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Christine Blauth-Henke (Tübingen)



Pierre Larrivée (2008): Une histoire du sens. Panorama de la sémantique linguistique depuis Bréal. Bruxelles: Peter Lang.



Die Vergangenheit analysieren, um die Gegenwart (besser) zu verstehen und die Zukunft zu gestalten – so könnte man das programmatische Ziel der 2008 unter dem Titel Une histoire du sens. Panorama de la sémantique linguistique depuis Bréal erschienenen Monographie zur Geschichte der Semantik von Pierre Larrivée umschreiben. Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass die gegenwärtige Diskussion in der Semantik kontrovers und auch für Spezialisten immer unüberschaubarer sei, was Larrivée auf das Ende der „sukzessiven Hegemonien“ des Strukturalismus und des Generativismus und den damit verbundenen Verlust eines sicheren Rahmens zurück führt (9). In dieser Situation soll die Beschäftigung mit der historischen Entwicklung der Semantik und die Analyse ihrer Herausbildung Orientierung geben. Larrivée verfolgt deshalb ein doppeltes Ziel: Zum einen soll die Entwicklung und Strukturierung der nicht formalen Semantik seit Bréal – aus einem wie er sagt sehr frankophonen Blickpunkt (10) – dargestellt werden. Darüber hinaus sollen jedoch auch die wesentlichen Fragen, die diese Disziplin strukturieren, herausgearbeitet und die bisherigen Antworten dargestellt werden, um schließlich die noch bestehenden Probleme aufzuzeigen (10). All dies geschieht in Hinblick auf die Nützlichkeit für die aktuelle Diskussion: „Cette double réalisation informera les débats actuels de la discipline“ (15). Diese Begründung der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der Geschichte der Semantik ausgehend von der Gegenwart ist für sich genommen kein Novum: Bereits in der ersten monographischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der linguistischen Semantik beklagte Terrence W. Gordon (1982: VI) „the neglect of earlier scholarship, resulting from the assumption that such scholarship is either non-existent or irrelevant, when in fact it not only exists but developed out of many of the same objectives as current research“. Gordon ging es allerdings vorrangig darum, überhaupt ein Bewusstsein für die Historizität der Disziplin und der Fragestellungen zu schaffen. Grundlegend neu ist hingegen die Verbindung dreier Aspekte, die Larrivée anstrebt: seinen Beitrag sieht er weder ausschließlich als „vulgarisation des théories“, noch als reine „présentation des problématiques de la discipline“ oder „histoire des sciences“, sondern vielmehr als Verbindung dieser Aspekte.




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Die Gegenüberstellung der beiden Monographien zur Geschichte der Semantik ist auch in anderer Hinsicht von Interesse, illustrieren sie doch die Veränderungen im Bereich der Historiographie der Linguistik seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts: Die Zeitspanne von circa 25 Jahren, die zwischen der Publikation beider Werke liegt, zeichnet sich zum einen durch eine teilweise enorme Zuwachsrate im Bereich des Publikationsaufkommens zur Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung aus.1 Zum anderen wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die theoretischen Grundlagen und Methoden der Sprachgeschichtsschreibung zunehmend diskutiert würden (Schmitter 2003: 15f.) und gerade Arbeiten mit größerem theoretischen Anspruch sich darum bemühten, „die alten oder neugewonnenen Funde unter dem Gesichtspunkt von ‚Kontinuität und Bruch‘, ‚Paradigma und Paradigmenwechsel‘ zu interpretieren“ (Schlieben-Lange 1984: 19). Diesen theoretischen Anspruch findet man auch bei Larrivée, der sich auf dieser Basis insbesondere auch von der früheren Arbeit Gordons abgrenzt (16). Ausgangspunkt ist dabei die angenommene Strukturierung der Forschung in Paradigmen: Die Entwicklung von Fragen – und auch der Versuch Antworten zu finden – würde von Individuen im Rahmen bestimmter Paradigmen und vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen und kulturellen Gegebenheiten geleistet (9). Und so geht es Larrivée denn in der Folge auch nicht nur um eine bloße sukzessive Darstellung verschiedener individueller Ansätze und der jeweils erarbeiteten Antworten, sondern vielmehr um die Fragen und die gemeinsamen Voraussetzungen, die diese individuellen Ansätze verbinden.

