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Daniel Krause (Berlin)



Fritz J. Raddatz (2009): Rainer Maria Rilke. Überzähliges Dasein. Eine Biographie. Zürich, Hamburg: Arche Literatur Verlag.



"Fritz J. Raddatz, einer der profiliertesten Publizisten Deutschlands, entwirft ein grandioses Porträt des weltberühmten Dichters Rainer Maria Rilke, das in seiner feinsinnigen Art, Leben und Werk aufeinander zu beziehen, seinesgleichen sucht."
So lautet der Umschlagtext, der seinerseits durchaus nicht auf 'Feinsinn' Anspruch erhebt. Solcherlei Entgleisungen fallen allerdings kaum ins Gewicht, wenn sich besagtes 'Porträt' so grandios wie behauptet darstellt. Eben dies ist der Fall.

Fritz J. Raddatz, Verfasser diverser (skeptisch aufgenommener) Romane, weiß zu erzählen. Auch im biographischen Genre hat Raddatz sich mehrfach bewährt, mit Lebensbeschreibungen über Marx, Heine und Benn. Freilich – 'Interpretation' im trivialen Verstande verschmäht er:

"Mir liegt daran, Rilke herauszulösen aus dem Klischee des unverständlich sich verpuppenden Weihepriesters, die Einfachheit deutlich zu machen, die im Seminardeutsch "Dingästhetik" heißt [...] Es wäre allerdings eine Banausie, sich in diesem biographischen Essay nun einzugliedern in die kaum mehr überschaubare Reihe der 'Elegien'-Interpreten. Hier kann nicht mehr als ein Angebot gemacht werden, Rilke zu lesen mit möglichst kühlem Verstand. Keineswegs ist er nur Pathetiker, dessen Gesänge wir unbedingt auf den Knien unseres Herzens hinnehmen sollten. Rilke reicht keine unbegreiflich geweihte Hostie. Man kann ihn verstehen. Der dunkle Rest mag bleiben, den Walter Benjamin wohl mit seiner Warnung meinte, wer je behaupte, er habe ein Gedicht verstanden, der habe es nicht verstanden." (126)

Dies hindert Raddatz nicht, gerade im Zusammenhang der Elegien dichte, anspruchsvolle Textanalysen zu bieten.

Lässt man den gründlich erarbeiteten Apparat samt Register beiseite, kommt Raddatz mit kaum mehr als 150 Seiten aus: Unangestrengte Dichte zählt zu den schönsten Vorzügen seiner Darstellungsweise. Raddatz setzt Parenthesen, wo andere kompletter Kapitel bedürfen. In Zeiten, da dickleibige Biographien in Mode kommen, verdient sein sicherer Blick fürs Wesentliche besondere Anerkennung: Diesem Rilke-Buch fehlt nichts. Vita wie Schriften des Dichters werden sorgfältig auseinandergesetzt. Raddatz sprachliche Mittel sind reich, ihm stehen Register des Feuilletons wie erzählender Prosa zu Gebote. Dennoch vergibt er sich nichts an Genauigkeit und begrifflicher Strenge. (Raddatz ist habilitierter Germanist.) Man könnte es Populärwissenschaft nennen, wenn dieser Ausdruck nicht abschätzige Wertungen aufriefe. Wo Raddatz vom wissenschaftlichen Sprachgebrauch abweicht – terminologische Schibboleths werden durchweg vermieden –, geschieht es aus Fülle, nicht Mangel. Mag es unabsichtlich geschehen: Fritz J. Raddatz knüpft an eine reiche Tradition darstellungsbewusster Wissenschaftsprosa an: Emil Staiger, Beda Allemann, Heinz Schlaffer und Peter von Matt seien beispielhaft genannt.

Raddatz gelingt, was selten gewagt wird: Literarische Qualität werten, in dezidierter, zwingender Weise.




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So heißt vom Cornet:
Und hätte Rainer Maria Rilke [...] nur diese nicht einmal zwanzig Seiten geschrieben: er wäre ein Gigant. Die "Story" des Fähnrichs, der aufbricht ins Getümmel und im Nirgendwo verschwindet, ist keine "Cause célèbre". Geschehen und Gestalt werden verschlungen von Sprache, da ist kein Wort zuviel, die Ereignisse entstehen durch Sprache [...]. Souverän und perfekt webt Rilke Sprachhaltungen – erlebte Rede, personalisiertes Erzählen – ineinander mit Stimmungen [...] und das alles wieder mit typisierten Bildern: der sterbende Held, die Mutter verehrender Sohn [...] und [...] noch in der Liebesnacht sein Abendgebet sprechend (27-28).

