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Dietrich Scholler (Bochum / Mainz)



Die Geburt der Tour de France aus dem Geist des Sportjournalismus.
Zur medialen Konstruktion eines Kollektivsymbols*



Für Rudolf Behrens zum 60. Geburtstag



The Birth of the Tour de France from the Spirit of the Sport Press. On the Construction of a Collective Symbol
The Tour de France is the most famous bicycle race of the world. Born in 1903, the Tour was soon afterwards to become a collective symbol produced by several discourses: Among them the new anti-decadent cult of the body, the pedagogic republicanism and the revaluation of the French regions – the petites patries. These discourses made it possible that the Tour could convey the image of a new powerful Nation and thus help to overcome the decadent fin de siècle atmosphere caused to a great degree by the humiliating defeat in the Franco-Prussian War in 1871. What is more, these discourses are not only transmitted, but greatly generated by a new key medium: the sport press. Namely the newspaper L'Auto promoted the Tour by employing famous writers who reported on a daily basis on the cycling heroes. The outstanding figure among those writers is Maurice Barrès, who does, in fact, a lot more than just promoting the Tour. Supposed to be the prince de la jeunesse, he uses the new world of sports for his flag-waving campaigns in order to build up a masculine and powerful French nation.


Vereinfacht gesagt sind Kollektivsymbole solche Symbole, die von einer größeren Gemeinschaft gedeutet werden können und die das Selbstverständnis einer solchen Gemeinschaft in verdichteter Form zum Ausdruck bringen. Weniger einfach gesagt verdankt sich der Begriff einer Weiterentwicklung der Foucaultschen Diskursanalyse. Zur Erinnerung sei im Anschluss an Foucault ein Diskurs definiert als ein "System des Denkens und Argumentierens, das von einer Textmenge abstrahiert ist" und sich durch einen "gemeinsamen Redegegenstand" (Titzmann 1989: 51; Hervorh. im Orig.), "Regularitäten der Rede über diesen Gegenstand" (ebd.: 52) sowie durch "seine Relationen zu anderen Diskursen" (ebd.: 53) charakterisieren lässt. Foucault hat zum Beispiel bei seiner Analyse der Wissensproduktion des 19. Jahrhunderts festgestellt, dass den 'neuen' Wissenschaften der Biologie und der Geschichte ähnliche Denkmuster zugrunde liegen und daraus eine Episteme der Tiefe abgeleitet, die grundlegend für das Denken des 19. Jahrhunderts ist (vgl. Foucault 1966).

Diskurse werden im Anschluss an Foucault in sogenannte "Spezialdiskurse" und "Interdiskurse" unterschieden (Link 1988). Erstere vermehren sich seit dem 18. Jahrhundert explosionsartig, dabei den Erfordernissen einer modernen, arbeitsteiligen und ausdifferenzierten Gesellschaft folgend. Der Ausbreitung in der Horizontalen entspricht dabei eine sich zuspitzende Spezialisierung in der Vertikalen. Das letzte Aufbäumen des homo encyclopedicus fand Mitte des 18. Jahrhunderts statt: Diderot und D'Alembert sind als Herausgeber der Encyclopédie seine greifbaren und beinahe stereotyp genannten letzten Stellvertreter auf Erden.




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Während Spezialdiskurse dem Spezialisierungsgrad der Gegenstände entsprechend eigene 'Grammatiken' und 'Lexika' entwickeln, in denen sich Amateure kaum noch zurechtfinden werden, tendieren sie gegenläufig zu einem gewissen Maß an Reintegration, zur Koppelung mit anderen diskursiven Formationen oder schlichter ausgedrückt: Sie neigen im Allgemeinen zu kultureller Verzahnung, womit das Feld der Interdiskurse angesprochen ist. In der Literatur- und Kulturwissenschaft hat man diesen bei Foucault nicht ausgesprochenen Gedanken fruchtbar gemacht, indem nun gerade die Literatur zum bevorzugten interdiskursiven Dreh- und Angelpunkt für unterschiedliche Spezialdiskurse in den Blick genommen wurde: Literarische Texte bilden eine Art diskursive Agora, ein hybrides Forum, "auf dem die Teildiskurse, in die sich unsere Rede-über-Welt im Zuge der zivilisatorischen Entwicklung aufgesplittert hat, allesamt verhandelt werden, [...], die keinen Wahrheits-, sondern einen tentativen Anspruch transportieren." (Küpper 2001: 208)

Wenn es nun die Rolle der Literatur sein soll, die Zentrifugalkräfte der Spezialisierung zu zügeln bzw. die abdriftenden Spezialdiskurse in einer fiktionalen Welt im tentativen Probehandeln auszutarieren, dann müssten, so meine These, derartige Leistungen auch von anderen kulturellen Produkten erbracht werden können, im 20. Jahrhundert etwa von Massensportveranstaltungen. Sollte das zutreffen, dann könnte im Hinblick auf die französische Kultur die Tour de France ein möglicher Kandidat sein.

