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Annamaria Lossi (Pisa)



Susanne Kaul (2008): Poetik der Gerechtigkeit. Shakespeare - Kleist. München: Fink.



Am Anfang der platonischen Politeia klang die Frage des Sokrates nach der Gerechtigkeit an und schon die Tragödien Sophokles hoben die nicht unproblematische Zweideutigkeit dieses rätselhaften Begriffs hervor, indem sie das Spannungsfeld von dike und nomos ausweglos darstellten. Wie lässt sich das Gerechtigkeitsthema in der Literatur überhaupt genauer verstehen? Die fundamentalen Paradigmenwechsel, die die Gerechtigkeit als Ideal, Tugend oder Wert an sich, sowie als utilitaristisches Modell oder als hindernisvolle Suche nach einer Einordnung der Welt und des Ichs verstehen, führt die Literatur aller Zeiten als Grundformen menschlichen Strebens nach einem heiklen (Un-)Gleichgewicht immer wieder vor Augen. Wenn die Suche nach Gerechtigkeit und Wahrheit als lebensorientierenden und erstrebenswerten Begriffen immer noch im Zentrum des philosophischen Diskurses steht, ist das Thema „poetische Gerechtigkeit“ als alles andere als eindeutig zu begreifen.

Die Autorin dieses Buchs geht von dieser vielschichtigen Mehrdeutigkeit aus und lässt anhand der vielfältigen literarischen Werke und theoretischen Anhaltspunkte, die die Geschichte des Denkens aufzeigt, eine historisch-kritische Exploration des Begriffs zur Geltung kommen. Die Formel poetic justice, die am Ende des 17. Jahrhunderts von den Kritikern Thomas Rymer und John Dryden eingeführt wurde, bezeichnete damals eine klassische Gerechtigkeitsidee, dass, den Tugenden und Lastern der Charaktere gemäß, die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden sollten. Diese Auffassung hat in der Reihe der sich immer wieder damit befassenden literarischen Werke eine schnelle und nicht problemlose Entwicklung erfahren, deren Ergebnisse von Kaul kritisch beschrieben werden.

Ohne die alten Wurzeln der Begriffsumwandlung zur Seite zu lassen, zeigt Susanne Kaul, dass das Konzept der poetischen Gerechtigkeit in der Moderne eine zunehmende Problematisierung erfährt. In diesem Zusammenhang stellt sich Shakespeare als der Vorläufer einer gründlichen Wende, die durch die Ironisierung poetischer Gerechtigkeit Neuerungen ins Spiel mitbringt: Eine an sich kritische Ironisierung der geltenden Stellungnahme gegenüber religiösen sowie theoretischen Werten und Prinzipien wird auch im 20. Jahrhundert unter anderen Vorzeichen weiter ausgetragen. Shakespeare sei demnach der Verfechter eines bahnbrechenden Übergangs zur deutschen Romantik und bereite schon den Weg zu Kleist vor.




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Aufgrund dieser Auffassung, werden Shakespeare und Kleist trotz all ihrer Differenzen zu den maßgeblichen Autoren, die in übereinstimmender Weise „das dichterische Ideal einer Gerechtigkeit, in der die Guten belohnt, die Bösen bestraft werden, […]“ wesentlich zurückweisen (11).

Das moderne, doch immer wieder sich weiter gestaltende Gerechtigkeitsbild der Literatur wird in den ersten drei Kapiteln diachron dargestellt (Göttliche Gerechtigkeit, Gerechtigkeit als an sich Gutes, Nomos und Dike, 25–80). Im ersten Kapitel zeigt die Autorin, wie der Begriff der göttlichen Gerechtigkeit schon in Hiobs Buch die Auffassung des Gerechten auf einen Tun-Ergehen-Zusammenhang stützt und dass es immer um eine Gerechtigkeit geht, die Gott als Hauptfigur aufzeigt. Durch Melanchthon und die Paulusbriefe gelangt Kaul im zweiten Kapitel zu Kierkegaards Paradoxien und erläutert durch Hebbels und Platons Gyges-Geschichte die positive ("erstrebenswerter" doch "beschwerlicher" Wert an sich, 52) Charakterisierung des Gerechtigkeitsbegriffs als Güte an sich.

Das Spannungsfeld zwischen Gerechtigkeit und Recht bzw. Dike und Nomos, nämlich das von Montaigne auch später ausgesprochene Auseinanderfallen beider, wird anhand der nach wie vor paradigmatischen Tragödie Antigone neben den klassisch-theoretischen Überlegungen Aristoteles und Montaignes im dritten Kapitel vorgestellt.

Die fortschreitende Umwandlung der poetischen Gerechtigkeit wird aber durch die Ironisierung als zugleich methodologisches und sachliches Mittel der Umgestaltung von Kaul herausgearbeitet, indem nicht nur die verschiedenen, theoretischen Gestalten der Gerechtigkeit – vom göttlichen zum menschlichen Ideal, von der Theologie zur Ethik, und im Gegenzug zu den platonischen und aristotelischen Formulierungen – vorgestellt werden, sondern eher indem sie die Neuartigkeit der auf die literarische Bühne tretenden Typen und Charaktere in der modernen Literatur durch die Ironie fokussiert.

