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Martina Stemberger (Wien)



GENDER-(KON)FUSIONEN: Travestie und Transgression in Paul Morands La fleur double und Ramón Gómez de la Sernas La mujer vestida de hombre



GENDER (CON)FUSIONS: Travesty and Transgression in Paul Morand's La fleur double and Ramón Gómez de la Serna's La mujer vestida de hombre
Paul Morand's novella La fleur double (1924) and Ramón Gómez de la Serna's 'novela corta' La mujer vestida de hombre (1926) both tell an extravagant story of sex and gender transgression: Morand's protagonist, a respectable, well-married young woman, unexpectedly metamorphoses into a man; Gómez' androgynous heroine, cheerful cross-dresser, strategically dismantles her own 'femininity'. Both texts, written in a period of considerable 'gender trouble', question traditional concepts of 'masculinity' and 'femininity'; they problematize gender-identity as a mere 'mimicry', as a more or less convincing 'performance'. But while Morand's heroine, overwhelmed by her body's sudden metamorphosis, is a help- and speechless victim of biology (the text conjures the danger of gender (con)fusion by re-establishing biology as the decisive authority, the protagonist's transgression paradoxically reaffirming the pre-stabilized harmony between physical, sexual and social identity), Gómez' protagonist, professional 'anarchist of femininity', cultivates and enjoys her own 'terrible ambiguity', challenging old 'truths' (not only) about men and women, refusing all definite answers and identifications, declaring that the most honest thing to be is still an (unanswerable) 'question'. This essay proposes a comparative analysis of Morand's and Gómez' narrative strategies of de/reconstructing sex and gender in the context of technical modernity.



Prolog zu zwei Gender-Katastrophen

 

¡Es tan fácil convertirse en hombre, y tan difícil ser mujer! (MVH 121)

Paul Morands Novelle La fleur double aus dem Jahr 1924 wurde, leicht überarbeitet, 1966 unter dem Titel La nuit dalmate in die Re-Edition des Bandes Ouvert la nuit (zuerst 1922) aufgenommen.1 Ein französisch-baskischer Offizier, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in Dalmatien stationiert, nur mehr daran interessiert, sich zur Ruhe zu setzen ("Lebecq ne voulait plus gagner de guerres, faire de grandes choses, dominer des pays. [...] Et surtout, plus d'aventures!" ND 162f.) und aus seiner auslaufenden militärischen "mission" (FD 289) größtmöglichen Profit zu ziehen, heiratet eine schöne einheimische Italienerin namens Zuliana, die, unterwürfig und anspruchslos, die ideale Gefährtin für sein geplantes privates Idyll weit abseits der Wirren des modernen Europa zu sein scheint.




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Gemeinsam mit der Schwester des Offiziers begründen die beiden einen zunächst harmonischen, wenn auch etwas faden ménage à trois. Allmählich fallen dem Ehemann jedoch eigenartige Veränderungen am Körper und im Verhalten seiner Frau auf; diese zieht sich völlig zurück und verweigert die Erfüllung ihrer sogenannten ehelichen Pflichten. Vom ratlosen Gatten zur Rede gestellt, gesteht sie ihm schließlich, dass sie sich – gegen ihren Willen, ja zu ihrer größten Verzweiflung – in einen Mann verwandelt habe und ihrer beider Ehe damit nachträglich zum 'Sakrileg' geworden sei (FD 300); die unerklärliche körperliche Metamorphose wurde inzwischen auch schon von einem heimlich konsultierten medizinischen Spezialisten konstatiert. Der entsetzte, aber vor allem auf seine Ruhe und seine Reputation bedachte Offizier beschließt, trotz allem die Fassade zu wahren, seine 'Frau' so weit wie möglich vor der Öffentlichkeit zu verstecken. Das intendierte 'brüderliche' Zusammenleben gerät freilich zur Farce: Zuliana, die nach der körperlichen jetzt auch eine charakterliche Maskulinisierung durchmacht, empfindet prononciert 'männliche' Bedürfnisse nach Freiheit und nach Abenteuer. Die bis dahin leicht altjüngferliche Schwester Lebecqs, die von der seltsamen Entwicklung nichts bemerkt zu haben scheint, verliebt sich in den schönen jungen Italiener, der an die Stelle der zuvor eher kühl behandelten Zuliana getreten ist. Die Ehe wird nach einigen juristischen Komplikationen erfolgreich geschieden; kurz darauf heiratet 'Zuliano' seinerseits eine Frau; mit der Schlusspointe, die Morand seinem Epilog erst in der Neufassung des Textes für die Re-Edition von Ouvert la nuit hinzugefügt hat, seine / ihre ehemalige Schwägerin.

Die Demontage, ja die drohende Inversion der traditionellen Gender-Rollenbilder, die "révolution des mœurs féminines" vor allem ist ein Thema, das Morand, diesen Spezialisten für das Galante Europa, in vielen seiner Werke beschäftigt (vgl. Douzou 2003: 26).2 La fleur double liest sich in diesem Kontext beinahe als eine Art narrativer 'Exorzismus': In einer Zeit, da immer mehr Frauen einen männlichen Habitus annehmen und damit für wachsenden Gender Trouble sorgen, lässt Morand eine Frau sich tatsächlich physisch in einen 'Mann' verwandeln und als solcher ein neues Leben beginnen.3 Die Novelle überwindet derart durch groteske Überzeichnung die temporäre Verwirrung der Geschlechter und stellt im lakonischen Epilog die heteronormative binäre Gender-Ordnung wieder her.

Ramón Gómez de la Sernas La mujer vestida de hombre (Falsa novela alemana) wurde zuerst 1926 separat veröffentlicht4 und 1927 in den Band der 6 falsas novelas integriert.5 Wie der Titel dieser novela corta verrät, geht es auch hier um Maskeraden des Geschlechts: Marien, als Mädchen geboren, beschließt schon als Kind, später doch lieber ein Mann als eine Frau zu werden. Nachdem sie als Teenager eine Weile mit weiblichen Rollenmodellen experimentiert hat, kehrt sie zu ihrer kindlichen Intuition zurück, schneidet sich das Haar ab, kleidet sich ab sofort als Mann und legt sich entsprechende Interessen und Verhaltensweisen zu. Als faszinierend androgynes Wesen verstößt sie gegen geschriebene und ungeschriebene Gesetze des Geschlechts, treibt ihr Verwirrspiel überall dort, wo Eindeutigkeit der sexuellen und der Gender-Identität gefragt ist ("Aquella mujer parecía ir a bailar con las mujeres más que con los hombres" MVH 129). Sie widersteht allen Versuchen, sie zu ihrer 'normalen' Geschlechterrolle und zur Ideologie der romantischen Liebe zu bekehren, wird schließlich von einem Kinoproduzenten als paradoxe Inkarnation der "mujer de la época" (MVH 137) entdeckt, folgt ihm, um ein Filmstar zu werden und möglichst nie wieder ins 'reale' Leben außerhalb des Studios zurückzukehren.




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Diese "actriz de la vida" (MVH 136), diese "anarquista de la feminidad" (MVH 120), die es leichter findet, ein Mann zu werden, als eine Frau zu sein, bezeichnet die eigene Metamorphose als "un mimetismo de la época" (MVH 137). Gender-Identität wird hier radikal denaturalisiert, als bloßer Mimetismus problematisiert: "¡Difícil mimetismo el de la mujer!" (MVH 119). Die Protagonistin, die nicht nur einen (starken) Mann spielt ("la mujer que hombreaba" MVH 134), sondern die Geschlechter-Dichotomie an sich verweigert, erscheint – wie die Falsas novelas insgesamt – als irritierendes "Symptom einer Epoche" (vgl. Zlotescu 1989: 7). Als lebendiges Monument der Gender-Konfusion wandelt die Heldin durch Berlin; sie provoziert auf Schritt und Tritt, schon ihr Anblick zwingt die anderen dazu, über "el problema de los sexos" nachzudenken und sich einige heikle Fragen auch über ihre eigene Geschlechtsidentität zu stellen: "Problematizaba toda la ciudad. Se fruncían los ojos y los lentes de los oficinistas al paso de ella" (MVH 136). Gerade die 'falsche' bzw. raffiniert verfälschte Gender-Maskerade erzählt die unbequeme Wahrheit über die Fiktionen der 'Weiblichkeit' und der 'Männlichkeit'; nicht umsonst wird Marien, die virtuos mit den "Masken der Sexualität" (Paglia 1992), mit den Masken des Geschlechts spielt, von ihrer mehr oder weniger 'normal' gender-identifizierten Umgebung wie ein "demaskierter Spion" betrachtet (MVH 124f.).

Die zahlreichen Gemeinsamkeiten dieser beiden Texte – eigenwillige literarische Dokumente der Verunsicherung angesichts einer nach dem Ersten Weltkrieg destabilisierten Geschlechterordnung – liegen auf der Hand. Sowohl Morands La Fleur double als auch Gómez de la Sernas La mujer vestida de hombre erzählen die Geschichte der skandalösen 'Maskulinisierung' einer Frau: Dieser Plot scheint für diese männlichen Autoren immerhin noch akzeptabler als die umgekehrte Version – die drohende 'Feminisierung' des männlichen Subjekts.6 In beiden Texten wird das Sex and Gender-Drama überdies in 'sicherer' geographischer und kultureller Ferne verortet (in Berlin beim Spanier Gómez de la Serna, in Dalmatien beim Franzosen Morand). Abgesehen davon stellen aber beide Texte eine höchst luzide Auseinandersetzung mit der Frage nach der (Un)Natürlichkeit von Gender-Identitäten, ja von Körpern selbst dar. Wenn die Opposition von sex und gender im literarischen Text prinzipiell aufgehoben wird, da, wie Ette bemerkt, hier auch sex nur allzu offensichtlich diskursiv produziert wird und von wie immer gearteten 'biologischen' Realitäten nicht die Rede sein kann,7 so gehen diese beiden Texte über die dem Literarischen inhärente Problematisierung des Geschlechts fiktiver Figuren hinaus: Beide Texte splitten Geschlechtsidentitäten spielerisch in ihre einzelnen Aspekte auf, machen sie als komplizierte, ganz und gar nicht mehr 'natürliche' Montagen sichtbar. Die zugleich 'verkleidete' und 'demaskierte' Protagonistin von Gómez' Falsa novela alemana illustriert den Konstruktions-Charakter nicht nur von Gender-, sondern von Identität überhaupt. Zuliana wird zur "Karikatur ihrer selbst", wobei all diese Verirrungen und Verwirrungen aber immerhin noch der Verantwortlichkeit der 'Natur' zugeschrieben werden: "La nature persévéra dans ses égarements. Zuliana devenait la caricature d'elle-même. Sous son attirail féminin, elle était maintenant le trop joli Italien qu'on voit sur les lacs" (FD 303). Am sich rapide virilisierenden Körper von Morands unglücklicher Heldin wird ihre früher so dekorative weibliche Aufmachung zur absurden Maskerade: "[...] Zuliana se dénaturait à son insu; elle portait ses jolies robes salzbourgeoises comme un déguisement" (ND 177). Nachdem 'Weiblichkeit' am männlichen Körper ihren Maskeraden-Charakter offenbart hat, wird sie auch am weiblichen in ihrer Artifizialität erkennbar. Die Gender-Inszenierung gerät zu ihrer eigenen Parodie und lässt auch die 'normale' Geschlechtsidentität als mehr oder minder arbiträre 'Performanz',8 als "Imitation ohne Original" (Butler 2003: 203) erscheinen.