Wie aber entsteht aus der oben beschriebenen Dialektik von Spezial- und Interdiskursen ein Kollektivsymbol, das beide Sphären miteinander vermittelt? Die Antwort kann wiederum mit Jürgen Link formuliert werden:

Unter Kollektivsymbolen möchte ich Sinn-Bilder (komplexe, ikonische, motivierte Zeichen [bzw. zeichenhaft codierte Ereignisse, D.S.]) verstehen, deren kollektive Verankerung sich aus ihrer sozialhistorischen, z.B. technohistorischen Relevanz ergibt, und die gleichermaßen metaphorisch wie repräsentativ-synekdochisch und nicht zuletzt pragmatisch verwendbar sind. (Link 1988: 286)

Im Folgenden sei also der Versuch gemacht, die Entstehung und wechselvolle kollektive Bedeutung der Tour de France aus der spezifischen sozial-, techno- und medienhistorischen Konstellation im Frankreich des beginnenden 20. Jahrhunderts zu analysieren. Vorausgeschickt sei die These, dass sich der kollektive Symbolwert und die damit einhergehende soziale Kohäsionskraft der Frankreichrundfahrt aus drei Quellen zeitgenössischer Spezialdiskurse speist: aus dem neuen antidekadenten Kraft- und Körperkult, dem pädagogischen Republikanismus der dritten Republik und der Rezentrierung bzw. Aufwertung der petites patries im Sinne des Regionalismus. Diese Diskurse werden dank neuer Leitmedien in Gestalt der Sportpresse vermittelt bzw. überhaupt erst erzeugt, wobei die Radsportzeitschrift L'Auto – historischer Vorgänger der heutzutage auflagestärksten französischen Tageszeitung L'Equipe – eine wichtige Rolle spielte.1




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1 Vom Dandy-Horse zum Vitalismus-Vehikel

Das neue Sportgerät des neuen Jahrhunderts blickt auf eine längere, wenn auch wenig erfolgreiche Geschichte zurück. Wurde doch das erste Patent für ein fahrradähnliches Fortbewegungsmittel bereits im Jahre 1817 in Deutschland, 1818 dann in Paris eingereicht, von einem deutschen Baron namens de Drais. Daher der Name draisienne oder dt. Draisine, eine Art Laufrad. Im Patent werden die Vorzüge angepriesen: "À la descente, il devance un cheval allant ventre à terre" (zit. n. Bœuf 2003: 15). Aber als am 6. April die erste öffentliche Präsentation im Jardin du Luxembourg stattfindet, sind die Meinungen geteilt. Das Journal du commerce schreibt: "l'inventeur n'a eu qu'un tort, celui de faire son expérience cinq jours trop tard; il aurait dû la faire le 1er avril" (ebd.). – Die Draisine war wenig nützlich, höchstens etwas für adlige Exzentriker, weshalb man in England auch nicht zögerte sie Hobby-Horse oder auch Dandy-Horse zu taufen.


Abb. 1: Dandy-Horse


Im Anschluss an das lange Zwischenspiel des Hochrads (frz. vélocipède) verläuft die Entwicklung nach der Erfindung der bicyclette rasant, was nicht zuletzt auf die Entwicklung geeigneter Reifen zurückging. Maßgeblich beteiligt daran waren in den 1880er Jahren die Engländer Henri Lawson und John Boyd Dunlop. Gab es im Jahre 1890 gerade einmal 50 000 Fahrräder, so steigt deren Zahl bis zum Jahr 1914 exponentiell an, nämlich auf 3,5 Millionen. Das einstige Distinktionsvehikel des Dandys wird erschwinglich und beschwingt die demokratische Lokomotion. Um die Jahrhundertwende kostet das günstigste Modell 185 Francs. Zum Vergleich: Das Anfangsgehalt eines Volksschullehrers beträgt seinerzeit 100 Francs. Die Popularisierung des Radfahrens führt dazu, dass die einstige Avantgarde, die sogenannten "milieux aisés", nach neuen Distinktionsmobilen Ausschau halten und dank Aeronautik und Automobil auch fündig werden.




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Die bicyclette besitzt also aufgrund ihrer adäquaten medialen Extension des menschlichen Körpers ein höheres Maß an technohistorischer Relevanz, um mit Jürgen Link zu sprechen. Die unmittelbare Geburtsstunde der Tour de France geht freilich auf einen Medienkrieg zwischen den Sportzeitschriften Le Vélo und L'Auto-Vélo zurück. Nach einem verlorenen Plagiatsprozess musste L'Auto-Vélo den zweiten Bestandteil seines Namens streichen. Die Zeitschrift geriet dadurch in die Defensive, aber sie holte zum Gegenschlag aus. Unter der Schirmherrschaft von L'Auto findet im Jahr 1903 das erste große Rundstreckenrennen statt: die Tour de France.

Technohistorische Relevanz und mediale Promotion durch die Fachzeitschrift L'Auto allein sind aber noch kein Garant für den unaufhaltsamen Aufstieg zum französischen Kollektivsymbol. Entscheidend für den Erfolg ist die wohldosierte ästhetisierte Verquickung zwischen Körperkult und neuestem Denken, das in jener Zeit auf dem Humus von Blut-und-Boden-Philosophen wie zum Beispiel Maurice Barrès gedeiht. Der umtriebige, als prince de la jeunesse allgegenwärtige Schriftsteller hatte sich angesichts des doppelten Gründungsdesasters der III. Republik – Sedan und die blutige Niederschlagung der Kommune – eine appellative Poetik im Dienste der französischen Wiedergeburt auf die Fahnen geschrieben.2 Dieses Denken macht sich Henri Desgrange zu eigen, indem er Barrès als Sportjournalisten gewinnen sollte. Desgrange, ehemaliger Radrennfahrer und Verfasser einer Autobiographie (vgl. Desgrange 1894), ist Herausgeber und Schriftleiter von L'Auto und in dieser Funktion fast 40 Jahre lang Organisator der Tour de France. Zwar erklärt Desgrange nach den Erfahrungen um die Dreyfus-Affäre seine Fachzeitschrift zur politikfreien Zone, aber – wie Jean-Luc Bœuf und Yves Léonard (2003) gezeigt haben – dadurch wird die sportjournalistische Stimme der Tour nur umso anfälliger für die Assimilation und verflachte Reintegration zeitgenössischer Spezialdiskurse. Fortan wird L'Auto zum literalen, interdiskursiven Begleitvehikel für die physisch-moralische Regeneration des Frankreichs der Belle Époque, "pour réveiller des centaines de kilomètres endormis dans l'inaction physique, […] pour susciter partout de l'émulation, de l'énergie, de la volonté" (L'Auto-Vélo, 10. Juli 1903), wie es zum Auftakt der ersten Tour de France heißt.