Gedankenreich Raddatz' Einlassungen zum Rosen-Motiv, bei Rilke und – in dessen Nachfolge – bei Benn und Celan (113ff). Das Russland- und Spanien-Erlebnis wird gründlich gewürdigt, in überzeugendem Bezug aufs dichterische Werk. Die Russlandreisen werden geistreich 'geerdet' durch detaillierte Auskünfte zur materiellen Seite dieser Dichterexistenz. Rilke war durchaus kein "Simpel in Gelddingen", und "Gottsuche will bezahlt sein" (96). Das Prekäre der freischaffenden Dichterexistenz wird gleichwohl nicht unterschlagen: Der unstet Reisende, ein Großverdiener, der durchweg mehr ausgibt als einnimmt und stets aufs Mäzenatentum wohlmeinender Gönner verwiesen bleibt. Trotz glaubhaftem Einspruch gegen "Sabber-Biographica" (43) spart Raddatz auch Erotica nicht aus und weiß sie glaubhaft zu überhöhen im Sinne Rilkescher erotizistischer Metaphysik. Privatestes steht neben Religiösem, und Raddatz versteht es, ein Miteinander daraus zu formen

Vielleicht am eindringlichsten und differenziertesten gerät die Malte-Lektüre. Sie wird anhand der desaströsen Rezeptionsgeschichte entfaltet:

Wir wollen der Frage nachgehen, worin das Unverständnis, nein: das Miß-Kennen dieser so ungeheuer bohrenden, avantgardistischen Prosa wurzelt. Um es kurz zu sagen: Rilke war ein Surrealist avant la lettre. [...] Ein Satz wie 'Einzelne Blumen in den langen Beeten standen auf und sagten Rot, mit einer erschrockenen Stimme' ist purer Aragon der surrealistischen Frühphase [...] (57f).

Hier wie anderswo gilt: Raddatz' setzt Bildungswissen und literaturgeschichtliche Kenntnis souverän ein, auch Fragen literarischer Technik werden gebührend gewürdigt. Die stil- und geistesgeschichtliche Einordnung Rilkes in den Zusammenhang der europäischen Avantgarde gelingt überzeugend. Sie widerlegt wie nebenbei das notorische Thomas-Mann-Wort von Rilke als "österreichischem Snob": "[...] sein Ästhetizismus, sein adeliges Getu', seine frömmelnde Geziertheit waren mir immer peinlich und machten mir seine Prosa ganz unerträglich (60). Sie widerlegt im Übrigen den Soupçon, Biographien seien wesenhaft biographistisch, ungeeignet, das Literarische der Literatur zu erhellen.

Auch Bedenkliches kommt zur Sprache: Rilkes gediegen-kultiviertes antisemitisches Ressentiment. Es tritt zumeist vermischt mit Groll und Eifersüchteleien auf, wenn etwa Karl Kraus als Nebenbuhler um die Gunst der Sidonie Nádherný von Borutin erscheint, oder Franz Werfel, von jeher ungeliebt, verunglimpft werden soll. Auch Rilkes jeglicher gesellschaftlichen Wirklichkeit enthobenen Russland-Mystifikationen werden unnachsichtig entlarvt ("kitschig ausgepinseltes Panorama", "genährt aus der Lektüre von Tolstoi und Dostojewski", 143).

Zu Raddatz' größten Verdiensten gehört es, dass er Rilkes politische Seite, wenn nicht entdeckt, so zumindest zur gebührenden Aufmerksamkeit bringt:

In die Lesebücher damit! Es sollte dort nicht nur das schwer Entzifferbare, der Hohe Ton, das Gestelzte und gar nicht so selten Manierierte dem Aufseufzen literarisch Beflissener dargeboten werden; auch diese reine Flamme seiner Empörung über deutsches Unwesen ist Teil der Persönlichkeit eines Rainer Maria Rilke (103).