Die Forschung von Bréal bis zum heutigen Tag gliedert sich seiner Ansicht nach in vier Paradigmen, die er in der Folge eingehender darstellt: das psychologistische Paradigma, das strukturalistische Paradigma, das Paradigma der Enunziation und das kognitivistische Paradigma. Larrivée legt Wert darauf, dass die Darstellung der Paradigmen nicht durch die Brille der aktuellen Forschung gesehen und bewertet wird, vielmehr sollen die Ansätze aus sich selbst heraus, aus ihren historischen (Entstehungs-)Bedingungen heraus beschrieben und verstanden werden (12), die Verwendung aktueller Terminologie soll aus diesem Grund vermieden werden. Vermieden werden soll auch die „Idealisierung“, also die Vorstellung, dass alle Ansätze, die zu einem Paradigma gehören oder sich auf einen bestimmten Autor berufen, identisch seien. Vielmehr soll die Individualität der einzelnen Ansätze innerhalb der Paradigmen dargestellt werden (11). In Hinblick auf die Zuordnung einzelner Autoren zu den Paradigmen hält Larrivée einleitend noch zweierlei fest und begegnet damit von vorneherein möglichen Kritikpunkten: Zum einen erschöpfe sich die Zahl der möglichen Autoren nicht mit den in der Monographie behandelten, explizit nennt er Victor Henry, Otto Jespersen, Jacobus van Ginneken, Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf für das psychologistische, Louis Hjelmslev und Eugenio Coseriu für das strukturalistische und Knud Lambrecht sowie Walter de Mulder für das kognitivistische Paradigma (14). Zum anderen geht er auf mögliche Kritikpunkte in Bezug auf die Zuordnung einzelner Autoren zu einem Paradigma ein. Diesbezüglich hält er es zwar für möglich, dass ein Autor sukzessive zu unterschiedlichen Paradigmen gehört (so wird beispielsweise Pottier hauptsächlich als Vertreter des psychologistischen Paradigma behandelt (41ff.), dennoch aber auch zusammenfassend beim strukturalistischen Paradigma erwähnt (85)). Hingegen sei die Verbindung zweier Paradigmen in ein und der selben Arbeit nicht möglich, da die innerhalb der jeweiligen Paradigmen eingenommenen Perspektiven auf Sprache sich gegenseitig ausschließen.




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Abgesehen von der Einleitung umfasst das Buch vier den oben erwähnten von Larrivée identifizierten Paradigmen entsprechende Kapitel sowie eine Zusammenfassung. Auffällig ist zunächst der unterschiedliche Umfang der einzelnen Kapitel: das erste Kapitel zum psychologistischen Paradigma umfasst 40 Seiten, dem strukturalistischen Paradigma und dem Paradigma der Enunziation sind je nur knapp 20 Seiten gewidmet, das vierte und letzte Kapitel zum kognitivistischen Paradigma erstreckt sich hingegen über fast 50 Seiten. Alle vier Kapitel sowie deren Unterkapitel sind gleich aufgebaut: Einleitend werden die das jeweilige Paradigma vereinenden Grundgedanken knapp zusammengefasst. Es folgt die Darstellung einzelner Autoren,2 wobei teilweise nochmals Unterkapitel eingefügt werden, die die Filiation der Autoren widerspiegeln.3 Jeder Autor wird zunächst anhand kurzer biographischer Informationen eingeführt, bevor die Hauptlinien der jeweiligen Forschung dargestellt werden. Den Abschluss der Kapitel bildet eine Zusammenfassung, die gleichzeitig auch eine Evaluation des jeweiligen Paradigmas, eine Darstellung der jeweils sich ergebenden Probleme enthält und aufzeigt, inwiefern neue Paradigmen auf Grund dieser Probleme entstanden sind. Nützlich sind die am Ende des jeweiligen Unterkapitels befindlichen – leider teilweise etwas nachlässig formatierten und bei fremdsprachlichen Titeln gelegentlich fehlerhaften4 – bibliographischen Angaben, die auch über die jeweiligen Nachweise hinausgehend als Anregung zur Weiterbeschäftigung dienen können.

