixis im Französischen. Eine korpusbasierte Studie zu Semantik und Pragmatik diskursdeiktischer Verweise. Berlin: de Gruyter. (= Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, 355)



Die überaus lesenswerte Arbeit von Christiane Maaß besticht insbesondere durch ihre "konsequent korpusgestützt(e)" Basis, die eindrücklich die textsortenbezogene Auswahl und Frequenz diskursdeiktischer Mittel am Beispiel des Französischen zeigt. Vier Korpora werden der synchron angelegten Analyse zugrundegelegt, die einerseits Mündlichkeit, andererseits Schriftlichkeit, Nähesprache und Distanzsprache abbilden. Nähesprachliche Mündlichkeit wird durch einen Ausschnitt aus dem Korpus 'Oral', distanzsprachliche Mündlichkeit wird ihrerseits durch Protokolle der Sitzungen des französischen Senats repräsentiert. Zeitungs- bzw. Nachrichtentexte aus Le Monde auf der einen Seite und wissenschaftliche Fachaufsätze aus den Bereichen der Chirurgie, der Mathematik, der Spracherwerbs- und Kommunikationsforschung (ALSIC) auf der anderen Seite stehen stellvertretend für den Pol der Schriftlichkeit. Die in ihnen enthaltenen diskursdeiktischen Verweise sind minutiös hinsichtlich drei verschiedener Verweistypen – Diskursaktualisierung, Komplexbildung, Positionsbestimmung – und drei Funktionen – Verständnissicherung, Referentenstrukturierung, Argumentation – indiziert, ausgewertet und für die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung aufbereitet worden. So findet der Leser nicht nur Kuchendiagramme und Exceltabellen, die die quantitative Auswertung abbilden und die darauf aufbauende Interpretation begründen, sondern auch Beispiele, die in ihren ursprünglichen Kontext zurückgebunden sind und nur deshalb in ihrer Wertigkeit zutreffend charakterisiert werden können (vgl. Argument der Sachabhängigkeit für die Häufigkeit bestimmter numerischer Verweise auf Abschnitte in Gesetzesentwürfen, die im Senat verhandelt werden, 212).




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Der dem traditionellen Druckbild folgende, fast fehlerfreie Druck hebt sich wohltuend von manchen anderen Textlegungen ab. Er erleichtert die Rezeptionsarbeit spürbar, auch wenn einzelne Kursivierungen (126 Mitte: voilà) und einige wenige Einrückungen (180 oben 'Sie') nicht sauber gelöst sind. Ein versierter Hersteller hätte außerdem darauf geachtet, dass das Segment (0,3 % Diskursaktualisierung) in der Graphik auf Seite 113 für den Leser sichtbar bleibt.

Die Arbeit gliedert sich in sieben Kapitel, die durch eine Einleitung und eine Zusammenfassung eingerahmt werden. In den ersten beiden Kapiteln wird die Diskursdeixis als Teil der Deixis situiert, ihre Verweistypen und Funktionen werden vorgestellt. Die vier Korpora werden im dritten Kapitel beschrieben. Das diskursdeiktische Inventar, die Verweistypen und die Funktionen diskursdeiktischer Verweise werden in den drei folgenden Kapiteln entfaltet. Das letzte Kapitel ist dem Verhältnis von Diskursdeixis und Textsorten gewidmet. Im Anhang sind alle in den Korpora belegten sogenannten Komplexnomen vom Typ [une telle] approche (vgl. shell nouns, Schmid 2000; Komplexanapher, Consten/Schwarz-Friesel 2008) gelistet, wobei die diskursdeiktischen Vorkommen der weitaus größeren absoluten Zahl der tokens im Korpus gegenüber gestellt werden. Schließlich weist der Band ein Abbildungsverzeichnis und ein Sachregister neben dem bibliographischen Verzeichnis auf.

Im Hinblick auf die semantische Zuordnung, die mit dem Begriff des Komplexnomens bereits angerissen wurde, wird durch die Korpusanalyse deutlich, dass es zwar unstrittige Kandidaten für die mit Schmid auch als prime shell nouns (third order entities, Lyons 1977) bezeichneten Nomen gibt, die das "Prototypizitäts- und Frequenzzentrum der nominalen Inkapsulatoren bilden" (188–189). Auch für die Kategorie good shell nouns sind solche Nomen Kandidaten, die erwartbar mehrfach als Teil eines diskursdeiktischen Verweises in einem Korpus vorkommen. Klug weist Maaß die von Schmid eingeführte reliance-Probe als für die Überprüfung ihrer Korpusergebnisse nicht brauchbar zurück: "Gerade die weniger frequenten Formen weisen rein rechnerisch eine höhere reliance auf, etwa wenn étouffement ['Vertuschung'] im Korpus nur einmal vorkommt, dann jedoch in einem diskursdeiktischen Inkapsulator, und somit die maximal mögliche reliance (1,0) erreicht, obwohl es nach Schmids Kategorien als 'less good and peripheral shell noun' zu gelten hat" (191). Bemerkenswert erscheint mir die Erkenntnis, dass die Grenzen zwischen den drei (!) Kategorien nicht als frontiers zu konzeptualisieren sind, sondern eher in Form von einer mehr oder weniger ausgedehnten Übergangszone zwischen der ersten und zweiten Kategorie. Auch gegenüber der dritten Kategorie der peripheral shell nouns (second order entities, Lyons 1977) ist die Grenze nicht scharf zu ziehen, da die Menge der Komplexnomen "im Prinzip unbegrenzt erweiterbar" (189) ist.