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Göttinnen, Monstren, Hermaphroditen oder: Die neue (Un)Ordnung der Geschlechter

 

– Un seul mot, ou un nom!
– Je suis un monstre. (ND 179)

In der Zwischenzone der Gender-Desidentifikation, in der Gómez' Heldin sich für den Rest ihres Lebens einrichtet und die Morands Protagonistin schließlich in Richtung 'eindeutiger' – aber vor dem Hintergrund der einmal erfolgten Transgression eben doch nicht mehr ganz eindeutiger – Männlichkeit wieder verlässt, scheint nichts an den Körpern und im Verhalten der Figuren mehr 'natürlich'; sie fallen permanent aus der (Gender)Rolle, genussvoll und provokant wie Gómez' Meisterin der Maskerade oder unwillkürlich wie Morands traurige Heldin, die, auf halbem Weg zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit, über Nacht ihren 'Text' vergisst: "Mon rôle, tenu toute la journée, le soir me tombait des lèvres et il me fallait faire un effort de mémoire pour le retrouver le lendemain" (FD 300). Zuliana, die mit immer größerem Aufwand versucht, eine immer weniger glaubwürdige Inszenierung von 'Weiblichkeit' durchzuhalten, nicht endgültig aus ihrer femininen Rolle 'herauszufallen', problematisiert gegen ihren Willen die gesellschaftliche Konstruktion des Geschlechts.9 Je mehr sie ihre 'verbotenen' neuen Wünsche und Bedürfnisse zu verdrängen versucht, desto aggressiver drängen diese nach außen: "[...] plus elle s'efforce d'escamoter cette aventure10 et plus elle est punie de sa réserve: pendant son sommeil, tous ses désirs s'enfuient comme des prisonniers dont on a oublié de refermer la cellule" (FD 303). Die – biologischen, sexuellen, sozialen, linguistischen, juristischen – 'Bausteine', aus denen eine scheinbar harmonische, erfolgreich naturalisierte Geschlechtsidentität sich zusammensetzt, entwickeln hier eine zentrifugale Eigendynamik und sorgen so für beträchtliche Irritation, bis entweder – bei Morand – durch den definitiven Geschlechtswechsel eine neue, wenn auch durch ihre Vorgeschichte fragilisierte Gender-Ordnung etabliert wird oder – bei Gómez de la Serna – die symptomatische Figur der Gender-Konfusion sich aus der sogenannten Realität des Lebens verabschiedet und in die artifizielle Alternativwelt des Films eintritt, in der sie, paradoxe Inkarnation der Anti-Natürlichkeit, endlich an ihrem Platz ist.




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Morands Protagonistin, deren rebellierender Körper zusehends außer Kontrolle gerät, spürt qualvoll die Unvereinbarkeit ihrer Existenz mit den Regeln einer 'zivilisierten' Gesellschaft, die auf der klaren Trennung von zwei (nicht mehr und nicht weniger) Geschlechtern beruht; diese Transgender-Figur avant la lettre empfindet all die gesellschaftlich induzierte Scham, die mit ihrem Zustand verbunden ist: "Elle se réveille, pensant: 'Au fond, pourquoi aurais-je honte?' et puis la chose nouvelle lui apparaît inconciliable avec le repos d'une société civilisée, solidement échafaudée sur ses deux peuples: le masculin et le féminin; et la honte la reprend" (FD 303). Nicht mehr / noch nicht (wieder) eindeutig 'Mann' oder 'Frau' zu sein, heißt nämlich auch, kein vollwertiges soziales und juristisches Subjekt zu sein; die Ambivalenz dieser temporär intersexuellen Figur bedroht die "Kohärenz und Kontinuität zwischen dem anatomischen Geschlecht (sex), der Geschlechtsidentität (gender), der sexuellen Praxis und dem Begehren", stellt die "gesellschaftlich hervorgebrachten Geschlechter-Normen (gendered norms) kultureller Intelligibilität" und damit das traditionelle Konzept der 'Person' selbst in Frage (Butler 2003: 38), sie "ficht gleichsam die Lebensfähigkeit der 'Person' an, die angeblich ihrer Geschlechtsidentität vorangeht oder eine Geschlechtsidentität mit der anderen austauscht" (ebd. 158).

Die gender-ambivalente Heldin wird in ihren eigenen Augen und in denen der anderen zum 'Monstrum', das keinen Platz mehr in der Gesellschaft hat; Zuliana zieht sich während ihrer Metamorphose völlig zurück, um ihrer Marginalisierung zuvorzukommen: "Je me trouvais dans la vie aussi seule que si j'étais faite d’une autre matière que le reste du monde. Mon infortune me séparait de tous. [...] Je ne rencontrai ici que dérision, ignorance, sévérité. J'étais retranchée des vivants" (FD 300). Eine intakte soziale Persona verlangt eine klare Gender-Zuordnung: Selbst der hermaphroditische Star-Advokat, der dem scheidungswilligen Ehemann erläutert, es gebe in Wahrheit nur ein Geschlecht (und damit keines, da Gender erst mit dem 'anderen' Geschlecht beginnt) und die saubere Einteilung in 'Männlichkeit' und 'Weiblichkeit' sei damit von Vornherein eine Fiktion ("Consolez-vous, monsieur, et sachez qu'il n'y a pas deux sexes [...] La nature, voyez-vous, ne travaille que sur un modèle, par économie. Oui, un seul, avec les mêmes organes" FD 308), erkennt die gesellschaftliche Notwendigkeit der Entscheidung für ein Geschlecht an, wobei er allerdings für die juristisch gesicherte Möglichkeit plädiert, dieses Geschlecht im Laufe des Lebens bei Bedarf zu wechseln. Hermaphroditismus oszilliert in der Interpretation dieses 'doppelten' Advokaten dabei zwischen Monstrosität ("Mon bureau [...] est le lieu de réunion de tous ces êtres que la nature, par ses hésitations ou ses erreurs, a disgraciés" FD 307) und Superiorität ("[...] ceux d'entre nous qui réunissent les deux sexes, loin d'être des parias, devraient se voir admirés, comme plus près de la perfection. Astarté, les grandes divinités asiatiques ne sont-elles pas bisexuées, je vous le demande?" FD 309), bleibt aber jedenfalls eine exklusiv biologische Angelegenheit.




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In beiden Texten stellt die Untersuchung der geschlechtlich desidentifizierten Protagonistin durch eine männliche medizinische Autorität eine Schlüsselszene dar. Morands Heldin erzählt ihrem Noch-Ehemann erst nachträglich von ihrem heimlichen Besuch bei einem Arzt, der sie auf Grundlage ihrer aktuellen biologischen Konstitution ohne weiteres zum zeugungsfähigen Mann und ihre äußerlich noch aufrechterhaltene Weiblichkeit zur mittlerweile sinnlosen "Verkleidung" erklärt hat: "Pourquoi ce déguisement? me dit-il.11 Pourquoi vous habiller en femme? [...] Je ne doute pas que vous n'ayez été femme; maintenant vous êtes un homme, parfaitement constitué et apte à la reproduction" (FD 300). Selbst dieser Experte der streng naturwissenschaftlichen Kategorisierung menschlicher Körper nimmt jedoch unwillkürlich zur Kenntnis, dass der eigentlich relevante soziale und juristische Gender-Wechsel noch nicht vollzogen ist. In La nuit dalmate spricht er seine Patientin, die er gerade aufgefordert hat, sich zu ihrer aus seiner Sicht unproblematischen 'männlichen' Identität zu bekennen, weiterhin als 'signora' an: "[...] maintenant vous êtes un homme [...] Votre cas est rare, signora, il est loin d'être unique, la nature a des repentirs tardifs" (ND 181). Auch die vollendete körperliche Maskulinisierung garantiert noch lange nicht die ersehnte Rekonstruktion einer gesellschaftlich akzeptablen, eindeutigen Gender-Identität. Während eine Serie von männlichen (familiären, medizinischen, juristischen) Autoritäten über den Verlauf der Metamorphose zu urteilen und den Geschlechtswechsel zu beglaubigen hat, ist die Heldin selbst weder sprachlich noch psychisch in der Lage, die ihr widerfahrene Katastrophe zu verarbeiten. Anstatt selbst zu erzählen, händigt sie ihrem Ehemann lieber den offiziellen medizinischen Rapport aus (FD 300). Solange die Frage ihres / seines Geschlechts nicht – von anderen – aufs Neue entschieden und sie / er damit wieder zu "einem rechtlich sanktionierten Subjekt" (Butler 2003: 158) erklärt wurde, ist der / die Protagonist/in nicht 'autorisiert' und in automatischem Gehorsam auch nicht in der Lage, im eigenen Namen und in eigener Sache zu sprechen.

Gómez' Marien, deren – gewollte – Transgression zunächst sozialer und nicht biologischer Art ist, wird ihrerseits von einem Arzt untersucht, der, wenngleich Spezialist für "enfermedades incalculables", von ihrem 'Fall' offenbar völlig überfordert ist und seine ungewöhnliche Patientin mit einer Reihe abstruser Fragen konfrontiert. In der Praxis dieser schon mehr als zweifelhaften männlichen Autorität steht die androgyne Heldin zwischen einer Gruppe von nackten Venusstatuen aus weißem Marmor, die, "vergessene Patientinnen", den stummen Kommentar zu der skurrilen Untersuchungsszene liefern:

El doctor Werted, médico de enfermedades incalculables, le había pedido que fuese a su gabinete y allí, entre desnudas Venus de mármol que parecían enfermas olvidadas que esperan un diagnóstico enfriándose mucho, fue sometida a los apáratos que todo el mundo lleva de Alemania [...]. Después la preguntó las cosas más incongruentes.
– Cuando bebe usted un vaso de agua, ¿se pone nerviosa? ¿Qué suele usted pensar cuando sube al tranvía?12 Al ponerse los zapatos, ¿qué sensación experimenta usted en el cerebelo?
Marien asistía a aquella consulta como amazona del porvenir. (MVH 136)

Die Motivik der Frau als 'Statue' spielt, wie hier zu bemerken ist, in den 6 falsas novelas eine wichtige Rolle: Die enigmatische Heldin der Falsa novela rusa, als María Yarsilovna Namensschwester der verkleideten Marien, wird durchgehend als 'Statue' metaphorisiert bzw. mortifiziert;13 auch die Hauptfigur der Falsa novela negra ähnelt einer solchen.14 In all diesen Texten, narrativen Experimenten mit der (Un)Möglichkeit der 'authentischen' Erfahrung des Anderen,15 werden gerade auch Gender-Rollen in ihrer vermeintlichen Natürlichkeit hinterfragt. Daus beschreibt die "Essenzfestlegung auf Typen" (Daus 1971: 227) als wichtiges narratives Verfahren der Falsas novelas, zentral nicht zuletzt bei der Gestaltung diverser Frauenfiguren: "In den Seis falsas novelas gibt es die Russin, die Chinesin, die männermordende Nymphomanin, die Jungfrau [...]" (ebd. 226). Die hypermoderne Protagonistin der Falsa novela alemana, die schließlich aus ihrer weiblichen Rolle ausbricht, problematisiert nachträglich auch die "Essenzfestlegungen" der früheren Falsas novelas, dynamisiert das in den anderen Texten reflektierte traditionelle statische bzw. statueske Frauenbild und lässt das "Kunstwerk Frau" (vgl. Pohle 1998) implodieren; Marien erscheint kein einziges Mal als Statue, sondern verwandelt sich am Ende des Textes in ein bewegliches (Licht)Bild ihrer selbst.