Maurice Barrès wird Mitarbeiter seines Bewunderers Henri Desgrange. Zwischen 1906 und 1907 liefert er 25 Artikel. In den wenigsten ist vom Radsport die Rede. Es dominieren Porträts historischer Personen oder Schilderungen historischer Ereignisse, die der patriotischen Erbauung dienen und in der Regel auf sehr lockere Art mit sportlichen Themen verknüpft werden. Aus Anlass seiner Aufnahme in die Redaktion erhält Barrès am 9. April 1906 von Seiten der Redaktion eine Lobeshymne allerersten Ranges. Bezeichnend dabei ist, dass der Politiker Barrès mehr oder weniger ausgeblendet wird. Gefragt ist stattdessen sein




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talent vigoureux et unanimement admiré, dans la tâche d'éducation et de régénération que s'est assignée L'Auto. […] Si la politique divise, l'art comme le sport réunit. Et les arts les plus divers, les littérateurs les plus opposés de nuances et de tendances se sont toujours inclinés devant la pureté, l'ardeur et la richesse de la langue de M. Maurice Barrès.
Et la jeunesse ! Comme il la connaît ! Comme il la comprend ! Comme déjà toutes ses œuvres nous ont permis de voir qu'il aimait la guider, notre jeunesse française !
Ainsi, M. Maurice Barrès va trouver ici un auditoire respectueux, attentif, et vibrant. Nous savons, du reste, que l'éminent écrivain projette une série d'articles basés sur une idée nouvelle, et qui feront sensation dans notre jeune monde du sport et dans le monde littéraire tout entier. (L'Auto, 9.4.1906, Hervorh. D.S.)

Die wichtigsten, fett hervorgehobenen Signalwörter addieren sich zum kleinen Lexikon einer neuen Jugendbewegung, die von einem sportlich-ästhetischen Anführer zunächst einmal vereinigt, dann moralisch wiederbelebt und schließlich auf der Basis einer neuen Idee erzogen werden soll. Dabei fällt wiederum auf, dass nicht der Politik, sondern nur dem Sport und der Kunst sozialintegrative Kräfte zugesprochen werden, weil beide Sphären in stärkerem Maße über Symbole operieren. Desgrange sieht in seinen Radsportlern "[de] rudes semeurs d'énergie" (Desgrange 1903), die dem dekadenten Fin de Siècle den Rücken zukehren, diesen geschmeidig krümmen und mit vitalem Elan wie 'Windhosen' in das neue Jahrhundert sausen, begleitet von einer Sprache, die gleichfalls Züge der Unverdorbenheit und Kühnheit trägt.

Wie eine solche neue Sprache aussehen könnte, erläutert Maurice Barrès in der Ausgabe vom 19. März 1907. Dabei entwickelt er seine Vorstellungen mit Hilfe eines Negativbeispiels, das von seinem Widersacher Emile Zola stammt, genauer, aus dessen Roman La débâcle, der u.a. von den Schrecken des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 handelt.

On se rappelle l'horrible tableau et saisissante description d'une ambulance que, dans la Débâcle, nous a donnée Émile Zola. Je ne connais pas de peinture plus propre à éveiller dans les âmes la lâcheté. […] je ne puis m'empêcher de réfléchir que Zola n'a jamais assisté à la guerre, qu'il n'a jamais vu d'ambulance, que sa peinture est composée non sur des souvenirs mais sur des documents de seconde et de troisième main, qu'elle est l'œuvre non de l'expérience d'un homme mais d'une sombre imagination d'artiste. […] Il [Émile Zola, D.S.] voyait les choses et les êtres sous un aspect lamentable et dégradant. Et puisqu'il faut nécessairement faire un choix dans nos lectures, il est permis de négliger une littérature qui, au lieu de nous fortifier, nous débilite et qui, sous couleur de réalisme, nous propose une vue singulièrement incomplète sur le monde moral. (Barrès 1907)

In dieser Invektive wird Zola als jugendgefährdender Schriftsteller an den Pranger gestellt, dessen negative Darstellung des Krieges nicht der Realität entspreche, weil sie nicht auf Erfahrung beruhe und stattdessen Ausfluss einer düsteren Einbildungskraft sei. Für eine neuerliche Ertüchtigung der französischen Nation kommt der berühmte Romancier nicht in Frage, weil er, ganz im Gegenteil, die Wehrkraft des Volkes schwächt und durch seine abschreckenden Kriegsschilderungen – namentlich der Feldlazarette – das Gefühl der Feigheit weckt. In schärfstem Kontrast dazu preist Barrès die 'authentischen' Kriegstagebücher des Lyrikers, Politikers und Gesinnungsfreundes Paul Déroulède als vorbildliche Lektüre.