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So bietet jede minimale Erweiterung eines Korpus die Chance, dass das jeweilige Nomen durch ein einziges weiteres, zweites Vorkommen in die mittlere Kategorie "aufsteigt". Die Zahl der nur einmal vorkommenden Komplexnomen im Korpus von Maaß entspricht in ihrer Gesamtheit der aller mehrfach belegten, was anschaulich zeigt, dass sich ihre Okkurrenz und ihre Anordnung schließlich im unendlichen Raum des Lexikons und der Wortbildung verliert. Komplexnomen in Inkapsulatoren bilden eine funktionale Klasse, die prototypisch zentriert, aber offen ist (vgl. 192–193).

Maaß plädiert für eine Eigenständigkeit der Diskursdeixis. Sie grenzt sich gegenüber lokalistischen Ansätzen ab, die situationsdeiktisches Zeigen als primär betrachten, und argumentiert mit Reichenbach (1947) und mit Bezug auf Heidegger für eine gemeinsame Aneignung des Raumes durch die Dialogpartner "unter Einbeziehung der umgebenden Welt" (335). Der Schlüssel hierzu liegt im Fokus auf Salienz, die mittels Sprache die Aufmerksamkeit des Hörers bzw. Lesers auf Diskursobjekte lenkt, die ihrerseits Pendants in der außersprachlichen Welt haben können, aber keineswegs müssen. "Eine Möglichkeit, die beiden Modi des deiktischen Verweisens – Situationsdeixis und Diskursdeixis – als gleichberechtigt zu beschreiben und nicht den letzteren als Ableitung oder Metaphorisierung situationsdeiktischer Verweise darzustellen, ist mit Reichenbachs Modell der token reflexives gegeben" (33). Die Verweisrichtung des deiktischen Zeichens ist eine doppelte. Demonstrativ wird auf den Referenten gezeigt, der aber nur durch einen reflexiven Bezug auf die Origo entdeckt werden kann. Die Origo selber ist im token und seinem Ort zu suchen, der nur im Grenzfall mit dem Sprecherstandort zusammenfällt. Maaß wendet sich gegen egozentristische Modelle, indem sie auf der Autonomie des sprachlichen Zeichens und seines Ortes in der Welt und im Diskurs beharrt. Ergänzend rekurriert sie auf die Theorie der mentalen Räume nach Fauconnier (1984: 35–41), die es ihr erlaubt, funktionale Unterschiede zwischen Situations- und Diskursdeixis sowie zwischen Diskursdeixis und Anaphorik herauszuarbeiten. Auf diesem theoretischen Ansatz fußen die im einleitenden Absatz bereits benannten drei Funktionen und die drei Verweistypen, wobei der Typ Komplexbildung noch weiter als Inkapsulator oder Aufzählung subkategorisiert wird (z.B. Belege 188).

Die textsortengebundene Variation diskursdeiktischer Verweise belegt augenscheinlich den Gewinn, den solcherart korpusbasierte Forschung bereit hält. Während anadeiktische Verweise im Korpus 'Oral' üblich sind, zeichnen sich wissenschaftliche Texte durch vergleichsweise außerordentlich viele kataphorische Verweise aus, ohne dass die jeweils andere Verweisrichtung für eine der Textsorten blockiert wäre.




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Am Beispiel von ce + N-là zeichnet Maaß nach, dass die Verwendung keineswegs mehr auf den code parlé beschränkt ist, sondern bereits in die journalistische Domäne vorgedrungen ist und selbst in den distanzsprachlich, wenn auch mündlich geprägten Diskurs im Senat Eingang gefunden hat, bezeichnenderweise nicht aber im Korpus 'Science' zu finden ist. Die rigorose Bezugnahme auf das repräsentativ zusammengestellte Korpus sowie das Durchschreiten von Sprachwandelprozessen durch bestimmte Textsortendomänen in einer nachzuzeichnenden Reihenfolge zeigen eindringlich, dass eine Verknüpfung empirischer und theoretischer Grammatikforschung sich wechselseitig in Frage zu stellen vermag, was auch zu einer Veränderung theoretischer Grundannahmen führen kann, und demnach insgesamt zukunftsweisend ist.


Bibliographie

Consten, Manfred / Schwarz-Friesel, Monika (2008): "Anapher", in: Hoffmann, Ludger (Hg.), Deutsche Wortarten, Berlin/New York, 265–292.

Fauconnier, Gilles (1984): Espaces mentaux. Aspects de la construction du sens dans les langues naturelles, Paris.

Lyons, John (1977): Semantics, Cambridge.

Reichenbach, Hans (1947): Elements of Symbolic Logic, New York.

Schmid, Hans-Jörg (2000): English Abstract Nouns as Conceptual Shells. From Corpus to Cognition, Berlin.