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Die medizinische Beglaubigung des Geschlechtswechsels bedarf der juristischen Ergänzung: Solange diese nicht vollzogen ist, ist Morands Zuliana eine Frau, wenn auch mit funktionstüchtigen männlichen Organen ausgestattet. Der konsternierte Ehemann bittet einen berühmten Juristen um Rat, den Autor einer Broschüre mit dem Titel "Un hermaphrodite peut-il voter?" (FD 304): Schon diese Frage macht wiederum deutlich, dass nur ein geschlechtlich klar identifiziertes menschliches Wesen ohne weiteres als handlungs- und zurechnungsfähige Person im starken Sinne des Wortes akzeptiert wird. Doch das Gesetzbuch hält für den in derlei Dingen wenig versierten Ehemann nur Fallstricke bereit: Man erklärt ihm, die gewünschte Scheidung sei unmöglich, da "Zuliana et l'homme qu'elle était" nur eine einzige Person darstellten, die Berufung auf die klassische "erreur sur la personne" in diesem Fall damit unzulässig sei (ebd.). Man zitiert einen weiteren Passus, der ausdrücklich verlangt, jedes in eine juristische Transaktion involvierte Subjekt müsse Mann oder Frau sein: Zuliana, nicht mehr ganz Frau, noch nicht ganz Mann und also rechtlich nicht fassbare Un-Person, hat als "monstre" weder in einem Scheidungsprozess noch sonstwo in der Gesellschaft einen Platz (ebd.). Der Offizier flieht überstürzt aus seinem (Narren)Haushalt; in Rom kontaktiert er jenen Advokaten, der, selbst Hermaphrodit und Vorsitzender eines Intersexuellen-Vereins (im Übrigen deutscher Herkunft wie Gómez' Protagonistin, wenn auch unter einem italienischen 'Künstlernamen' arbeitend), sich auf die juristische Abwicklung heikler Fälle von geschlechtlicher Transgression spezialisiert und selbst seine Gender-Zugehörigkeit in aller Form gewechselt hat. Im Umfeld dieser mehrfach 'maskierten' Figur macht Lebecq die Bekanntschaft etlicher weiterer geschlechtlicher Grenzfälle – so des Sekretärs des Advokaten, einer ehemaligen Hebamme, die zwar einen üppigen Busen wie aus Delfter Porzellan zu bieten hat, einst aber dennoch wegen Vergewaltigung einer Klientin verhaftet worden war, und eines pfeifenrauchenden Taxifahrers, dessen Brüste so reichlich Milch produzieren, dass er tagelang allein ein Neugeborenes ernähren kann (FD 307). Ein weiteres Mitglied des Hermaphroditen-Clubs sorgt für Zerstreuung, indem es auf dem Harmonium das in diesem Kontext ausgesprochen pikante "Donna è mobile" (FD 308) spielt. Unter den "photographies d'hermaphrodites célèbres", die als Kuriositäten der Geschlechtergeschichte im Club ausgestellt werden, findet sich übrigens auch ein Bild jener "Alexina B*** dont la confession est un des plus curieux documents de l'histoire des singularités humaines" (ebd.) – und deren Geschichte Michel Foucault später unter dem Titel Herculine Barbin, dite Alexina B. veröffentlichte.16

Morands Text illustriert auch die sprachliche Problematik der geschlechtlichen De- und Re-Identifikation. Weder die so plötzlich von einer "malédiction divine" (FD 299) heimgesuchte Heldin noch ihr Ehemann vermögen jene monströse Metamorphose zu beschreiben, die bald physischer, bald moralischer Natur scheint ("cette mue tantôt physique, tantôt morale" FD 296), laut La nuit dalmate "keinen Namen und keinen Ort" hat ("cette mue qui n'avait ni nom, ni place" ND 176) und Zulianas Körper 'unaussprechlich', sie selbst zum 'Monstrum' macht:

– Ne me presse pas. Je parlerai. Hélas! j'ai si peu de mots pour cela... Je n'en avais presque pas pour t'avertir et pour avouer, je n'en ai plus qu'un.
– Qu'as-tu fait?
– La nature peut seule répondre.
– Assez de ce galimatias. Il me faut un seul mot, ou un nom.
– Je suis un monstre. (FD 298)




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Der Ehemann, allem Gender-Galimathias, allen Unaussprechlichkeiten und allen "excentricités" (ebd.) entschieden abgeneigt, versucht noch einmal, die Katastrophe abzuwenden, durch die korrekte Bezeichnung aller Beteiligten die Ordnung wiederherzustellen ("Allons, je suis ton époux. [...] Je suis un homme; tu es une femme"), worauf die verzweifelte (Nicht-Mehr-)Frau nur immer wieder mit einem hilflosen 'Nein' antwortet, bis hin zur erschütternden Enthüllung: "Non. Je ne suis plus une femme. [...] je suis un homme" (ebd.). Gleich hinter den trügerisch einfachen Wörtern, die ebenso trügerisch eindeutige Identitäten stiften, lauert der 'Wahnsinn' des Unsagbaren: Lebecq fragt sich zunächst, ob seine Frau – oder ihr Körper? – vielleicht 'verrückt' geworden sei ("Peut-on devenir folle [...] sans que personne s'en aperçoive?" ebd.), und fürchtet dann um seinen eigenen Verstand. Stumm, von einem namenlosen Schwindel ("un vertige sans nom" ND 182) erfasst, irrt er durch die Stadt, hinaus zum Meer, wo ihn nur die Balustrade, die ihre französische Bezeichnung 'garde-fou' selten so zu Recht trug, aufhält; "en pleine folie" wiederholt er, vergebliche Beschwörung, jene Wörter ('Mann', 'Frau', 'verheiratet'), die bis vor wenigen Stunden noch Ordnung in seiner kleinen Welt zu garantieren vermochten und jetzt ihren Sinn verloren haben:

Lebecq sortit sans dire un mot. Il erra sous les murs de Raguse [...] Il savait qu'il deviendrait fou s'il souffrait, mais cela ne venait pas encore; c'était un rêve éveillé [...] Il s'avança au parapet et regarda la mer: l'idée que cela s'appelait un garde-fou l'amusa. Lui-même logeait en pleine folie [...] L'obscurité noyait son esprit. Il ne pouvait que se répéter des mots. 'C'est un homme. Un homme m'attend chez moi. Je suis marié à un homme.' Cela finissait par n'avoir plus aucun sens. (FD 301)

Was er, der rechtschaffene und ordnungsliebende Bürger, bisher für "le jeu pervers et poétique de l'imagination des auteurs anciens" (ebd.) – und sich selbst vom Leibe – gehalten hat, findet er unversehens mitten in seinem idyllischen Heim wieder; es ist schließlich der medizinische Terminus der 'cryptorchidie', an dem dieser Irrgänger in der Krypta der Geschlechtsidentität sich wieder festhält: "Lebecq se rappela le rapport du médecin; le mot 'cryptorchidie' lui apparut, ravissant, étrange, une crypte obscure pleine d'orchidées pâles" (FD 302). Um dem 'Wahnsinn' zu entgehen, beschließt der Held, angesichts des Undenkbaren am besten gar nicht mehr zu denken: "Il s'efforça de ne plus penser" (ebd.). Zuliana, deren Psyche und Charakter allmählich der Veränderung ihres Körpers folgen, beginnt sich unterdessen auch sprachlich zu virilisieren; sie spricht von sich selbst in der männlichen Form, ausgerechnet einen Brief an ihre Mutter unterschreibt sie irrtümlich beinahe als "Dein Sohn": "Voilà que Zuliana va changer, non seulement de corps, mais d'âme; il lui arrive maintenant de parler d'elle-même au masculin. Cette lettre à sa mère, pour un peu elle la signait: il tuo figlio [sic], ton fils" (FD 303). Systematisch macht dieses irritierende narrative Subjekt, das, weder ganz sie noch ganz er, seine Geschlechtszugehörigkeit innerhalb eines einzigen Satzes wechselt, Gender-Identitäten als "Wahrheits-Effekte eines Diskurses über die primäre, feste Identität" (Butler 2003: 201) sichtbar.17 Erst in den letzten Zeilen des Textes wird endgültig der sprachliche Wechsel zum Maskulinum vollzogen; im knappen Epilog wird Zuliana / Zuliano noch als 'Frau' geschieden, zum 'Mann' erklärt und damit instand gesetzt, nach einer Phase des Rückzugs bei ihren / seinen18 Eltern seinerseits eine Frau zu heiraten: "Sur les conseils de Sant'Arona, Lebecq obtint d'abord pour sa femme une réforme d'état civil, puis un jugement du tribunal qui les rendaient libres. Zuliana changea son nom en celui de Zuliano. Zuliano revêtit des habits d'homme et se retira chez ses parents, à Spalato. Peu de temps après, il prit femme" (FD 309); in der späteren Fassung des Textes wird dieser knappe Epilog wie erwähnt um die Pointe erweitert, dass es sich bei der Auserwählten um die Schwester des Ex-Gatten handelt: "[...] il épousait Mlle Isabeau Lebecq" (ND 196).




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In beiden Texten werden sowohl die Dichotomie von 'Weiblichkeit' und 'Männlichkeit' als auch die heterosexuelle Ordnung des Begehrens, die Strukturen der patriarchalischen Ehe und Familie durch das unfreiwillige oder auch spielerisch-provokante Sex and Gender-Switching der Protagonist/inn/en unterminiert: "[...] le devenir-homme de la femme entraîne le devenir-femme de l'homme et la perversion radicale de l'ordre de la nature, de la morale et de la société" (Kofman 1982: 110). Indem Zuliana selbst zum 'Mann' wird, bedroht sie die Männlichkeit ihres Partners, drängt ihn nun seinerseits in eine 'weibliche' Rolle. Nach einer heimlichen nächtlichen Exkursion steht sie ihrem Ehemann plötzlich in dessen eigenen Kleidern gegenüber. Lebecq unternimmt einen absurden Versuch, seiner Frau, die ihm offenkundig mehr als nur die äußere Maskerade der Maskulinität 'gestohlen' hat, aus der Perspektive stolzer (Ehe)Männlichkeit diese 'Herumtreiberei' zu verbieten und ihr strafweise Hausarrest zu verordnen, wird dabei aber selbst zur grotesken alten Frau im Schlafrock:

Soudain, la grille s'ouvrit; un homme entra furtivement, mal assuré sur ses jambes. Lebecq fut stupéfait: cet homme portait ses propres habits. C'était Zuliana. [...] Lebecq devint un mari défaillant de fureur.
"[...] Rends-moi mes vêtements et monte dans ta chambre. [...] Je te défends de sortir!"
Zuliana le considéra avec stupeur. Lui, ébranlé, regardait ce jeune adolescent semblable à un fils de famille surpris au retour d'une débauche [...] C'est lui, dans sa robe de chambre, qui avait l'air d'une vieille femme. Cela ne pouvait durer. (FD 304f.)