Es erscheint an dieser Stelle nicht sinnvoll, die Inhalte der jeweiligen Kapitel wiederzugeben. Vielmehr sollen zunächst lediglich die Leitgedanken der Paradigmen sowie die jeweils behandelten Autoren kurz genannt werden. Daran anschließend sollen die Kapitel in Hinblick auf die Ziele, die sich Larrivée gesetzt hat, kurz besprochen werden.

Das psychologistische Paradigma ist laut Larrivée dadurch gekennzeichnet, dass Sprache als Spiegel der Seele verstanden wird. Diese Sichtweise identifiziert er ausgehend von Bréal bei Henri Frei, Ferdinand Brunot, Jacques Damourette und Édouard Pichon, Gustave Guillaume, Henri Adamczewski, Bernard Pottier, Jacqueline Picoche, Robert Lafont und Charles Bally, wobei er die jeweiligen individuellen Ausprägungen teilweise sehr detailliert darstellt und auch auf weitere Einflüsse, denen die unterschiedlichen Autoren ausgesetzt waren, eingeht. Diese insgesamt differenzierte Herangehensweise zeigt sich beispielsweise im Kapitel zu Bally: hier wird einerseits auf den Einfluss Saussures verwiesen, gleichzeitig jedoch überzeugend dargestellt, dass es sich beim Werk Ballys um eine „synthèse de ce mouvement [=du psychologisme] à la lumière de la révolution saussurienne“ (58) handelt. Als problematisch sieht Larrivée insbesondere die mangelnde Erklärungskraft des Paradigmas (60), die dann auch zur Entstehung des Strukturalismus geführt habe. In Frankreich bleibt das psychologistische Paradigma im Rahmen des Guillaumismus von Bedeutung.




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Das strukturalistische Paradigma definiert Bedeutung als Opposition zwischen den Zeichen einer Sprache (14). Die Entwicklung dieser Sicht verfolgt Larrivée von Saussure ausgehend über Algirdas Julien Greimas, François Rastier bis zu Anna Wierzbicka mit einem Ausblick auf Wortfeld (Jost Trier), Semanalyse (Bernard Pottier) und amerikanische Komponentenanalyse (Jerrold J. Katz / Jerry A. Fodor) im Rahmen der Zusammenfassung.5 Insbesondere Larrivées Ausführungen zu Rastier weisen darauf hin, dass seine Vorstellung der vier Paradigmen nicht so verstanden werden kann, dass ein Paradigma das andere ablöst: „L’extension des propositions, l’utilité analytique des concepts, l’élégance de leurs relations placent le travail de Rastier au premier rang des développements actuels en sémantique“ (75).

Ausgangspunkt des Paradigmas der Enunziation ist laut Larrivée eine Neubewertung der Dichotomie von langue und parole. Die parole wird dabei nicht mehr nur als Konsequenz, sondern vielmehr als Bedingung der Strukturierung der langue gesehen(90). Obgleich der Terminus énonciation bereits bei Bally verwendet wird, sieht Larrivée den Ursprung des Paradigmas bei Émile Benvéniste. Darüber hinaus ordnet er diesem Paradigma die Theorie der Argumentation mit den Arbeiten Oswald Ducrots, Jean-Claude Anscombres und Henning Nølkes sowie die Théorie des opérations énonciatives Antoine Culiolis zu. Das Paradigma unterscheidet sich von den beiden ersten in institutioneller Hinsicht dadurch, dass es im Wesentlichen in der frankophonen Forschung Verbreitung gefunden hat, die Arbeiten Ducrots und Benvénistes wurden darüber hinaus im romanischsprachigen Raum rezipiert, wohingegen die angelsächsische Forschung lediglich einzelne Analysen, nicht aber den theoretischen Rahmen aufgegriffen hat (112). Dies führt Larrivée darauf zurück, dass die romanischen Kulturen den zwischenmenschlichen Beziehungen mehr Bedeutung schenken, als die angelsächsischen (ibd.).Wie auch im zweiten Kapitel wird deutlich, dass es sich nicht um ein ‚totes‘ Paradigma handelt, da einige der besprochenen Autoren (insbesondere der letztgenannte Nølke) aktuell im Rahmen dieses Paradigmas forschen.