Das sozusagen ethisch gewordene Problem der poetischen Gerechtigkeit wird durch die Ironisierung als literarisches Mittel bei Shakespeare und Kleist in den zentralen Kapiteln derart herausgearbeitet (vgl. Kritik der Gerechtigkeit bei Shakespeare und Kleist und Ironisierung der Poetischen Gerechtigkeit bei Shakespeare und Kleist, 81–222), dass die poetische Gerechtigkeit in einem neuen Licht erscheint. Im vierten Kapitel geht Kaul besonders auf die Erörterung der Gerechtigkeitsdarstellung ein, wie sie im Anschluss an Shakespeares und Kleists Charaktere ironisch und kritisch auftritt. Damit gelingt es ihr, zu der überzeugenden These zu gelangen, dass die zunehmende Ironisierung der poetischen Gerechtigkeit in der Moderne derart den problematischen Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Gewaltlegitimierung offenbart, dass es – insbesondere im 20. Jahrhundert – keinen Platz mehr für eine positive Bestimmung der Gerechtigkeit gebe.





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Hamlets "Pyrrhussieg über die Ungerechtigkeit" hat sich tragisch ergeben; die Verweigerung des "Gnadenzaubers" gegenüber dem rachsüchtigen Shylock in Merchant of Venice wird als eine Niederlage des bis dahin vorherrschenden Gerechtigkeitsgefühls angesehen. Auch bei Kleist stellt sich eine, bei Rousseau schon in einer Keimgestaltung erkennbare, natürliche 'Gerechtigkeit' einer menschlichen (Nicht-)Ordnung und deren verfallenden Institutionen wie der Kirche und dem Staat in Das Erdbeben in Chili entgegen; die gewaltsame Umdrehung der Gerechtigkeit in gewalttätigen Taten lässt den Michael Kohlhaas Kleists von diesem Blickwinkel her zum Grundmuster unter anderen literarischen Beispielen werden.

Im fünften Kapitel findet die Selbstaufhebung der Gerechtigkeit ihre prägnante Darstellung in der Diskussion von Measure for Measure (131–170), in der eben kein Kriterium bzw. Maßstab mehr greifbar erscheint. Durch die Charaktere in seinen Stücken Prinz Friedrich von Homburg (171–201), und Die Familie Schroffenstein, (202–218) wie auch in der Prosaskizze Der Griffel Gottes (219–224) kommt die typische, scharfe, bei Kleist im Zusammenhang mit dem Tragischen angewendete umgestaltende Ironie zum Vorschein als diejenige dekonstruktive Methode, die keine moralische Kennzeichnung der Literatur erlaubt. Das ist ein sehr interessanter Punkt, um den die ganze Analyse kreist: Anders als andere, in den letzten zwanzig Jahren schon erschienen Studien über die poetische Gerechtigkeit innerhalb der lebendigen Debatte um Literatur und Moral, wie die sogenannten neuaristotelischen Studien, betont Kaul – mit Recht u. E. –, wie die Ironisierung der poetischen Gerechtigkeit keine bestimmte moralische Konsequenz mit sich bringt. Der moralische ist nur einer unter anderen, vielfältigen Aspekten. Damit wird zugunsten des Interpretationsspiels vermieden, der Literatur eine ausschließlich moral-ethische Aufgabe zuzuschreiben.

Zum letzen, sehr interessanten Teil des Buchs gehören zwei Kapitel, die auf die Gerechtigkeit im Zeichen von Technik und Terror (225–248) am Beispiel von Kafkas und Camus Werken und auf die Aktualität der Gerechtigkeit in Literatur und Film (249–274) eingehen. Radikaler als in der Vergangenheit erscheint im 20. Jahrhundert die Neigung, den engen Zusammenhang von Gerechtigkeit, Gewalt und Terror aufzuzeigen. Die von Heidegger u. a. schon gekennzeichnete Zeit der Technik und der Wissenschaft und die entsprechende Entmenschlichung des Menschen charakterisieren die „neuen Helden“ der Erzählung In der Strafkolonie von Kafka und des Dramas Les Justes von Camus. Die Gerechtigkeit wird nicht mehr als Wert bzw. Paradigma hervorgehoben, sondern kommt zur selben Vernichtung paradoxerweise um ihrer eigenen Bejahung willen.

Die gesamte Studie zeigt eine umfassende Exploration der theoretischen, literarischen und bildlichen Phänomene der Gerechtigkeit auch dank der Vergleichverhältnisse zwischen Literatur und gegenwärtigen Filmen, die im letzen Kapitel vorgestellt werden.

Die Vieldeutigkeit der Literatur, die von Adorno genannte Inkommensurabilität des Ästhetischen, wird in dieser Abhandlung erneut dargestellt. Der Autorin gelingt damit die Komplexität und die unzahlreichen Umwandlungen des Begriffs poetischer Gerechtigkeit prägnant zu entfalten und einigermaßen zu systematisieren, doch ohne dass der sich in der Literatur als Variationsbreite bietende Reichtum vermindert oder banalisiert wird.