Bei Gómez de la Serna erklärt die Mutter der gender-transgressiven Heldin, ihre Tochter nicht imitieren zu können, da dies im Nachhinein noch die Familie als solche zerstören und die Tochter statt mit einem 'normalen' Elternpaar mit zwei Vätern versehen würde ("Hija, no te podría imitar… No sería tu madre; sería otro padre tuyo, y si bien podemos haber tenido dos hijos en vez de un hijo y una hija, no es cosa que tú tengas dos padres y ninguna madre") – die jene denn auch gleich scherzhaft als "Queridos papás" anspricht (MVH 119).

Der Geschlechtswechsel vollzieht sich in beiden Texten im Rahmen eines amourösen Dreiecks.19 In Morands Text wird eine denkbar konventionelle heterosexuelle Ehe plötzlich zum 'Sakrileg', zur skandalösen homosexuellen Kohabitation; die 'Perversion' holt gerade diejenigen ein, die ihr am sichersten zu entgehen glaubten: "Cette existence sacrilège entre deux hommes pouvait-elle durer? [...] Adieu, vie confiante auprès de toi! adieu la joie d'être mère! adieu, un passé sincère, un avenir excellent!" (FD 300f.). Auf Zulianas tragikomische Einsicht, hier seien zwei Männer miteinander verheiratet, folgt in La nuit dalmate aber sogleich ihre Selbstbezichtigung als "Verdammte" – in der femininen Form: "Siamo due uomini! [...] Maledetta!" (ND 182).




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Nach einem vergeblichen Versuch, sich in einer 'brüderlichen' Beziehung einigermaßen komfortabel einzurichten ("Désormais il avait un frère, voilà tout. [...] Lebecq s'installait en pantoufles dans cette situa­tion tragique" FD 302), flieht der Offizier, der das Zusammenleben mit einem verkleideten Mann nicht mehr erträgt ("[...] il ne pouvait se faire à cette vie en commun avec un autre homme, là, en face de lui, caché sous une robe" FD 303), aus dieser Karikatur einer patriarchalisch organisierten Familie; in einer vaudevillesken Wendung wird der überflüssig gewordene Ehemann in der Neufassung des Textes durch seine längst in die ehemalige Schwägerin verliebte Schwester ersetzt (ND 190). Bei Gómez de la Serna wird die verkleidete Frau zum Objekt latent homosexuellen Begehrens von Seiten eines Mannes, der zuerst eine hoch emotionalisierte und vage erotisch gefärbte Freundschaft mit ihrem Bruder unterhält und dessen Interesse an Marien erst erwacht, nachdem er sie einmal mit jenem verwechselt hat (MVH 122). Von ihrer männlichen Attitüde bzw. ihrer dadurch noch verstärkten frappierenden Ähnlichkeit mit ihrem Bruder verführt, versucht er im Weiteren dennoch, sie zur Aufnahme einer 'normalen' heterosexuellen Beziehung zu bewegen. Doch die widerspenstige Heldin will sich nicht zähmen lassen; mit ihrer kinematographischen Initiation nimmt sie Abschied nicht nur von der sozialen Realität des Gender-Terrors, sondern offensichtlich auch von ihrem Körper und ihrer Sexualität.


Die Tätowierungen der Seele oder: Liebe in Zeiten der Kinematographie

 

– ¿Qué idea tiene usted del amor?
– ¿Del amor? ¿Y qué es eso? (MVH 127)

Diese gender-transgressiven Figuren erscheinen als 'Symptome' einer umfassenden Verunsicherung; in beiden Texten wird sichtbar, wie wenig stabil Identitäten, wie wenig zurechnungs- und berechnungsfähig 'Personen', wie wenig verlässlich sogar die Körper selbst sind. Die Destabilisierung traditioneller Körperbilder wird bei beiden Autoren im Kontext der technischen Moderne thematisiert. Technik besitzt die Macht, Menschen in 'Marionetten', in "mechanische Puppen" (oder in "Prothesengötter", wie man mit Freud formulieren könnte20) zu verwandeln – so in der Falsa novela alemana: "[...] uno de esos taxis que convierten a las personas en los muñecos mecánicos que van dentro de los automóviles de bazar" (MVH 132). Körper werden zu prekären 'Montagen' (nicht zuletzt aus Elementen von 'Weiblichkeit' und 'Männlichkeit'); Körpergrenzen werden unscharf; während Maschinen sich beleben,21 werden dem mechanisierten menschlichen Körper auf dem Weg zur "Totalprothetik" (Sloterdijk 2007: 812) versuchsweise Teile 'abmontiert'. Der Einfluss des technologischen Fortschritts auf die gesellschaftliche Wahrnehmung und Inszenierung des Körpers wird hier bereits in seiner Ambivalenz zwischen Befreiung und Verdinglichung, zwischen der Überwindung physiologischer Restriktionen und der Gefahr der (Selbst)Entfremdung reflektiert.22 Die moderne Stadt ist durch den menschlichen Körper allein nicht mehr adäquat erfahrbar; technische Hilfsmittel erscheinen als quasi 'organische' Notwendigkeit, umgekehrt werden Körper-Organe zu fakultativen 'Accessoires':




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Los dos estaban locuaces, indiscretos, haciéndose fotografías en los escaparates.
– ¿Y esta necesidad de comprar máquinas de escribir que se siente al pasar por las calles de Berlín? Yo no la he sentido en ningún sitio como aquí – decía Marien.
– Yo antes iba siempre con el maletín de mi máquina en la mano – repuso Otto –, pero un día perdí la costumbre para siempre... No tenía nada que hacer con la máquina, pero llevaba el maletín conmigo, como quien lleva el cerebro y el riñon aparte, aunque no piense beber agua ni pensar... Me sentía completo con ese solo equipaje. (MVH 133)

Das Berlin der Mujer vestida de hombre ist ein zugleich faszinierender und bedrohlicher hypermoderner urbaner Mikrokosmos; McCulloch bemerkt, dass Gómez de la Sernas Beschreibungen von Berlin gelegentlich "almost Orwellian" anmuteten (McCulloch 2007: 116). Die gender-rebellische Heldin setzt sich sehr bewusst mit der Stadt als "discours" (Barthes 1985: 265), als "écriture" (ebd. 268) auseinander. Schon als junges Mädchen nimmt sie sensibel wahr, wie die Schrift der Stadt das "weiße Papier ihrer Seele" bedeckt, wie sie sich auf ihren Streifzügen durch diesen 'aggressiven' urbanen Text, der sie selbst nicht unbeschrieben lässt, in ein "erschöpftes Gespenst" verwandelt: "Estaba desesperada de aquellos atardeceres en la ciudad llena de escaparates y de letras tan imprimirientes que en compactos letreros imprimaban el blanco papel de su alma. Cuando ya en la noche plena se volvía un fantasma cansado, no recordaba sino letreros y letreros comerciales" (MVH 117). Als sie später gemeinsam mit ihrem Verehrer durch Berlin – diese "Hauptstadt ihrer selbst", diesen "Inbegriff einer Stadt" (Roth 2001: 101) – spaziert, haben beide das deutliche Gefühl, dass man gerade dabei sei, ihnen "die Seele zu tätowieren" ("Paseaban juntos por las calles de Berlín, sintiendo que les tatuaban el alma como con sellos de caucho los letreros comerciales [...]" MVH 132). Die Großstadt Berlin, "clasificador ideal" (ebd.), transformiert Menschen in serienmäßig fabrizierte und ordnungsgemäß klassifizierte Produkte; sie unterwirft in ihrem "unheimlich vernünftigen Wahnsinn" (Roth 2001: 101) Lebendiges der Verdinglichung der Warenwelt, unterzieht Individuen einer symbolischen "Gewaltkur" (Döblin 1961: 10), die sie zu angepassten Bürgern macht. Marien, (selbst)bewusste und (selbst)reflexive 'Stadtbenutzerin', kompetente 'Leserin' der Metropole,23 weigert sich, im unaufhörlichen Dialog mit der Stadt ("[...] la ville parle à ses habitants, nous parlons notre ville, la ville où nous nous trouvons, simplement en l'habitant, en la parcourant, en la regardant", Barthes 1985: 265) deren Tendenzen zum diktatorischen Monolog nachzugeben; sie macht ihren Körper zum Medium und 'Schauplatz' des Widerspruchs. Sie rebelliert mit ihrem Cross-Dressing, das, wie alle Arbeit am Körper und seiner Inszenierung, "in tiefe Identitätsschichten reicht" (Degele 2004: 9), gegen die Zumutung der systematischen 'Beschriftung' und Kategorisierung des Individuums durch soziokulturelle Codes; späte Nachfahrin von Balzacs Rastignac, fordert sie eine ganze Metropole zum – (gender)diskursiven – Zweikampf heraus: À nous deux, Berlin!




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Vor dem Hintergrund einer urbanen Moderne, die das Individuum, die menschliche Person in ihrer Identität und Integrität in Frage stellt, erscheint die traditionelle Gender-Rollenverteilung obsolet; als ihr Verehrer sich auf die etablierten Normen romantischer heterosexueller Liebe beruft, weist Marien seine amourösen Avancen ohne weiteres zurück, wobei sie signifikanterweise mit dem technischen Fortschritt argumentiert:

– ¿Qué idea tiene usted del amor?
– ¿Del amor? ¿Y qué es eso? – le contesta ella con su aire de colegial.
Otto guarda silencio un momento, muy desconcertado, y después repone:
Él. – Ese sentimiento que provoca en el hombre la mujer, y en la mujer el hombre...
Ella. – ¿Pero no se trata de un juguete ya destrozado, algo como el gramófono en comparación con la telefonía sin hilos? (MVH 127)

Die romantische Liebe, jenes längst kaputte "Spielzeug", wird für hoffnungslos anachronistisch erklärt und in ihrer eigentlichen Funktion – der (Wieder)Herstellung und Verfestigung von eindeutigen Gender-Identitäten und -Hierarchien – demaskiert.24 In Morands Novelle Je brûle Moscou (1925) entzieht sich die sowjetische Protagonistin ebenfalls den Annäherungsversuchen des nicht ohne Zynismus in sie verliebten französischen Mannes, indem sie sich weigert, sich von ihm auf das gefährliche Terrain des konventionellen Liebesdiskurses ver- bzw. entführen zu lassen:

– Que pensez-vous de l'amour?
– Le Mour, la police criminelle?
– Non, l'amour.
– Je ne suis pas théoricienne. Voyez Lénine, page 1125, tome IX. (Morand 1994d: 397)