Abschließend und am ausführlichsten widmet sich Larrivée dem kognitivistischen Paradigma, welches aus der Kritik einer von der Psychologie des Subjekts losgelösten Semantik hervorgeht und einer mechanistischen Auffassung des Geistes anhängt (14, 115f.). Larrivée zeigt hier insbesondere auch die Bezüge zu anderen Paradigmen auf, indem die vorgestellten Ansätze teilweise als Weiterentwicklungen der im Rahmen anderer Paradigmen entwickelten Theorien dargestellt werden. Dies gilt insbesondere für die frankophone Forschung in der Nachfolge Culiolis, die er als ‚suites cognitives‘ bezeichnet. Vorgestellt werden in diesem Rahmen die Ansätze von Catherine Fuchs und Pierre Cadiot. Sodann widmet er sich der kognitiven Linguistik. Ausgangspunkt ist dabei die Kontroverse zwischen Chomsky einerseits und Langacker, Lakoff und McCawley andererseits, aus der Chomsky als ‚Sieger‘ hervorgeht. In der Folge entsteht eine kognitive Linguistik, die sich als Gegenmodell zu Chomskys generativer Grammatik sieht. Larrivée stellt hier zunächst die einschlägigen anglophonen Autoren vor, die diese Richtung maßgeblich mitgeprägt haben (Langacker, Fillmore, Lakoff). In insgesamt vier weiteren Unterkapiteln stellt er unterschiedliche Ausprägungen der Debatte vor. Larrivée weicht hier zum Teil stark von seinem ansonsten durchgängig angewandten Aufbau der Kapitel und Unterkapitel ab: Wird zunächst Fauconnier als ‚Konkurrent‘ Lakoffs in Hinblick auf die Analyse der Metapher vorgestellt, sind die darauf folgenden Unterkapitel immer weniger einem Autor gewidmet, als vielmehr grundlegenden Fragestellungen, unter denen verschiedene Autoren zusammengefasst werden. Es folgt zunächst ein gemeinsames Kapitel zu Leonard Talmy und Ray Jackendoff, sodann ein Kapitel mit dem Titel Cognition, diachronie et grammaticalisation, in dem zwar vorrangig Elizabeth Closs Traugotts Ansatz vorgestellt wird, gleichzeitig wird aber ein knapper Überblick über die darauf basierende Grammatikalisierungsforschung gegeben. Den Abschluss bildet ein Kapitel mit dem Titel Typologie et cognition in dem die Arbeiten von Martin Haspelmath und Talmy Givón vorgestellt werden. Nach diesem – im Gegensatz zur eingangs postulierten Betonung der frankophonen Perspektive stehenden – ‚Ausflug‘ in die anglophone und internationale Forschung, widmet sich Larrivée in zwei weiteren Kapiteln wiederum frankophonen Ausprägungen des kognitivistischen Paradigmas und stellt dabei die Forschung Georges Kleibers sowie Vincent Nyckees‘ vor.