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Dessen Feuilles de route (1907) böten ein gänzlich anderes Bild von einem Feldlazarett: Ebendort wären 50 verwundete Franzosen anzutreffen, die weder jammerten noch seufzten, "mais qui, tous, avaient fini par être d'une bonne humeur plutôt gouailleuse." (ebd.) Zusätzlich gesteigert wird diese Atmosphäre versehrter Heiterkeit durch die unfreiwillig komische Fallerzählung eines beinamputierten Soldaten, der, um am Kartenspiel der Kameraden teilzunehmen, den Raum hüpfend durchquert, dabei seinen blutenden Stumpf in einem Eimer Wasser hinterherziehend. Daraufhin zitiert Barrès den verblüfften Zeitzeugen Paul Déroulède mit den Worten: "Non! vrai, il [le soldat amputé, D.S.] a le diable au corps!" (ebd.) Am Ende des Artikels leitet Barrès aus dem Beispiel dieser patriotischen Kriegserinnerungen seine Maximen für ein 'positives' Schriftstellertum ab:

Je me représente volontiers l'écrivain comme entraîneur, excitateur d'énergie. Et c'est pour cela […] que j'ai pris tant de plaisir à lire ces Feuilles de route [de Paul Déroulède, D.S.], ces pages détachées du carnet d'un soldat, où nul bon Français ne peut rien trouver qui heurte ses sentiments ou ses croyances, et qui sont manifestement écrites sans autre parti pris qu'une partialité jalouse pour la France et pour l'honneur. (Barrès 1907)

Wie so häufig bemüht sich Barrès am Ende eines im Grunde genommen fachfremden Zeitschriftenbeitrags um die semantische Anschlussfähigkeit an die Welt des Sports. Im aktuellen Fall wird der Schriftsteller als Trainer und energetischer Anreger konzeptualisiert. Es kann kein Zufall sein, dass im größten und wichtigsten Gedächtnisspeicher der französischen Sprache unter dem Lemma entraîneur zur Illustration der übertragenen Bedeutung als Beispielsatz ein Barrès-Zitat angeführt wird, in dem Letzterer keinen anderen als den Schriftsteller Paul Déroulède emphatisch als "entraîneur d'hommes" (Trésor, s.v. entraîneur) feiert. Von einigem Interesse scheint mir auch die vorliegende Auktorialisierungsstrategie zu sein. Während Zolas Kriegsdarstellungen als inauthentisch ausgewiesen werden, hebt Barrès in einem Attributsatz auf die situationell gebundene Materialität des Trägermediums ab – die der Feuilles de route –, insofern es sich ursprünglich um "pages détachées du carnet d'un soldat" (s.o.) handelt, die, so möchte man fast ergänzen, noch Spuren von ehrlichem Schweiß und Kämpferblut aufweisen.

Es entspricht dieser Beschwörung verloren geglaubter Tugenden, wenn die Redaktion des Radsport- und Freizeitmagazins L'Auto in den editorialen Paratexten nicht mit Kritik an zeitgenössischen Zuständen spart. Immer wieder wird das verweichlichte, intellektualisierte, überzivilisierte Frankreich aufs Korn genommen, ein Frankreich, das die Energie der Jugend bremst, etwa dann, wenn Henri Desgrange bereits in der ersten Ausgabe schreibt:

[Les générations précédentes, D.S.] ont connu l'incuriosité de la vie de collège, l'éternelle promenade en rond dans la cour du lycée, les études sans fin que ne venait jamais rompre l'attente d'une bonne partie de plein air, […] la fadeur du travail quotidien, la vie sans cesse, toujours la même, le même mariage, les mêmes enfants, le même ventre imposant du sous-chef de bureau, la somnolence du rentier, le même testament, la même rentrée dans le néant […]. (L'Auto-Vélo, 16.10.1900)




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Kaum aus der Taufe gehoben, wird das noch junge republikanische Erziehungssystem mit seinen nivellierenden und einseitig auf die Kognition setzenden staatlichen Bildungsanstalten zur Zielscheibe der Kritik. In seiner Tristesse schafft es die Grundlage für ein nicht weniger fades, braves Leben im ewigen Kreislauf zwischen Heirat, Bürostaub, feistem Vorgesetzten, mit Aussicht auf ein behäbiges Rentnerdasein, konsekutivem Einheitstestament, und am Ende steht der unspektakuläre Abgang ins Nichts. Es handelt sich um jene Welt, aus der die kleinen Angestellten Bouvard und Pécuchet in Flauberts gleichnamigem Spätroman aus dem Jahre 1881 aussteigen – im Unterschied zu dem zeitgenössischen deutschen 'Drinbleiber' Diederich Heßling, Heinrich Manns Protagonist aus dem Roman Der Untertan, der im Zeitalter der Gleichheit wie kein anderer die neue Spezies des Mittelmaßes verkörpert. Vor diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund legitimiert und überhöht Henri Desgrange seine erste Tour de France als kulturelle Großtat, als Akt der nationalen Erweckung:

Lancer des hommes à travers la France entière, rappeler par eux les joies vives que peut, que doit nous procurer la bicyclette, réveiller des centaines de kilomètres de pays endormis dans l'inaction physique, montrer aux engourdis, aux indifférents, aux timorés que le sport cycliste est toujours jeune, qu'il est toujours capable de nous étonner, susciter partout de l'émulation, de l'énergie, de la volonté, voilà ce que devait faire le Tour de France, voilà ce qu'il a fait largement. Les soleils du Midi peuvent être écrasants, les plaines de la Crau désolées, les bords de la Garonne balayés par le vent, la vie monotone de province peut reprendre, dans plus de la moitié de la France, toute la jeunesse conservera le souvenir des hommes qu'elle a vus passer comme des trombes, luttant depuis Paris avec énergie farouche. (L'Auto, 10.7.1903)

Neben den üblichen verdächtigen Versatzstücken einer vagen Lebensphilosophie klingt in diesem Zitat ein zweiter zeitgenössischer Spezialdiskurs an, der von größter Bedeutung war und ganz vortrefflich mit dem pädagogischen Impetus der Tour-de-France-Organisatoren konvergierte, mit dem republikanischen Gedächtnisort des "petit livre rouge de la République" (Ozouf 1984): Le Tour de la France par deux enfants.