In La fleur double wird der von Lebecq angestrebte Idealzustand der Ruhe und der (Gender)Ordnung fast leitmotivisch über die weitgehende Abwesenheit der technischen Moderne definiert. Lebecqs in seiner täuschenden Friedlichkeit und Fadheit explosives (Ehe)Glück ist vor allem ein "Glück ohne Telefon", wie es in La nuit dalmate heißt: "Sur cette côte abrupte, un bonheur plat commença. Un bonheur sans téléphone. Lebecq ignorait le temps" (ND 168). Es erweist sich allerdings als unmöglich, die Zeit und den gesellschaftlichen Wandel einfach zu 'ignorieren'; gerade diejenigen, die nostalgisch auf Ruhe und Ordnung bestehen, holt eine verstörende Moderne wieder ein – mitten im provinziellen Idyll, aus dem Inneren des Körpers selbst. Im dalmatinischen Pseudoparadies (halb) abseits der Zivilisation herrscht von Vornherein eine merkwürdige Atmosphäre der 'Fälschung', die der Held nicht wahrhaben will. Es sind zunächst vermeintlich nur die 'Anderen', die 'Fremden', deren Existenz durch und durch (be)trügerisch ist; es sind die russischen und die tschechoslowakischen Emigranten, die balkanischen Diplomaten, die allerlei Maskenspiele betreiben, sich hinter falschen Identitäten und falschen Pässen verstecken. Dalmatien – in ihrer seligen "léthargie" prekäre Gegenwelt – erscheint von Beginn an als eine einzige große Maskerade; vor allem in La nuit dalmate als nicht zuletzt aus politischen Gründen kultivierte Fassade, hinter der sich vielleicht keine Realität verbirgt ("une devanture de boutique, une fenêtre feinte sur la plus inutile des façades" ND 170).25




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Ebenso wie bei Gómez de la Serna wird die Problematisierung der (gender-spezifizierten) Subjektivität bei Morand wiederholt mit 'kinematographischen' Motiven illustriert. Der Protagonist lernt seine spätere Ehefrau auf einem Kino-Set kennen, den er nicht sofort als solchen identifiziert; erst nachträglich begreift der irritierte Betrachter eines wüsten Schlachtfeldes voller Leichen (ist nicht der Erste Weltkrieg eigentlich vorüber?), dass er sich mitten in einer Film-Szenerie befindet:

Mais ce sol jonché de morts magni­fiquement costumés? Tout autour de Lebecq, il y avait des Turcs à turbans troués de flèches, des chevaliers écroulés dans leurs armures milanaises, des archers vénitiens en pourpoint de velours frappé de grenades d'or [...] Comme Lebecq s'approchait, sortirent, sur deux rangs, des trompettes aux fanions de la Sérénissime, un provéditeur, des ambassadeurs étrangers, puis, sur un cheval pommelé, abrité par un dais d'argent comme il n'en avait vu que dans les anciens tableaux sur bois, une jeune vierge, demoiselle magnétique, brune à cheveux très frisés [...] Lebecq suivit des yeux le cortège qui, après avoir franchi le pont-levis, se dirigeait vers deux camionnettes Fiat, sur les bâches desquelles il lut: 'Turin Cinema Limitata'. [...] À un carnage cinématographique Lebecq venait d'assister. (FD 290f.)

Wenn das Kino, "eine Schrift aus den Bildern von der Frau, aber nicht für die Frau" (Doane 1994: 67), die "männliche[n] Subjektivität mit der Herrschaft über den Blick" verbindet (ebd. 71), traditionell die Reproduktion einer binär-asymmetrischen Geschlechterordnung favorisiert, indem Frauen "als (passives) Material für den (aktiven) Blick des Mannes" (Mulvey 1994: 63), als Objekte eines prototypisch männlichen "voyeuristischen oder fetischistischen" (Doane 1994: 71) Zuschauerblicks präsentiert werden, so wird die Gender-Problematik hier buchstäblich hinter die Kulissen verlagert, die dominante Position des potentiellen männlichen Kino-Kunden schon während der Dreharbeiten unterminiert. Lebecq erweist sich als völlig hilfloser Zuschauer, der zwischen Inszenierung und Realität nicht unterscheiden kann; der zweifelhaften Macht dieses bereits zuvor der 'phänomenologischen' Inkompetenz überführten männlichen Blicks entgleitet bald darauf auch das – wider Willen – rebellische weibliche Objekt. Der harmoniebedürftige Lebecq hat seine Braut aus der modernen Kino-Sphäre zurück in eine beruhigend altmodische Welt geholt, das Idealbild von Weiblichkeit, das sie für Filmzwecke verkörperte, scheinbar bruchlos in die Realität gerettet:

Zuliana était douce, négative, silencieuse, 'un cheval qui ne renversera pas son cavalier', disait Lebecq. [...] À chaque retour il retrouvait ses meubles bien frottés, sa femme docile, aimante, l'attendant sous sa moustiquaire, comme une jeune mariée dans un lit conjugal, entourée d'un rempart de poudre insecticide. (FD 294)

Doch die "jeune vierge, demoiselle magnétique", diese in den Augen Lebecqs so überzeugende Inkarnation verführerischer und dabei fügsamer Weiblichkeit, war von Anfang an ebenso wenig 'echt' wie die ganze arrangierte Schlacht-Szene: "Donna Zuliana, la superstar" – in einer ironischen Verbindung von archaischen und modernen Elite-Kategorien hier auch als Angehörige einer "race supérieure" bezeichnet (FD 291) – verwandelt sich innerhalb kurzer Zeit in einen Mann.




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Die Transformation der Körper-Wahrnehmung im kinematographischen Kontext wird sowohl bei Morand als auch bei Gómez de la Serna direkt mit der Gender-Transgression assoziiert. Der Film löst das Bild des Körpers von diesem selbst ab, trennt den Körper von seiner 'natürlichen' Stimme, an deren Stelle eine andere sprechen kann: Eben diese Phänomene prägen auch die Transgender-Erfahrung der beiden Protagonist/inn/en. Morands Zuliana versucht vergeblich, aus diesem existenziellen 'Alptraum' zu erwachen, ihren Körper mit seinem plötzlich fremden Spiegelbild wieder in Einklang zu bringen: "Chaque nuit, quand la maison dormait, j'allumais une bougie et, malgré les piqûres de moustiques, dans la glace, je me regardais, je me surveillais avec malveillance; sur moi je passais des mains inquiètes, prête à douter de ce cauchemar" (FD 299). Eine fremde Stimme, die ihr Geheimnis zu verraten droht, scheint nun aus ihr zu sprechen; selbst Zulianas im Allgemeinen nicht sonderlich hellhöriger Ehemann ist von dieser Stimme irritiert: "Sa voix avait mué; c'était comme si maintenant quelqu'un d'autre parlait en elle" (FD 296). Zuliana selbst teilt diese Irritation ("Ma voix m'effrayait. II me semblait qu'elle disait tout haut mon secret" FD 299) und bestätigt in La nuit dalmate explizit, es habe wirklich 'jemand anders' durch sie hindurch gesprochen: "Quelqu'un d'autre parlait, à travers moi" (ND 180).26

Bei aller Gemeinsamkeit der kinematographischen Motivik ist die gegenläufige Dynamik der beiden Texte unübersehbar. Bei Morand steht das Kino-Erlebnis, das erst nachträglich seine fatale Symbolik offenbart, am Anfang: Die vermeintliche Realität der Kriegsszene wird als Fiktion entlarvt; hier kündigt sich der Zusammenbruch auch diverser Fiktionen des Geschlechts unmissverständlich an. Gómez de la Sernas Text dagegen strebt dem Endpunkt der 'Kinematographisierung' von Identität überhaupt zu: Die Heldin zieht sich definitiv aus der 'Realität' auf das weitläufige Gelände des Kinostudios zurück. Dessen Direktor, ihr Initiator in die cineastische Alternativwelt – "a bizarre world between fiction and reality" (McCulloch 2007: 117) –, ist selbst bereits von seltsam surrealer, 'technisierter' Körperlichkeit: "Y el caballero monumental dejó una tarjeta en la mesa de Marien y, saludando, quitándose el sombrero y doblándose como si la hubiese hecho una fotografía con la calva destaponada, se dirigió a pasos de trípode hacia el estudio filmador de que era respon­sable" (MVH 137). Körper werden zur (Bild)Montage, mit deren einzelnen Elementen fast nach Belieben experimentiert werden kann. Marien, deren bloßer Anblick ganz Berlin in Gender-Aufruhr versetzt, spielt raffiniert mit dekorativen Versatzstücken von 'Männlichkeit' und 'Weiblichkeit'. Nachdem sie im Scherz gemeint hat, sie hätte gern einen "kinematographischen" Schnurrbart ("¡Ah! Si nos pudiéramos dejar el bigote [...] yo tendría uno de esos bigotes cinematográficos que convencen a cualquiera" MVH 135), legt ihr Verehrer Otto – in einem trotzigen Versuch, die extravagante Marien zu übertrumpfen und so doch noch ihre Gunst zu gewinnen – sich tatsächlich einen "absurden" Schnurrbart, traurigen Fetisch seiner boykottierten Männlichkeit, zu; mit diesem Schnurrbart und seinem hohen Kragen ähnelt sein Kopf nun einem grotesken Blumenstrauß (den die Angebetete ebenfalls verschmäht): "Otto estaba perdido. [...] Se compuso el bigote absurdo y exageró su cuello de tirilla, dejando que se ensanchase en lo alto y así diese a su cabeza una apariencia de bouquet grotesco" (MVH 137).




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Bevor sie sich in den Kinopalast begibt, lässt Marien sich stundenlang durch die Stadt chauffieren, womit sie ihren Körper für den Übergang aus einer im Übrigen längst brüchig gewordenen Realität in das Reich der Inszenierung präpariert: kaum ein besserer – mobiler – Ort für diese Initiation als jenes Taxi, das Menschen wie gesagt zu 'Puppen' macht. Das Kinostudio selbst, exzentrische Synthese der Moderne, wird zur beinahe 'infernalisch' anmutenden Kultstätte: "Todo estaba pintado en blanco y negro, y tenía aspecto de infierno allí dentro. Bolsa, sinagoga, teatro, sala de baños, misterioso recinto de ejecuciones, era aquel local de columnas sin remate" (MVH 138). An der Schwelle empfängt die Heldin wiederum der Direktor, jetzt als monströse Schattenprojektion:

El director visto en la terraza del café casual lo llenaba todo, imponente, con un reflector a su espalda que proyectaba su som­bra sobre el embaldosado de catedral de la sala de las explicaciones. Parecía obedecer aquella exorbitación del director a un plan, según el cual, el director no debe ser abandonado nunca a sus proporciones humanas, aunque fuesen tan descomunales como las de aquel hombre.
Marien no hizo más que asomar la cabeza, y el monstruo la salió al encuentro.
– ¿Está decidida?
– Sí – dijo Marien. (MVH 138)

Der Körper der Protagonistin passt sich sogleich den cineastischen Dimensionen an; Marien wünscht nicht ins 'Leben' zurückzukehren, weil man sie dort wieder 'verkleinern' werde. Dem – vergrößerten, manipulierten – Bild des Körpers wird hier Priorität gegenüber diesem selbst eingeräumt, ebenso wie der 'Inszenierung' gegenüber der 'Realität'.27 In weiser Voraussicht hat der Herrscher dieser Kinowelt für jene gesorgt, die ihr 'Gelübde' ablegen und dieses hybride Kloster der technischen Moderne nicht wieder verlassen wollen:

– Pero ahora tengo miedo de volver a la vida – confesó Marien al director –. Allí están esperándome para empequeñecerme. [...]
– Pues entonces quédese aquí… [...] Nadie la volverá a ver, si usted quiere, pues tengo preparado el fondo de los jardines para las que profesaron. (MVH 139)

La mujer vestida de hombre endet dort, wo die tragikomische Liebesgeschichte in La fleur double beginnt: mitten in einer Kino-Szenerie.