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Vom durchaus untypischen, seltsam luziden Weltkriegserlebnis des Dichters wird dieses berichtet: "[...] in Rilkes Innerem ging es kein bisschen pläsierlich zu. Er fühlte seine seelische Balance vernichtet [...]. Ein Mann, gesättigt von europäischer Kultur wie kaum einer – und nun war Europas Kern, war die Erde Frankreichs und Deutschlands vollgesogen mit Blut. Es gilt, sich sehr klar zu verdeutlichen: seit 1871 hatte es in Zentraleuropa keinen Krieg mehr gegeben und selbst der – falls Kriege überhaupt gesittet sein können – war noch einigermaßen gesittet verlaufen, verglichen mit dem Inferno der Materialschlachten etwa bei Verdun, wo Hunderttausende gemetzelt wurden. Das war auf fürchterliche Weise neu [...] Nicht zufällig findet sich bis heute in jedem französischen Dorf [...] ein Denkmal mit den Namen der so unendlich vielen im Dreck Verreckten [...]." (100) Der vermeintlich so unpolitische Rilke zeigt sich mit Blick auf mentale Kontinuitäten vom Kaiserreich durch die Republik zum Faschismus bemerkenswert hellsichtig. Die Ausführungen über Rilkes Misstrauen noch gegen das demokratische gewendete Deutschland gehören zum Erhellendsten dieses Buches. Sie werden mit reichlich Selbstzeugnissen hinterfangen:

Aber welche Widerwärtigkeit, diese deutsche Regierung, in ihrem Aufhetzen und Anstiften und ihrer wiederum 'ehrlichen' und doch so unwahren Wuth. Und dazu die Fahnen auf Halbmast, die nichts anders sind, als (immer noch) auf Halbmast herabgelockerte, von Wilhelm II abgelegte Paradehosen. [...] Ach, Chère, wie wie hasse ich dieses Volk [...] welches Un-Wesen! Niemand wird je behaupten können, daß ich seine Sprache schreibe! – Kein Volk, kein Volk! Eine zu jedem Auftrieb des Großthuns brauchbare Masse; gleichgültig gegen jede Idee, aber stolz darauf, so viele Ideen 'getrieben' zu haben (102f).

Das Widerstrebende in Rilkes Selbst- und Weltauffassung wird von Raddatz zuverlässig zur Geltung gebracht. Dies gilt durchaus auch für das Verhältnis zu Deutschland: "Welch eine Unsinnigkeit, mir zu insinuieren, ich hätte je behauptet, kein deutscher Dichter zu sein. Die deutsche Sprache wurde mir nicht als Fremdes gegeben; sie wirkt aus mir, sie spricht aus meinem Wesen. Konnte ich an ihr arbeiten, konnte ich sie zu bereichern suchen, wenn ich sie nicht als ureigenstes Material empfand?" (149)

Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Rilke. Überzähliges Dasein. Hält wissenschaftlichen Ansprüchen stand: Neuere Forschungsergebnisse, zumal der Editionsphilologie, werden kompetent gewürdigt. Dies betrifft, um ein Beispiel zu geben, Ulrich von Bülow, der jene juristischen Hemmnisse, die Rilkes Scheidung von Clara Westhoff unüberwindlich entgegenstanden, dargestellt hat. Sie werden von Raddatz, durchaus behutsam, mit dem Schreckenston der Duineser Elegien in Verbindung gebracht. Auch wird Rilkes oftmals bestrittene innige Bindung an Prag nachgewiesen, "den großen stummen Fisch, in dem die Kindheit war" (106) – nicht ohne dem weithin verbreiteten "Gerücht" entgegenzutreten, Rilke habe sich als "tschechischer Schriftsteller" deklariert.

Raddatz' "biographischer Essay" wird begeisterte Leser finden. Was kann er der Wissenschaft geben? Es wird der Nachweis geführt, dass Frische und Genauigkeit des Ausdrucks Erkenntnis zu stiften vermögen. Wissenschaft und Essayistik: bei Raddatz kein Gegensatz. Klarheit des Gedankens ist beiden (günstigstenfalls) eigen. Wie sollte stilistischer Glanz, Bewusstsein der sprachlichen Form, im Gegensatz zur Wissenschaftlichkeit stehen? Was immer von wissenschaftlicher Methode zu sagen ist: In concreto hat sich die Zwitterform von Wissenschaft und Essayistik häufig bewährt. Raddatz' Rilke-Buch gibt ein schlagendes Beispiel.