2 Die Frankreichtour als pädagogische Rundfahrt

Das kleine rote Buch der Republik der Autorin Augustine Fouillé ist die massenhaft prägende Schullektüre des ausgehenden 19. Jahrhunderts und erreicht, als die gleichnamige Tour de France ins Leben gerufen wird, eine Auflage von 6 Millionen. Doch worum geht es in diesem Roman?

Unter dem Pseudonym "G. Bruno" veröffentlicht, handelt es sich um eine Art didaktischen Roman mit enzyklopädischem Einschlag. Als vorangehende Paratexte finden sich Auszüge aus den Schullehrplänen der einzelnen Fächer und entsprechende Seitenangaben für relevante Romanabschnitte. Der Roman handelt von zwei lothringischen Waisenkindern. "France", das letzte Wort des sterbenden Vaters im Ohr, verlassen diese beiden Kinder das inzwischen deutsche Lothringen, um auf der Suche nach einem Onkel das gesamte Hexagon im doppelten Sinne des Wortes zu erfahren. Da der jüngere Bruder, von dem es heißt, er sei "frêle et délicat comme une fille" (Bruno 1901: 5), mädchenhafte Züge aufweist, fügen sich die Protagonisten in das tradierte Aktantenschema (Junge + Mädchen) des (neu)romantischen Kindheitsmythos, der seit den autobiographischen Kindheitsdarstellungen Jean-Jacques Rousseaus im Frankreich des 19. Jahrhunderts eine gut belegte Konjunktur hat. Diese reicht von der Idylle in Bernardin de St. Pierres Roman Paul et Virginie über die Darstellung unentfremdeten Lebens in George Sands Landromanen bis zu den kindlichen Erlöserfiguren in Victor Hugos Les misérables.3




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Der gemeinsame Ausgangs- und Zielpunkt beider Frankreichrundfahrten besitzt eine verblüffende Evidenz. Bei Bruno werden zwei im doppelten Sinne versehrte Jugendliche auf große Genesungsfahrt geschickt. Sie stammen als Waisen aus einer Region, die nach dem Debakel von 1871 vom Erbfeind annektiert wurde und sollen den "sol mémoire de la nation" erwandern, die France "de la terre et des morts", um mit Maurice Barrès (1910) zu sprechen. Als die Tour de France gestartet wird, ist das republikanische, kollektive Unbewusste der Franzosen also bestens präpariert für eine körperertüchtigende Erkundung und Selbstvergewisserung der nationalen Scholle, denn, wie es im Vorwort des patriotischen Initiationsromans heißt: "La patrie ne représente pour l'écolier qu'une chose abstraite à laquelle, plus souvent qu'on ne croit, il peut rester étranger pendant une assez longue période de la vie. Pour frapper son esprit, il faut lui rendre la patrie visible et vivante." (Bruno 1901: 2) Genau das wird die Tour de France als jährlich wiederkehrendes Ritual erfahrbar machen: Zum Zwecke der Vermittlung und Veranschaulichung der französischen Geographie, zur Erfahrung in einem weitergehenden Sinne erhält der republikanische Zeigestock-Instituteur fürderhin in Gestalt der grande boucle einen effizienten Hilfslehrer.

Zwischen Kindertour und Fahrradtour gibt es einen weiteren Konvergenzpunkt, der in der Geschichte der Tour de France zu einem großartigen, immer wieder erzählten Mythos geronnen ist. Die Rede ist von der alten Tradition der compagnons de tour de France. Gemeint ist nicht der Grand Tour der adligen, später dann bildungsbürgerlichen Italienreise, sondern die Walz des ehrlichen Handwerkers, mit ihren Tugenden der "humilité et de discipline, de pédagogie et de patience, de courage et d'abnégation, mélanges d'individualisme et de solidarité", wie Bœuf und Leonard (2003: 68) herausstellen. In diesem Sinne Tour-Geschichte geschrieben hat der Rennfahrer Eugène Christophe, vom patriotisch-entrückten Frankreich schon bald nurmehr "Vieux Gaulois" gerufen. Eugène Christophe musste während der Tour im Jahre 1913 in Sainte-Marie de Campan vom Rad absteigen und die nächste Schmiede aufsuchen, um seine gebrochene Gabel eigenhändig zu schweißen. Nach getaner Arbeit setzte er die Etappe fort.


Abb. 2: Eugène Christophe repariert sein Fahrrad


Bezüglich pädagogisch-patriotischer Unterstützung hatte sich – am Rande bemerkt – auch die Radsportzeitschrift L'Auto ein Konzept ausgedacht. Die 25 von Maurice Barrès beigesteuerten Artikel zeichnen sich praktisch allesamt durch einen erbaulichen volkspädagogischen Zug aus und bilden eine Serie mit entsprechender didaktischer Reduktion nach dem Vorbild der images d'Epinal:

De quinzaine en quinzaine nous publierons dans ce journal le portrait d'un grand homme […] Ce seront des études sans prétentions, des images simples et naïvement coloriées, dans le goût de celles qu'on fabriquait autrefois à Epinal, non pas des images légendaires et épiques, mais plutôt des sortes de moralités étayées sur un foule de petits faits véridiques. (Barrès 1906a)