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Fragen ohne / als Antwort oder: Die Kunst der (Des)Identifikation

 

– Marien [...] ¿por qué quiere ser una interrogación para todo?
– Porque lo más sincero que se puede ser es una interroga­ción. (MVH 131)

Beide hier analysierten Texte lassen Geschlechtsidentität in ihre einzelnen Bestandteile zerfallen, machen sie als mehr oder (eher) weniger kohärente Montage sichtbar: Trotz teilweise sehr ähnlichen narrativen Verfahren und vielen motivischen Gemeinsamkeiten besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied in der jeweiligen (Re)Definition von geschlechtlicher Identität. Bei Morand bleibt der Körper die entscheidende Instanz; die Biologie – auch wenn sie in diesem Fall sich als einigermaßen kapriziös erweist – bestimmt die soziale Identität einer Person. Es ist der Körper, der lange vor dem Charakter in Unordnung gerät, 'unkenntlich' wird und beim schockierten Ehemann, der sich die ersten Manifestationen einer "déviation secrète" nicht erklären kann, zunächst den Eindruck von 'Hässlichkeit' erweckt:

Ce fut d'abord sa femme qu'il trouva: elle lui tournait le dos et ne s'apercevait pas de sa présence. Ce ne pouvait être qu'elle, et pourtant Lebecq eut quelque peine à la reconnaître. [...] Ce n'était pas ce bouleversement désordonné d'une crise, mais plutôt une déviation secrète, une de ces lentes déformations que donnent les lésions chroniques. [...] Un artiste eût dit que, dans ce corps de femme, rien n'était plus 'à sa place'. Sans qu'il pût comprendre pourquoi, Lebecq ressentit un vif déplaisir et l'impression que Zuliana devenait laide. (FD 295f.)

Morands Protagonist/in beginnt ihren / seinen intersexuellen Parcours als schöne Frau und beendet ihn als gleichfalls sehr attraktiver Mann; dazwischen liegt eine Phase der irritierenden 'Unlesbarkeit' eines geschlechtlich ambivalenten Körpers, der von Lebecq, diesem naiven Repräsentanten des Patriarchats, dessen Blick nach einer klaren ästhetischen Ordnung der Geschlechter verlangt, als 'hässlich' wahrgenommen wird. 'Schönheit' erscheint hier untrennbar an die unmittelbar evidente 'weibliche' oder 'männliche' Identität eines Körpers gekoppelt.28 Zuliana, vorerst noch ganz treue und ergebene Ehefrau, wird von der Rebellion ihres Körpers, dem mit seiner geschlechtlichen Eindeutigkeit auch seine Schönheit abhanden kommt, überwältigt: "Je voulais vivre près de toi, simplement, t'être fidèle avec persévérance. Pourquoi ne le puis-je plus? Par quelle malédiction divine ai-je, d'abord à mon insu, ensuite à mon horreur, changé de sexe?" (FD 299). Hier wird zuerst sex, dann erst, sehr zögernd, auch gender gewechselt. Die beginnende Maskulinisierung ihres Körpers wird von Zuliana selbst als Steigerung und Vollendung ihrer Weiblichkeit fehlinterpretiert: Als ihre Menstruation verschwindet, verkündet sie erfreut ihrem stolzen Ehemann, dass sie nun endlich schwanger sei (FD 294). Ihr Körper, der unter heftigen Schmerzen ein neues Wesen zur Welt zu bringen versucht – ein fast schon nicht mehr weiblicher Körper, der in einem letzten Aufbäumen der Weiblichkeit sein eigenes männliches Alter Ego gebiert–, eilt der restlichen Person in die Männlichkeit voraus:

Soudain j'eus l'impression que mes flancs se déchiraient, une douleur aiguë comme d'un corps qui cherche passage... [...] bientôt mes formes se modifièrent. Je m'en cachai comme d'une maternité sous des robes amples, pour que tu ne puisses t'en apercevoir. Hélas, c'était bien le contraire d'une maternité. [...] Il me semblait que chaque jour, la femme en moi s'atrophiait et qu'un autre être demandait à naître [...] (FD 299)




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Erst allmählich folgt Zuliana der Metamorphose ihres Körpers, bildet einen 'männlichen' Charakter aus – nicht aufgrund eines bewussten Entschlusses wie Gómez' Heldin, sondern weil ihre neue Anatomie ihr keine andere Wahl lässt. Paradoxerweise ist es hier gerade die Gender-Transgression, die die 'prästabilierte Harmonie' zwischen körperlicher, sexueller und sozialer Identität wiederum 'beweist': Zuliana entwickelt nach den primären und sekundären automatisch auch die zur neuen biologischen Identität passenden "tertiären Geschlechtsmerkmale" (Birdwhistell 1970: 42), wobei diverse 'männliche' Attribute erst recht in ihrer vermeintlichen Natürlichkeit revalorisiert werden. Männer lieben 'natürlich' Tabak und Spirituosen, Frauen Schminke und Parfums: "[...] elle a le désir du tabac et des liqueurs fortes. Il lui est impossible de prolonger ses soucis d'élégance; sur sa table tombent en disgrâce les parfums, la poudre" (FD 303). Männer besitzen 'natürlich' mehr Mut, mehr Freiheitsdrang, mehr Abenteuerlust und Unternehmungsgeist als Frauen: "Plusieurs fois elle se surprend à vouloir agir.29 Le goût du permanent fait place au goût du risque" (ebd.). Die früher so demütige und passive Zuliana absolviert im Schnellverfahren ihren "apprentissage d'homme" (ebd.), der allerdings weniger als sozialer Lernprozess denn als strikt biologisch determinierte Adaptation erscheint. Die – insofern schon wieder zweifelhafte – Gender-Subversion in diesem Text vollzieht sich gegen den Willen der Heldin; der Impuls zur Transgression geht (nur) vom Körper aus, von der 'Natur', die auch dort noch, wo sie gegen ihre eigenen Gesetze zu verstoßen scheint, in ihrer Allmacht bestätigt bzw. in diese wieder eingesetzt wird.

Die konventionelle feminine Gender-Rolle als solche wird dabei sehr wohl kritisch reflektiert; Zuliana, neugeborener Mann, fühlt sich durch die Galanterie, mit der sie – in den Augen der anderen immer noch Frau – nach wie vor behandelt wird, herabgesetzt; mit Komplimenten weiß sie nichts mehr anzufangen. Sie empfindet den männlichen Respekt vor der Weiblichkeit als "privilège fictif" bzw. "privilège idiot" (ND 187) – eine Einschätzung, die Kofmans Analyse des "respect des femmes" (Kofman 1982: 13f.) teilweise vorwegnimmt und der der Erzähler zumindest nicht widerspricht; sie weigert sich, weiterhin als Standbild einer längst illusorischen Weiblichkeit auf ihrem Podest zu verharren:

Il lui semblait qu'on la destituait en la traitant comme une femme. Lorsqu'on lui parlait de la beauté, elle pensait à la bravoure. Lorsqu'on lui rendait des devoirs de politesse, elle sentait que ce n'était qu'en vertu d'un privilège fictif qui allait cesser. Ses jambes, sous ses jupons, elle les sentait terriblement libres, se dégainer, comme une statue qui refuserait l'assistance de son socle. (FD 303f.)

Erst dort, wo die neue 'männliche' Identität einer Frau die traditionelle weibliche Rolle sprengt, werden deren Einschränkungen und Absurditäten sichtbar. Zuliana verwandelt sich freilich nicht in eine freie, mutige, unabhängige Frau, sondern – nachdem sie lange genug eine perfekt angepasste (häusliche, unterwürfige, sanfte) Frau gewesen ist – in einen nicht minder perfekt seiner clichéhaften Geschlechterrolle angepassten Mann. Aber immerhin – auch Gender-Rollen wollen, und zwar mit großer Mühe, gelernt sein; so weit reicht die Denaturalisierung der Kultur, wenn schon nicht der Natur, in Morands Text.




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Die Phase der Gender-Konfusion wird erfolgreich überwunden; mit dem finalen Partnertausch wird eine temporär destabilisierte Geschlechterordnung weitgehend wiederhergestellt. Der Erzähler ironisiert zwar das ausgeprägte Ruhe- und Harmoniebedürfnis seines Helden; doch der Text als ganzer strebt durchaus der – prophylaktischen – Beruhigung eines drohenden Aufruhrs der Geschlechter zu. Gender-Identität ist, so versichert dieser Text, nichts als ein Effekt des in seiner meist unproblematischen Eindeutigkeit re-etablierten anatomischen Geschlechts; den 'Launen' der Natur ist Rechnung zu tragen, im Allgemeinen ist auf diese Natur Verlass. Dieses 'Naturgesetz' gilt auch in anderen Texten Morands, in denen eine prononciert biologistische Zu- und Festschreibung von Identitäten vollzogen wird; Körper bestimmen die 'richtige' gesellschaftliche Position ihres Trägers – auch wo sie maskiert und verkleidet werden, setzt sich ihre natürliche Macht früher oder später durch. Wer gegen die Identität, die ihm sein Körper 'vorschreibt', zu rebellieren, eine ihm nicht zustehende Identität zu usurpieren versucht, wird irgendwann dafür bestraft und auf seinen Platz verwiesen – und zwar von diesem Körper selbst, der die unpassende Maskerade schließlich aggressiv verweigert.30