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Betrachtet man zusammenfassend die von Larrivée vorgestellten Autoren und Theorien, so wird zunächst deutlich, dass er einen recht weiten Begriff von Semantik vertritt, weshalb zuweilen der Eindruck entstehen kann, dass die identifizierten Paradigmen, nicht nur die semantische, sondern potenziell die gesamte sprachwissenschaftliche Forschung strukturieren (was vermutlich auch nicht ganz falsch ist). Wie oben erwähnt strebt Larrivée die Verbindung von „vulgarisation des théories“, „présentation des problématiques de la discipline“ und„histoire des sciences“ an. Dieses Unterfangen ist zwar über weite Strecken überzeugend gelungen, und der Band kann in Hinblick auf alle drei Fragestellungen mit Gewinn gelesen werden. Gleichzeitig stellt es meines Erachtens aber auch die größte Schwäche des Buches dar. Drei so unterschiedliche Zielsetzungen erfüllen zu wollen gleicht einem Spagat und so ist es nicht verwunderlich, dass die hier besprochene Monographie nicht immer allen Aspekten gerecht werden kann. In Hinblick auf die angestrebte Vulgarisierung der Theorien ist festzustellen, dass einige Kapitel (so beispielsweise Kapitel 2.1 zu Saussure) auch als Einführung für Studierende dienen könnten – gleichzeitig aber auch nicht viel Neues bringen – während andere (beispielsweise die Ausführungen zu Guillaume in Kapitel 1.4 und auch große Teile des dritten Kapitels zum paradigme de l’énonciation) auf einem wesentlich höheren Reflexionsniveau einsteigen. Was den wissenschaftsgeschichtlichen Aspekt betrifft, so fällt auf, dass insgesamt sehr wenig direkt an den Primärtexten gearbeitet wird, wobei sich die einzelnen Kapitel auch diesbezüglich stark unterscheiden. Betrachtet man exemplarisch die im ersten Kapitel zum paradigme psychologiste vorgestellten Autoren, so wird zwar immer wieder Bezug auf offensichtlich von diesen diskutierte Beispiele genommen, Verweise auf die jeweiligen Stellen in den Primärtexten fehlen jedoch völlig (so in den Unterkapiteln zu Bréal, Frei, Guillaume, Adamczewski, Pottier, Lafont und Bally). Lediglich im Unterkapitel zu Brunot finden sich derartige Verweise. Hingegen werden die relevanten Stellen beispielsweise im Kapitel zu Saussure (2.1) ausführlich belegt. Die Darstellung der Probleme des Faches wiederum birgt eine weitere Gefahr: so gibt Larrivée einleitend zwar an, mit seiner Darstellung keinen theoretischen Ansatz rechtfertigen zu wollen (15f.), gerade in den Zusammenfassungen am Ende der Kapitel sind jedoch im Sinne der Darstellung der Probleme des Faches teilweise doch sehr deutliche Wertungen enthalten. Hier zeigt sich der Widerspruch zwischen dem Bestreben, die Ansätze aus sich und aus ihrer Zeit heraus zu verstehen einerseits und dem Vorhaben die Ziele für zukünftige Untersuchungen ausgehend von Problemen und Schwächen der bisherigen Theorien abzustecken andererseits. Gut gelungen ist insgesamt das Gleichgewicht zwischen der Demonstration der Zugehörigkeit der Autoren zu den Paradigmen einerseits und der Darstellung ihrer Individualität andererseits. So wird immer wieder auch gezeigt, dass es Spannungsfelder und Übergänge zwischen den Paradigmen gibt – und zwar gerade in den von Larrivée eingangs beschworenen „entreprises individuelles“. Ausgehend von diesen Darstellungen stellt sich die Frage, wie die Übergänge zwischen den einzelnen Paradigmen gestaltet sind. Die Einzelanalysen legen nahe, dass es sich hier häufig nicht um Paradigmenwechsel im Sinne von Brüchen handelt, sondern vielmehr um kontinuierliche Weiterentwicklungen ausgehend von der Kritik einzelner Aspekte.