In regelmäßigen Abständen liefert der prince de la jeunesse unter der Rubrik "A vingt ans" eine Fallerzählung, die eine berühmte Persönlichkeit der französischen Kulturgeschichte vorstellt, und zwar im Alter von 20 Jahren, darunter der bereits erwähnte Victor Hugo, Louis Pasteur, Jules Michelet, Henry Beyle, Henri Regnault und andere. Der Grund für die Alterswahl ergibt sich zunächst im Hinblick auf das avisierte jugendliche Lesepublikum. Als praktischer Nebeneffekt wird aber auch die Tatsache genannt, dass diese großen Männer gallischer Geistesgeschichte in diesem zarten Alter noch gänzlich unbekannt waren, nämlich so unbekannt und voller Zukunftshoffnungen wie die jungen Leser der Zeitschrift L'Auto, "jusqu'au point ou ils se séparent décidément de nous" (ebd.). Diese Ausführungen zur Jugend großer Franzosen überblendet und aktualisiert Barrès sehr geschickt mit der aktuellen Pariser Situation vor den Fenstern seiner Wohnung, wo er Pariser Joggern (!) avant la lettre mit seinem Blick folgt:

Tous les soirs, en cette saison, je vois passer sous mes fenêtres, boulevard Maillot, des coureurs en tricot, en culottes courtes, les jambes et les bras nus. Ce sont des jeunes gens qui, après la besogne du jour, viennent s'entraîner sur ce boulevard, à la frontière du Bois. (ebd.)




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In Analogie zum "entraînement" (ebd.) großer Geister würden auch diese jungen Menschen die Grenzen ihrer Energie erproben und ständig erweitern, zumal es im Leben – und man darf wohl hinzufügen "im militärischen Leben" – darauf ankomme "de ne pas lâcher pied" (ebd.). Auch bei den folgenden Porträts wird immer wieder die Verquickung zwischen Intellekt, Körperkult und damit ineins potentieller Wehrkraftertüchtigung, wenn nicht heroischen Kampfeinsatzes gefeiert. Mitunter kommt alles zusammen, wie in dem Artikel über den Maler Henri Regnault, der, in Tanger weilend, von den katastrophalen Niederlagen im preußisch-französischen Krieg hört. Regnault bricht unverrichteter Dinge auf, um sein Land zu verteidigen. Als sich das belagerte Paris gerade ergeben will, soll er beim letzten tödlichen Ausbruchsversuch beteiligt gewesen sein. Erstaunlicher Weise glaubt Barrès dessen letzte Worte zu kennen, Worte, die vom zeitgenössischen, nach patriotischen Taten lechzenden Auto-Lesepublikum sicherlich mit hochroten Köpfen gelesen wurden:

Quand l'ordre de se replier avait été donné, il [Henri Regnault, D.S.] avait continué de tirailler. A ses camarades qui l'appelaient il avait répondu:
" – Le temps de brûler mes dernières cartouches et je vous rejoins."
[…] Il avait été frappé d'une balle à la tempe gauche et foudroyé. […] Chacun fut frappé au cœur par cette mort à la fois si belle et affreuse. (Barrès 1906c)

An diesem wie an vielen anderen Beispielen wird mehr als deutlich, dass Henri Desgranges Radsportzeitschrift sich allem Anschein zuwider nicht allein dem Sport verschrieben hatte, sondern angesichts klaffender historischer Wunden nebenbei auch volkspädagogische Trauerarbeit zu verrichten hatte. Schließen konnte diese Wunde aber letztlich nur der zurückeroberte Speer, der sie schlug, was nach dem Ersten Weltkrieg folgerichtig zur kompletten Entwaffnung des besiegten preußisch-deutschen Kriegsgegners führen sollte.


3 Erschließung und Anbindung der petites patries

Mit dem volkspädagogischen wird – wie bereits angedeutet – ein geopolitisches bzw. patriotisches Ziel verknüpft, womit ein dritter diskursiver Bereich als Ermöglichungs- und Beförderungsgrund für die neue Frankreichrundfahrt benannt ist. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kennen die Franzosen ihr Land nicht besonders gut. Kartenmaterial ist rar und selbst an den Schulen eher nicht vorhanden. Der physische Grundriss, jenes erst viel später auftauchende und schließlich als Gesichtsform von Jacques Chirac bis in die täglichen Karikaturen der Presse kolportierte Bild vom Hexagon existiert seinerzeit noch nicht. Populär sollte die anschauliche Redeweise vom "Hexagon" erst in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts werden.4


Abb. 3: Chirac als Hexagon





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Das vermenschlichte Chirac-Hexagon lässt ein Grundmerkmal erkennen, das schon Roland Barthes bei der journalistischen mise en texte der Tour de France aufgefallen ist: Nation, Region und Landstriche werden in geopolitischen Symboldiskursen personalisiert: "Les côtes sont malignes […], les étapes sont avant tout des personnages physiques, des ennemis successifs, individualisés par ce mixte de morphologie et de morale qui définit la Nature épique." (Barthes 1970: 112) Dabei verwandelt sich die Landschaft von einer "Nature-objet" in eine "Nature-substance" (ebd.: 113), zu der der epische Rennfahrerheld in der Regel in einem symbiotischen, oftmals aber auch agonalen Verhältnis steht. Am sinnfälligsten wird dieser Aspekt im heroischen Anstürmen gegen den Berg der Berge, gegen den Mont Ventoux, der bereits eine lange Karriere literarischer Bergbesteigungen hinter sich hat.5 Neben anderen Merkmalen schreibt Barthes dem markanten provenzalischen Berg unausgesprochen das der Senilität zu, insofern dessen rundes 'Haupt', seine vegetative Kahlheit und Trockenheit auf die Kahlköpfigkeit und versiegende Libido eines alten Mannes bezogen werden kann, eines Senex, der gleichwohl immer wieder aufs Neue dem Ansturm der Jugend trotzt und zugleich immer wieder aufs Neue bezwungen wird, denn: "les grands cols, alpins ou pyrénéens, pour durs qu'ils soient, restent malgré tout des passages, ils sont sentis comme des objets à traverser; […]." (ebd.)