Während die verzweifelte Heldin aus La fleur double sich von Gott verflucht, von ihrem eigenen Körper verraten fühlt und vergebens versucht, diesen Körper – einigermaßen paradox – mit diversen religiösen Ritualen wieder zur Vernunft zu bringen ("J'espérais encore que ce miracle cesserait, que mon corps reviendrait à la raison. Je priai le Bambin, je mis des cierges à la Madone. Rien n'y fit, et je brûlai en vain des kilogrammes de cire" FD 300), wird in Gómez' Text mit Gender-Identitäten ein absichtlich provokantes, lustvolles Spiel getrieben. Hier erscheint nicht der Körper als primäre Instanz der Verwirrung: Die Protagonistin ist biologisch zunächst eindeutig weiblichen Geschlechts; eine (zukünftige) Frau, die aber aus einer Reihe von guten Gründen beschließt, lieber keine mehr sein bzw. werden zu wollen, und "la terrible ambigüedad" (MVH 119) im Weiteren nicht nur erträgt, sondern genießt. Marien ist zugleich Regisseurin ihrer eigenen Gender-Inszenierung und gesellschaftliches 'Symptom'; die Dekonstruktion einer vermeintlich stabilen, unveränderlichen Identität erscheint hier nicht als Demontage des Subjekts, als Auflösung seiner Handlungsfähigkeit im gesellschaftlichen Diskurs; sie verspricht im Gegenteil eine schwierige und immer wieder neu zu realisierende Autonomie. Die Protagonistin, die keine 'Frau' mehr sein will, will deshalb noch nicht unbedingt ein 'Mann' werden: "Yo no quiero ser mujer, pero tampoco quiero ser hombre" (MVH 135); diese doppelte Verweigerung irritiert ihre Zeitgenossen noch mehr als die bloße 'Verkleidung' als Mann.31 Hier ist es das soziale Rollenspiel, das schließlich auf den Körper zurückzuwirken, die Biologie selbst zu beeinflussen scheint. Die trügerische Einfachheit des Titels La mujer vestida de hombre gerät bald ins Wanken; die Heldin ist nicht nur eine als Mann verkleidete Frau; die Maskerade lässt den Körper nicht aus dem Spiel. Der Text problematisiert diesen 'Körper' selbst als "naturalisierte[n] Begriff" (Butler 2003: 196); er illustriert, wie sehr Körper 'gemacht', das Produkt soziokultureller Zu- und Einschreibungen sind. Gómez' Protagonistin widerlegt strategisch traditionelle Gender-Glaubenssätze, bringt alte Wahrheiten über 'Männer' und 'Frauen' aus dem Gleichgewicht; sie versteht sich überaus selbstbewusst als perfekte Inkarnation des "tipo de la época" (MVH 137), als Avantgarde einer neuen de-feminisierten 'Weiblichkeit'. Wenn alle Frauen ihrem Beispiel folgten, so erklärt sie, wäre die Situation "gerettet", wobei man allenfalls zu musealen Zwecken einige repräsentative Exemplare der "feminidad del pasado" – mit diversem dekorativem Aufputz, "con sus lazos y sus flores, con sus caderas y sus redondeces" – konservieren könnte (MVH 133). Marien erweist sich als Meisterin der Dekonstruktion avant la lettre – und hierin nicht zuletzt als heimliche 'Verwandte' des Autors mit seiner eminent 'dekonstruktiven' Kunst.32 Auf die Aufforderung ihres nach mehr oder weniger ewigen Wahrheiten strebenden Verehrers, sich endlich zu 'identifizieren', entgegnet sie, die alle Wahrheiten und alle endgültigen Antworten ablehnt, für die nichts außer Zweifel steht (es sei denn eben dies), das Ehrlichste, was man sein könne, sei immer noch eine (in ihrem Fall für die Umgebung ebenso unbequeme wie provokante) Frage:




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– Marien – dijo Otto, cuando hubo devuelto la voz a su larin­ge seca –, ¿por qué quiere ser una interrogación para todo?
– Porque lo más sincero que se puede ser es una interrogación.
– Y si hubiese quien la dijese una verdad que no admitiese duda, ¿modificaría usted su interrogación?
– No puede haber nada que no admita duda... (MVH 131)

Der Schwebezustand der (Gender)Identität wird aufrechterhalten; das Subjekt bleibt hier im Wesentlichen eine unbeantwortete – und nicht zu beantwortende – Frage, während bei Morand am Ende trotz allem eine – wenn auch prekäre – Antwort steht.


Bibliographie

Barthes, Roland (1985): "Sémiologie et urbanisme" , in: ders.: L'Aventure sémiologique. Paris: Seuil, 261–271. [1967]

Ben Jelloun, Tahar (1995): L'enfant de sable. Paris: Seuil. [1985]

Birdwhistell, Ray L. (1970): Kinesics and Context: Essays on Body-Motion Communication. Philadelphia: Pennsylvania UP.

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Anmerkungen

1 Seitenangaben zu Zitaten und Verweisen beziehen sich im Weiteren auf folgende Editionen: Morand, Paul (1994b): "La Fleur double", in: ders.: Nouvelles complètes, Bd. 1 (Hg. Michel Collomb). Paris: Gallimard (Pléiade), 287-309 [Erstfassung 1924] [= FD]; sowie Morand, Paul (2001): "La nuit dalmate ou La fleur double", in: ders.: Ouvert la nuit. Paris: Gallimard, 159–196 [Neufassung 1966] [= ND]. Zitiert wird nach der Originalfassung von 1924; signifikante Variationen in der späteren Version für Ouvert la nuit werden zusätzlich berücksichtigt.




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2 Der Protagonist der Novelle Madame Fredda (1925) etwa wird von einer unbekannten Frau völlig ungeniert durch die Straßen von Paris verfolgt: "Cette poursuite l'excitait. Il pensa qu'un jour viendra peut-être où les hommes ne pourront plus sortir seuls. Que lui voulait-on?" (Morand 1994f: 421). Die Verfolgerin, eine reiche Holländerin, erklärt ihm schließlich ohne Umschweife, sie habe sich schon lange gewünscht, mit einem jener Franzosen zu schlafen, die in ihrer Heimat "une énorme réputation de raffinement extraordinaire" hätten (ebd. 423); der französische Mann wird hier ohne weiteres zum anonymisierten 'Lustobjekt' reduziert, wobei ihm sein Kavaliersgeist nicht einmal erlaubt, auf diese Zumutung adäquat zu reagieren. Morand beobachtet, wie sich 'Frauen' in 'Männer' verwandeln; er betont immer wieder die fatale Unfreiheit gerade jener modernen Frauen, die die 'Naturgeschichte' widerlegt zu haben glauben – so Daphne, eine junge emanzipierte Lesbe aus der Novelle Éloge de la marquise de Beausemblant (1925): "Daphné croyait obéir librement à des lois particulières; elle était régie au contraire, et plus que d'autres, par le commun. [...] C'était une jeune fille d'aujourd'hui, c'est-à-dire à peu près un jeune homme d'hier. Elle avait pris aux mâles leur vivacité, leur pétulance et faisait mentir l'histoire naturelle qui veut les femelles calmes, lourdes et stationnaires" (Morand 1994e: 411). Hier wird 'die Frau' unmissverständlich auf ihren Platz verwiesen: emanzipierte Frauen sind nicht Frauen von heute, sondern Männer von gestern, die den Männern von heute wohl kaum als gleichwertige Konkurrentinnen entgegentreten können. Die männliche Verunsicherung verrät sich auch in der Ambivalenz des 'avait pris': Indem 'die Frau' als 'männlich' konnotierte Eigenschaften übernimmt, nimmt sie diese womöglich zugleich den Männern weg.

3 "[...] cette histoire de métamorphose sexuelle formule de façon paradigmatique, et avec une bonne dose d'humour, les angoisses que suscitaient à l'époque, et chez Morand lui-même, les changements nés de l'accès massif des femmes au travail productif et de leurs désirs d'émancipation, aussi bien sur le plan sexuel et conjugal que sur le plan économique. En ce sens, la transformation de Zuliana est l'aboutissement radical et monstrueux d'une évolution des rôles sexuels [...]" (Collomb 1994: 958).

4 In der Serie La novela pasional / Nr. 70, Madrid 1926.

5 Alle Seitenangaben beziehen sich im Weiteren auf folgende Edition: Gómez de la Serna, Ramón (1989d): "La mujer vestida de hombre. Falsa novela alemana", in: ders.: 6 falsas novelas. Madrid: Mondadori, 115–139 [= MVH].

6 "Lächerlich ist es, wenn Frauen zu Männern werden; aber schrecklich ist es, wenn Männer zu Frauen werden [...]" (Vinken 1993: 17).

7 "Whatever attribution of gender human bodies are subjected to, in literary texts these bodies, including their primary sex characteristics, are produced verbally and in this sense discursively. [...] At least in the realm of literature, sex becomes gender and gender, as something to be interpreted in terms of culture and history, becomes intertwined with the literary idea of genre and its historically dependent definition" (Ette 2003: 256).

8 Zum Begriff der Performativität vgl. Butler (1997: 138ff.); Butler (2002).

9 "Daher eröffnet das Fremde, Inkohärente, das, was 'herausfällt', für uns einen Weg, die als selbstverständlich hingenommene Welt der sexuellen Kategorisierung als eine Konstruktion, die im Grunde auch anders konstruiert sein könnte, zu verstehen" (Butler 2003: 164).

10 Bzw. "escamoter son drame" in La nuit dalmate (ND 186).

11 In La nuit dalmate formuliert der Arzt seine Diagnose angesichts dieser höchst kapriziösen Natur "tout naturellement" (ND 181).




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12 Dieser Doktor Werted versucht zwar mit völlig inadäquaten Methoden, dem Geheimnis seiner irritierenden Patientin auf die Spur zu kommen; dennoch weist auch seine scheinbar absurde Frage nach ihren spezifischen Gedanken beim Einsteigen in die Straßenbahn auf den Zusammenhang zwischen der Herausforderung des menschlichen Bewusstseins und des menschlichen Körpers durch moderne Technik, durch ein hyper-stimulierendes urbanes Milieu einerseits und der Destabilisierung traditioneller (Geschlechts)Identitäten andererseits hin. Die Erschütterungen des Nervensystems und des Wahrnehmungsapparates durch die Entwicklung der Verkehrstechnik waren seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Gegenstand medizinischer Erörterungen gewesen (vgl. hierzu z.B. Schivelbusch über die "Pathologie der Eisenbahnreise", Schivelbusch 2000: 106ff.).

13 "[...] el silencio de María iba solo por su camino y no contestaba a nada, como no contesta una mujer que se ha desmayado o se ha convertido en estatua de mármol" (Gómez de la Serna 1989b: 45).

14 "[...] se mostraba impasible, como fría estatua de bronce a la que baten las aguas inútilmente [...] Tenía en su negrura la palidez de los mármoles negros [...]" (Gómez de la Serna 1989c: 98).

15 Die falsa novela ist nicht einfach 'falsch', wie Gómez de la Serna in einer den 6 falsas novelas in der argentinischen Re-Edition von 1945 vorangestellten Advertencia Anecdótica erklärt; sie ist keine "novela falsa" und auch keine "novela falsificada" (Gómez de la Serna 1989a: 37). Sie problematisiert vielmehr die Möglichkeit von 'Wahrheit' im Roman; sie spielt mit der "Ununterscheidbarkeit zwischen Authentischem und Simuliertem im Kontext der symbolischen Ökonomie" (Groys 2000: 163). 'Authentizität' wird hier als Effekt einer Inszenierung reflektiert; alle sechs Falsas novelas evozieren vermeintlich authentische exotische Räume, die in ihrer radikalen Artifizialität, ihrer literarischen Konstruiertheit sichtbar werden (vgl. Wagner 1996: 149).

16 Vgl. dazu den Abschnitt "Foucault, Herculine und die Politik der sexuellen Diskontinuität" in Butler (2003: 142–165).

17 Nur am Rande sei hier auf einen späteren Text verwiesen, der ein Meisterwerk der Dekonstruktion von Gender-Identität auch in sprachlicher Hinsicht darstellt: Anne Garrétas Sphinx (1986) steht in der Tradition der Oulipo-Experimente – nur dass aus Sphinx nicht wie etwa aus George Perecs La disparition ein Buchstabe, sondern die Geschlechtsidentität der Protagonisten ('Ich' und 'A***') verschwindet.

18 Die Formulierung bleibt im Französischen gender-indifferent.

19 Das Motiv der bisexuellen männlich-weiblichen Konkurrenz um ein und dasselbe Liebesobjekt findet sich bei Morand des Öfteren, wobei die sexuelle Ambiguität die körperliche Identität als solche aber meist nicht tangiert; so in der Novelle Les amis nouveaux (1924), in der ein Ich-Erzähler namens Paul (die Lesenden werden hier geradezu zum identifikatorischen Kurzschluss zwischen Erzähler und Autor eingeladen; vgl. zu diesem für Morand insgesamt eher untypischen narrativen Verfahren Douzou 2003: 322) und eine Frau namens Paule um die Gunst der attraktiven Agnès wetteifern (vgl. Morand 1994c), oder auch in La nuit de Babylone (1922): Hier muss der Erzähler die Aufmerksamkeit der schönen Denyse mit einer undurchschaubaren Rivalin, einer erfolgreichen Chirurgin ("cette mauvaise bonne sœur à talons plats", Morand 1994a: 247), teilen.