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"La science est communément comprise comme apportant des réponses simples, solides, sans ambiguïté. […] Ce ne sont pourtant pas de réponses définitives que propose l’activité scientifique, mais bien plutôt le développement de questions."(9) – so Pierre Larrivées Credo zu Beginn der Einleitung. Wenngleich die von Larrivée gegebenen 'Antworten' in Hinblick auf die erwähnten Kritikpunkte in manchen Fällen unbefriedigend erscheinen, ist sein Anliegen, die Strukturierung der Disziplin in Paradigmen aufzuzeigen, um somit zur Orientierung in einer immer unüberschaubareren Forschung beizutragen ein sicher berechtigtes. Und so ist auch im Falle des vorliegende Bands das Stellen der Frage das erste Verdienst; auch in Hinblick auf die Orientierung sowie als Ausgangspunkt für eine weitere Erforschung des Gebiets ist er jedoch eine lohnenswerte Lektüre.


Bibliographie

Gordon, Terrence W. (1982) A History of Semantics. Amsterdam / Philadelphia: Benjamins.

Haßler, Gerda (2000) "Les séries de textes dans l’histoire de la linguistique". In: Englebert, Annick et al. (Hg.) Actes du XXIIe Congrès International de Linguistique et de Philologie Romanes, Bruxelles, 23-29 juillet 1998, Vol. I: L’histoire de la linguistique, médiatrice de théories. Tübingen: Niemeyer, 97-104.

Schlieben-Lange, Brigitte (1984) „Vom Vergessen in der Sprachwissenschaftsgeschichte. Zu den 'Ideologen' und ihrer Rezeption im 19. Jahrhundert“. In: LiLi 53/54: Wissenschaftsgeschichte der Philologien: 18-36.

Schlieben-Lange, Brigitte (1996) „Über die Notwendigkeit des Diskurs-Begriffs in der Sprachwissenschaftsgeschichte“. In: Brekle, Herbert et al. (Hg.): A Science in the Making, Münster: Nodus, 233-241.

Schmitter, Peter (2003) Historiographie und Narration. Metahistoriographische Aspekte der Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Linguistik. Tübingen: Narr.




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Anmerkungen

1 Schmitter (2003: 15f.) verzeichnet ausgehend von einer Sichtung der in der Bibliographie linguistique verzeichneten Publikationen gerade für die Zeit zwischen 1982 und 1987 die höchste Zuwachsrate im Publikationsaufkommen in diesem Bereich.

2 Die Titel der Unterkapitel entsprechen in aller Regel den Namen der Autoren, seltener werden Autoren unter einem allgemeineren Titel behandelt und wenn dies geschieht, so meist unter dem Titel der von ihnen repräsentierten Theorien (so beispielsweise im Falle der Théorie des opérations énonciatives Culiolis (Kapitel 3.3) oder der Suites cognitives de la Théorie des opérations énonciatives (Kapitel 4.1)).

3 So werden beispielsweise die Adamczewski, Pottier, Picoche und Lafont behandelnden Unterkapitel dem Kapitel zu Guillaume zugeordnet. Festzuhalten ist, dass diese Filiation sich auf die Inhalte bezieht, nicht unbedingt darauf, dass es sich jeweils um Schüler eines Autors handelt. Es geht hier folglich um eine Fragestellung, wie sie im auch im Kontext der Forschung zu Diskurstraditionen oder zu Textserien verfolgt werden (cf. hierzu u.a. Schlieben-Lange 1996 und Haßler 2000).

4 So wird die einschlägige Monographie von Jost Trier (1931) mit dem Titel Des deutsches Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes zitiert, der Untertitel fehlt völlig. Dies scheint auch bei Unkenntnis der Sprache vermeidbar, wenn man bedenkt, dass der vollständige Titel selbst bei Wikipedia richtig zitiert wird.

5 Im Hinblick auf den einleitend postulierten Schwerpunkt auf der frankophonen Perspektive ist es erstaunlich, dass hier Wierzbicka ausführlich besprochen wird, während sowohl Coseriu als auch Hjelmslev weitgehend ausgeklammert und Wortfeld und Semanalyse nur am Rande angesprochen werden. Dies liegt vermutlich in der Andersartigkeit der Fragestellung von Wierbicka begründet.