Durch diese und andere Formen figural-narrativer Inszenierung wird das Vaterland plausibilisiert und dem lesenden Publikum vor Augen gerückt, eine kaum zu unterschätzende Kulturleistung, wenn man bedenkt, dass bis zum Jahre 1905 selbst das vorerwähnte kleine rote Buch der Republik, Le tour de la France par deux enfants, kein Kartenmaterial enthält. Insgesamt bleibt das Bild der französischen Grenzen in der Frühzeit der Tour de France sehr vage. Die Planer der Tour schaffen Abhilfe, denn in der Zeitschrift L'Auto wird die gallische Topographie eifrig illustriert und erläutert. Dabei konzentriert sich die Tour de France im Zeitalter des Imperialismus paradoxerweise auf die Erschließung der vergessenen heimischen Landstriche, der sogenannten petites patries. Unverkennbar wird diese Absicht von Henri Desgrange im Juli 1903 formuliert:

Une contrée nous tenait particulièrement à cœur, celle qui va de Marseille à Bordeaux. Hélas ! Paris sera toujours l'énorme pieuvre dont les formidables tentacules attirent tout à elle, dont le pouvoir despotique n'admet pas le partage, et Paris n'avait point permis que l'on songeât au Midi; Montpellier, Nîmes, Béziers, Narbonne, Carcassonne, Castelnaudary ne savent point encore ce que c'est qu'une grande course. […] Comment résister au plaisir d'aller voir et de resserrer par le Tour de France les liens qui nous unissaient à elles ? Faire du bien le plus possible, voir nos amis les plus éloignés, telles sont les deux idées qui donnèrent naissance à la course d'aujourd'hui. (L'Auto, 1.7.1903)

Das patriotische Unternehmen namens "Tour de France" ist demnach um einen Ausgleich zwischen Zentrum und Peripherie bemüht. Lokales und Nationales sollen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Die Tour-Karawane durchquert die vom despotischen Paris vernachlässigte Provinz und vulgarisiert mittels begleitender Zeitungsreportagen die gelehrten Diskurse des Geographen Vidal de La Blache, dessen Tableau de la géographie de la France im Jahr der ersten Frankreichrundfahrt erscheint und in dem er die berühmte Frage stellt: "La France est-elle un être géographique ?" (Bœuf 2003: 74)




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Noch bevor der Begriff hexagone existiert, promoviert die Zeitschrift L'Auto also einen Frankreichgrundriss, der sich den natürlichen Grenzen "Meer und Berge" verdankt und die dem Vaterland quasi einen natürlichen Schutz bieten. In der Frühphase der Tour, von 1905 bis 1914, wird dieser Rundkurs immer wieder befahren, mit den natürlichen geologischen Fixpunkten Brest, Bordeaux, Bayonne, Luchon, Nice, Belfort. Nach dem Ersten Weltkrieg sollten Straßburg und Metz aus den bekannten historischen Gründen als weitere 'Bastionen' hinzukommen, wie zum Beispiel bei der 'Edition' des Jahres 1927:


Abb. 4: Streckenplan 1927


Mit dem iterativen Abfahren der Grenzen werden die Grenzlinien immer wieder nachgezeichnet, und sie verankern – zuzüglich einschlägiger Journalistenpoesie – im kollektiven französischen Unbewussten die Unverbrüchlichkeit, Natürlichkeit und nicht zuletzt Schönheit dieser Landkarte, etwa dann, wenn es in L'Auto vom 5. Juli 1903 heißt: "La nuit s'avance et le mistral souffle toujours sur la plaine immense au milieu de laquelle se dresse Arles fantomatique sous la Lune." Damit wird die Tour de France à la longue zum Vehikel eines zukünftigen Tourismus, der zunächst die eigenen Landsleute, dann das angrenzende Europa und schließlich die Nation der Vereinigten Autofahrer von Amerika zu verzaubern vermag. Dieser Wandel lässt sich sehr gut an den jeweiligen Streckenplänen ablesen. Die kontinuierliche geographische Selbstvergewisserung der ersten Jahrzehnte ist spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg nicht länger nötig. An ihre Stelle treten diskontinuierliche Streckenpläne, um noch die verschlafensten Ferienregionen mit der 'fée bicyclette' aus ihrem Schlummer zu erwecken und für den Tourismus zu rüsten.




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Abb. 5: Streckenplan 1982


In jüngster Zeit besteht darüber hinaus die Tendenz, die Frankreichrundfahrt im Sinne des Europagedankens im benachbarten Ausland starten zu lassen. So etwa wurde der Prolog des gallischen Epos im Jahr 2007 in London gestartet, ein klarer Fall von francité-Export, der vom Importeur teuer bezahlt werden muss, auch wenn kaum zu hoffen ist, dass England sich dadurch in eine Radsportnation verwandelt. Doch selbst wenn dem so wäre, wäre das ein schwacher Trost für die traurige Tatsache, dass England in seiner eigentlichen Domäne, dem Fußballsport, bei den letzten Europa- und Weltmeisterschaften systematisch vom Pech verfolgt wurde und das Mutterland aller Fußballschlachten nach seinem wiederholten frühzeitigen Ausscheiden in eine abgrundtiefe Dauerdepression stürzte. Unterdessen erhält das Kollektivsymbol der Tour de France weiterhin Nahrung. Bei der aktuellen Frankreichrundfahrt hat rechtzeitig zum quatorze juillet ein Franzose das gelbe Trikot erobert:6 Thomas Voeckler. Der ist zwar in Martinique aufgewachsen und eigentlich elsässischer Abstammung, aber die Franzosen rufen ihn 'Doma Wöcklärr': Die Anbindung und Vereinnahmung der petites patries erstreckt sich also auch auf die Übersee-Départements, was beweist, dass der erzfranzösische cyclisme auch jenseits der 'natürlichen' Grenzen gepflegt wird und zur Folge hat, dass zu guter Letzt auch die DOM-ROMs im Peloton vertreten sind.