20 "Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen" (Freud 2000: 222).

21 Vgl. etwa die Schilderung der Fabrik in der Falsa novela norteamericana (1927; Gómez de la Serna 1989e: 154).

22 Gómez de la Sernas Text weist damit auf wesentliche Aspekte späterer Debatten um den Einfluss neuer Technologien auf die (Re)Signifikation des menschlichen Körpers voraus – zwischen der technischen "Eroberung des Körpers" bzw. "einer fortschreitenden Kolonisierung der Organe und Eingeweide des menschlichen Körpers" (Virilio 1997: 108) und der triumphalen "Neuerfindung der Natur" (Haraway 1991), der Befreiung eines 'posthumanen' virtualisierten Körpers (Hayles 1999).

23 "[...] la ville est une écriture; celui qui se déplace dans la ville, c'est-à-dire l'usager de la ville (ce que nous sommes tous), est une sorte de lecteur qui, selon ses obligations et ses déplacements, prélève des fragments de l'énoncé pour les actualiser en secret" (Barthes 1985: 268).




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24 Den 'bourgeoisen' Betrug der Liebe, die sie als inhaltsleere konventionelle Fiktion entlarvt, verweigert auch Joseph Roths revolutionäre Heldin in Die Flucht ohne Ende (1927): "'Liebe! Liebe!' schrie Natascha. 'Das kannst du deiner Braut erzählen! Ich verachte deine Liebe. Was ist das? Du kannst es nicht einmal erklären. Du hast ein Wort gehört, in euren verlogenen Büchern und Gedichten gelesen, in euren Familienzeitschriften! Liebe! [...]'" (Roth 2001: 24).

25 Collomb weist auf den kulturellen / politischen Hintergrund von Zulianas Metamorphose hin: Das dalmatinische 'Ragusa' mit seiner alten venezianischen Tradition, nunmehr unter jugoslawischer Herrschaft in 'Dubrovnik' umbenannt, büßt ebenso wie "Donna Zuliana, ce plus beau des vestiges laissés par les Vénitiens à Spalato" (FD 291) seinen 'italienischen Charme' ein (Collomb 1992: 958). Das 'italienische' Moment wird in der Neufassung des Textes von 1966 noch stärker herausgearbeitet, vor allem Zulianas Rede gezielt mit italienischer couleur locale durchsetzt: "Je ne t'ai jamais rien caché, niente di nascosto… Maintenant je te parlerai comme je parlerais à la mamma. [...] Je priai le Bambino, je mis des cierges à la Madonna. [...] Siamo due uomini! [...] Maledetta! [...] Non mi rimane che la morte!" (ND 180ff).

26 Sowohl die Stimme als auch die Identitätssuche vorm Spiegel spielen auch in einem späteren Text, der die Gender-Transgression seiner Hauptfigur inszeniert, eine zentrale Rolle. Ahmed / Zahra, die / der Protagonist/in von Tahar Ben Jellouns L'enfant de sable (1985), fühlt sich ebenfalls von seiner / ihrer Stimme verraten: "Ma voix est grave, c'est elle qui me trahit. Dorénavant je ne parlerai plus, ou bien je parlerai la main sur la bouche comme si j'avais mal aux dents" (Ben Jelloun 1995: 153). Auch hier wird die Stimme vom Körper abgespalten ("une voix de femme dans un corps d'homme", ebd. 195f.); ein/e Fremde/r scheint aus dem Inneren des Subjekts zu sprechen. Und auch der (halb) in 'Zahra' zurückverwandelte 'Achmed' betrachtet seinen Körper lange im Spiegel, versucht Körpergefühl und Körperbild wieder zusammenzufügen, "une espèce de pacte entre mon corps et son image" (ebd. 116) zu stiften.

27 Auch in Gómez de la Sernas Cinelandia (1923) weicht die Realität der Inszenierung: Die 'echten' russischen Aristokratinnen im Exil erweisen sich als unfähig, Kino-Prinzessinnen zu spielen, und müssen also die Rollen von Dienstmädchen und Modistinnen übernehmen, während Frauen einfachster sozialer Herkunft perfekte Königinnen darstellen (Gómez de la Serna 1997: 192f.).

28 Sowohl Morands als auch Gómez' Text reflektieren indirekt die enge Beziehung zwischen Schönheits-Normen und dem Gebot eindeutiger geschlechtlicher Identifikation (die Codes der 'Schönheit' leisten bis heute nicht unwesentliche Dienste bei der Reproduktion einer binären Geschlechterdifferenz). Gerade in diesem Punkt ist es überaus aufschlussreich, die hier analysierten Werke mit den Texten einer Zeitgenossin Morands und Gómez de la Sernas 'gegenzulesen'. Im Werk Sidonie-Gabrielle Colettes wird immer wieder die Schönheit, die ästhetische und erotische Faszination des geschlechtlich Uneindeutigen beschworen: "La séduction qui émane d'un être au sexe incertain ou dissimulé est puissante" (Colette 2003b: 596). 'Männliche' und 'weibliche' Anteile verbinden sich harmonisch und zugleich provokant in einem einzigen Körper: Léa, die Protagonistin der Chéri-Romane (1920 und 1926), hat "le nez de Marie-Antoinette" und "le menton de Louis XVI" (Colette 2004: 723, vgl. auch Colette 2003a: 216). Die Ich-Erzählerin von Le Pur et l'Impur (1932 / 1941) beobachtet ihre schlafende Freundin, in deren Körper Chimène und der Cid sich zu überraschender Einheit finden (Colette 2003b: 589). Diesen Oszillationen auch der körperlichen Geschlechtsidentität wohnt jedoch nichts Bedrohliches inne, nichts, was nach eindeutiger (Re)Identifikation verlangte; mit Faszination werden die alltäglichen Metamorphosen des Geschlechts verfolgt, die subtilen Schwankungen im Verhältnis zwischen dem "sexe officiel" und dem "sexe clandestin" (Colette 2003b: 589), dessen Vorhandensein in jedem Augenblick bewusst bleibt. Die Spaltung in 'offizielles' und 'geheimes' Geschlecht wird als Resultat des Gender-Identifikationszwanges in einer Gesellschaft, die nur ein 'wahres' Geschlecht toleriert und damit andere Facetten individueller Geschlechtsidentität in die 'Illegalität' verdrängt, reflektiert; Colettes Figuren scheinen die von Foucault – ausgehend von der Geschichte jener auch in Morands Text präsenten Alexina B. alias Herculine Barbin – aufgeworfene Frage, "ob der Begriff des 'wahren Geschlechts' notwendig ist" (Butler 2003: 142f.), immer wieder spielerisch zu verneinen. Geschlechtsidentität ist bei Colette nicht Substanz, sondern ein "Prozess" (Cliche 2006: 122), der die Dichotomie Männlichkeit/Weiblichkeit destabilisiert, dabei über die bloße "[i]nversion des identités sexuelles" (Kristeva 2002: 78), ja sogar den vielzitierten "hermaphrodisme mental" (Colette 2003b: 586) hinausgeht, so dass der Körper, "corps polyphonique" (Kristeva 2002: 159), "corps polymorphe" (ebd. 421), gelegentlich überhaupt keinem bestimmten Geschlecht mehr anzugehören scheint: "[...] elle cessait d'appartenir à un sexe défini" heißt es über die alternde Léa in La Fin de Chéri (Colette 2003a: 220).

29 "Plusieurs fois elle se surprend à vouloir partir" in La nuit dalmate (ND 187, meine Hervorhebung).




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30 So beschließt etwa die schwarze, wenn auch trügerisch 'weiß' aussehende Familie Bloom in Excelsior (1928), sich eine falsche gesellschaftliche Identität zuzulegen und sich als weiß auszugeben, die berühmte 'Trennlinie' zwischen den Rassen ("la ligne, la fameuse ligne qui sépare les deux races", Morand 1994g: 546) zu überschreiten, was vorübergehend gelingt; es ist der Körper der besonders hellen, besonders schönen, mit einem Mitglied der weißen guten Gesellschaft verlobten Tochter, der für die Wiederherstellung der Ordnung sorgt, indem er plötzlich wieder offensichtlich, unübersehbar 'schwarz', ja 'negroid' wird und so den Betrug entlarvt. Diese höchst ambivalenten Körper erscheinen einerseits als unheimlich autonome Subjekte, andererseits aber auch als inkarnierte Versprechen einer 'natürlich' geordneten Welt. Diese – implizit stets hoch politische – Körper-Ideologie Morands fügt sich im Übrigen hervorragend in kolonialistische und rassistische Argumentationsmuster; die Körper von Schwarzen 'verraten' auch lange nach ihrer historischen Befreiung die 'natürliche' Bestimmung ihrer Träger – nämlich Sklaven, Arbeitstiere zu sein, so in Adieu New York! (1928): "L'absence de besoins était pour ces ancêtres d'Afrique la plus belle parure; la pauvreté les ennoblissait; plus ils travaillaient de leurs mains et plus ils étaient beaux. Ils peinaient en riant, et tout effort, chez eux, devenait un chant ou une danse" (Morand 1994h: 590). Der Körper der Protagonistin des eben zitierten Textes – der Körper einer wohlhabenden, fast ganz 'weißen' New Yorkerin mit schwarzen Vorfahren – weiß viel besser als seine Trägerin, was gut für diese ist; er suggeriert ihr über sexuelle Reaktionen die 'richtigen' Entscheidungen und führt sie so zurück in den afrikanischen 'Dschungel', wo sie als eine von zahlreichen Ehefrauen des Häuptlings-Sohnes im kollektiven Nackttanz endlich zu sich selbst findet und glücklich wird: "Elle en avait assez d'être une fausse Blanche! [...] Adieu New York! Paméla Freedman rentrait dans le ventre de l'Afrique. [...] On la vit se frapper les paumes, pliée en deux à chaque cadence, pieds joints, jambes collées, croupe tendue, comme les négresses, maintenant l'une d'elles" (ebd. 593).

31 Es ist unübersehbar, wie sehr dieser Text auch spätere Kommentatoren noch zu 'beunruhigen' vermag. Signifikant ist etwa Camón Aznars Kurz-Kommentar zur Falsa novela alemana: "En esta novela – alemana – encontramos ese punto de afición a los estados tan anormales, a las insinuaciones ambiguas, sin consolidar. La ingenuidad en Oto al lado del androginismo de Marien" (Camón Aznar 1972: 332).

32 "It is certainly true that the overiding [sic] tendency in Ramón's writing [...] is to deconstruct: to move insistently away from wholeness towards the isolated, self-contained fragment. Instead of trying to reorchestrate reality into a single, harmonious, intelligible, artistic entity, Ramón systematically disassembles it, breaking it down into its multiple component parts, each of which is then studied, explained or interpreted separately" (Dennis 1988: 14).