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Wille, Fabien (2003): Le Tour de France: un modèle médiatique. Villeneuve d'Asq: Presses universitaires.


Anmerkungen

* Der vorliegende Beitrag geht ursprünglich auf zwei Vorträge zurück, die ich an den Universitäten München und Stuttgart auf Einladung von Bernhard Teuber bzw. Reinhard Krüger halten konnte, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Auf gedeihliche Art und Weise fortentwickeln konnten sich nachstehende Ideen im Rahmen der von Rudolf Behrens am Romanischen Seminar der Ruhr-Universität konzipierten kulturwissenschaftlichen Ringvorlesung, in deren Verlauf mich die Bochumer Studierenden mit ihren Fragen und Anregungen auf vielfältige Weise inspirierten. Mein Dank gilt nicht zuletzt Susanne Goumegou, die mir wichtige Dokumente aus der französischen Nationalbibliothek beschafft hat.

1 Dass der Charakter der Tour de France immer auch durch das jeweils historisch dominante Mediendispositiv geprägt wurde und weiterhin geprägt wird, hat Wille (2003) am Beispiel der Radio- und Fernsehübertragung nachgewiesen. Inwiefern wir es heutzutage in Zeiten des Internets mit einer neuerlichen Modifizierung des Konstrukts Tour de France zu tun haben, wäre eine eingehende Untersuchung wert. Als prägendes mediales Subdispositiv dürfte sich dabei vor allem der Liveticker erweisen, dessen mediale Schriftlichkeit eine spezifische, an die die Live-Situation angepasste Form konzeptioneller Mündlichkeit aufweist.

2 Zu den weitreichen Implikationen dieses doppelten Gründungsdesasters vgl. Leopold (2010), dem zuzustimmen ist, wenn er feststellt, dass mit der Zerstörung der auf der Place Vendôme stehenden napoleonischen Säule und der Versailler Kaiserkrönung Wilhelms I. zwei Fanale gesetzt wurden, die für die Rückübertragung der imperialen Idee von Frankreich nach Deutschland stehen und, so wäre hinzuzufügen, mit Hilfe der neuen Bildmedien propagandistisch und nachhaltig in Szene gesetzt wurden. Kaum weniger spektakulär inszeniert wird im Gegenzug die Wiedergeburt Frankreichs in Maurice Barrès' Roman Les déracinés (vgl. Barrès 1922), und zwar anlässlich der massenwirksamen Totenaufbahrung Victor Hugos, ein Ereignis, das am 31. Mai 1885 stattfand und das in Barrès' Romanfiktion rückblickend zu einem dionysischen Gründungsakt völkischer Vergemeinschaftung hochstilisiert wird (vgl. Scholler 2010). Nebenbei sei erwähnt, dass Barrès den Père de France Victor Hugo auch der Radsportjugend als nachahmenswertes Modell für eine erfolgreiche Lebensplanung empfiehlt, indem er in L'Auto berichtet, wie einst der 20jährige Hugo mit seinem Bruder Abel eine Zeitschrift zum Zwecke der Selbstformung gründete (Vgl. Barrès 1906b).

3 Zum Wandel des literarischen Kindheitsmythos in der französischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts vgl. Michaelis (1986).

4 Zur vergleichsweise jungen Geschichte der geometrischen Metapher hexagone vgl. Smith (1969).

5 Zur Geschichte literarischer Besteigungen des Mont Ventoux am Beispiel von Autoren des 19. Jahrhunderts vgl. Neumeister (1998).




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6 In Zeiten, in denen die Radsportnation Frankreich keinen Fahrer für das Gesamtklassement vorweisen kann, ist es dennoch von jeher patriotische Ehrenpflicht, dass am 14. Juli nach Möglichkeit ein Franzose den Tagessieg herausfährt. Als ein solches mythenträchtiges Ereignis kann etwa die Bergetappe vom 14. Juli 2004 gelten, als Richard Virenque – "le roi Richard", so der Fernsehkommentator – der Grande Nation mit seinem Etappensieg in Saint Flour (Zentralmassiv) den plebejischen Nationalfeiertag krönte und die Grundlage für das gepunktete Trikot des Bergkönigs schuf. Nachdem Virenque seinen Sieg unter großen Opfern – "j'avais des crampes partout" – und in Tränen aufgelöst einem soeben verstorbenen Équipe-Mitarbeiter sowie seiner Großmutter widmete, war das der emotionale Gipfel einer denkwürdigen Bergetappe. (Vgl. dazu die Nachrichtensendung von France 2, 14.7.04, http://www.dailymotion.com/video/xfefpo_richard-virenque_sport, 15.7.11).


Bildzitate

Abb. 1: http://gorida.com/blog/?p=673, February 13th, 2009 at 1:04 am [15.7.2011]

Abb. 2: http://www.steampunktribune.com/2007/07/victorian-culture-tour-de-france.html [15.7.2011]

Abb. 3: http://intellego.fr, 16 Septembre 2006 [15.7.2011]

Abb. 4: http://en.wikipedia.org/wiki/1927_Tour_de_France [15.7.2011]

Abb. 5: http://crazy80.centerblog.net/2450457-69eme-Tour-de-France-1982 [15.7.2011]