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Marcel Vejmelka (Gießen)



Andreas Gipper und Susanne Klengel (Hg.) (2008): Kultur, Übersetzung, Lebenswelten. Beiträge zu aktuellen Paradigmen der Kulturwissenschaften. Würzburg: Königshausen & Neumann.



Der vorliegende Band entstand auf der Grundlage einer Ringvorlesung am Fachbereich Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz in Germersheim am Rhein im Wintersemester 2004/05 und SoSe 2005. Er vereint 14 Beiträge von herausragenden Vertretern der deutschsprachigen Kulturwissenschaften sowie ihrer jeweiligen Fachdisziplinen, mehrheitlich der Romanistik, aber auch der Anglistik, Kommunikationswissenschaften, Ethnologie und Volkskunde. Die Zusammenstellung des Bandes fokussiert Fragen wie die Orte, Aufgaben und Strategien der Kulturwissenschaften durch die Linse einer gemeinsamen Ausrichtung an den Kategorien des Übersetzens und der Lebenswelten. Der "translatorische Handlungsraum" als Konturierung von allgemein kulturellen Übersetzungsprozessen erscheint dabei als ein in Bewegung befindliches und von Bewegungen erfülltes "Dazwischen" – als in dem Raum angesiedelt, der "genuiner Gegenstand der Kulturwissenschaften ist, also im Kontext der Reflexion über die vielschichtigen Räume menschlichen Handelns," wie die Herausgeber in der Einleitung formulieren (8). Diese Verortung transalatorischen Handelns innerhalb des kulturwissenschaftlichen Feldes wird ihrerseits verbunden mit aktuellen Diskussionen um die in der Gegenwart notwendigen Positionierungen und Selbstbestimmungen des Faches, einmal im Hinblick auf die es konstituierenden Disziplinen, dann in Beziehung zu anderen Wissenschaften, mit denen es anlässlich immer dringenderer lebensweltlicher Fragestellungen in Dialog treten muss.

So greifen die drei im Titel enthaltenen Elemente – Kultur, Übersetzung, Lebenswelten – auf vielfältige Weise ineinander. Übersetzen erscheint nicht nur als Aktivität und Reflexionsgegenstand der Kulturwissenschaften, sondern auch als notwendige Dimension kulturwissenschaftlichen Handelns im gesellschaftlichen Kontext. Lebenswelten ihrerseits müssen nicht nur in Perspektivierungen einfließen, die das Übersetzen als sprachliches und kulturelles Handeln begreifen, sondern bilden auch einen fundamentalen Referenzrahmen für kulturwissenschaftliche Analysen von cultura popular/popular culture über Alltagsforschung bis hin zu Themen der Biotechnologie und Bioethik.

Eine große Stärke des Bandes sind daher die zahlreichen sich eröffnenden Querbezüge und Konvergenzen zwischen den einzelnen Beiträgen, die zunächst innerhalb der drei an die Titelstruktur angelehnten Teile auf vielfältige Weise aufeinander verweisen, dies aber vor allem auch immer wieder quer zu dieser Dreiteilung leisten. Diese als kritischer Dialog wirksamen Verbindungslinien bilden eine eigene Reflexionsebene und führen eindrucksvoll vor, wie die vielgestaltigen Kulturwissenschaften sich im Zuge ihrer Selbstreflexion selbstkritisch beleuchten können.

Dies wird deutlich, wenn nach grundlegenden Befragungen der Kulturwissenschaften vor dem Hintergrund ihrer verschiedenen disziplinären und (inter)nationalen Kontexte (z.B. das Denken der Renaissance, die französischen Sozialwissenschaften, angelsächsische Cultural Studies und lateinamerikanische Kulturtheorie) unterschiedliche Beleuchtungen des Translatorischen den so eröffneten Reflexionsraum durchkreuzen:




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Übersetzen als (trans-) kulturelle Praxis der Kreolisierung, als konstitutives Element des kulturellen wie literarischen Raums Lateinamerika, als Paradigma schließlich, das unter dem Begriff des translational turn fundamentale Logiken des Kulturellen in der globalisierten Welt bzw. der Weltgesellschaft prägt.

Den ersten Teil "Kulturwissenschaften – internationale Horizonte" eröffnet Hans-Jürgen Lüsebrink mit einem prägnanten und kritischen Überblick zur historischen Entwicklung und aktuellen Diskussion der deutschsprachigen Kulturwissenschaften als "Teildisziplin oder Metadiskurs" (15-28). Daran anschließend beleuchtet Andreas Gipper die Bedeutung des "Paradigma der italienischen Renaissance" (29-49) in der Entstehung der deutschen Kulturwissenschaft im Sinne Aby Warburgs und Ernst Cassirers. Komplementär zu dieser Analyse kultureller wie wissenschaftlicher Transfers untersucht Dorothee Röseberg die bis heute geringe, selektive und oft angelsächsische vermittelte Rezeption der französischen kultur- und sozialwissenschaftlicher Reflexion in der Tradition von Émile Durkheim und der Annales-Schule durch die deutsche Kulturwissenschaft ("Französische Wege zur Kulturwissenschaft", 51-86). Die Notwendigkeit translatorischer Perspektivierung wissenschaftlicher Traditionen wird hier bereits sehr deutlich, etwa bei Hinweisen auf Chronologien der Rezeption, wenn Übersetzungen aus dem Französischen ins Deutsche erst durch das Erscheinen von Übersetzungen ins Englische veranlasst werden, oder auch bei der Fokussierung auf die Möglichkeiten und Hindernisse bei der Überschreitung von Fachgrenzen. Der von Klaus Peter Müller angebotene Überblick zu "Cultural Studies in England und den USA" (87-120) zeigt denn auch anhand der Differenzierung innerhalb des "angelsächsischen Raums", dass theoretische und methodologische Ansätze selbst immer kontextualisiert werden müssen, wenn man ihre grundlegenden Funktionen und Motivationen verstehen und wenn man sie auf andere Kulturen und Lebenswelten übertragen will. Ähnlich komplex und von Machtstrukturen ökonomischer wie symbolischer Art durchzogen ist das Feld der lateinamerikani(sti)schen Kulturwissenschaft. Susanne Klengel untersucht dieses "transatlantische Reich der Kulturwissenschaft" (121-140) im Hinblick auf die Spannung zwischen seiner spezifischen Tradition kulturtheoretischer Selbstbefragung und Identitätskonstruktionen einerseits und externen Be- und Zuschreibungen vor allem durch europäische und US-amerikanische Regionalwissenschaften/Area Studies andererseits. Auch hier liegt das Potenzial in einer translatorischen Nutzbarmachung der "Liminalität" der deutschen Lateinamerikanistik (135) zwischen den bestehenden philologischen wie regionalwissenschaftlichen Traditionen.

Den zweiten Teil "Kultur, Kommunikation und Übersetzung in der Weltgesellschaft" eröffnet Doris Bachmann-Medick mit anregenden Überlegungen zu einem Verständnis von "Übersetzung in der Weltgesellschaft" (141-160) in einem konkreteren Sinne als dem einer reinen kulturtheoretischen Metapher. Die Problematik von Übersetzbarkeit bzw. die immer umfassendere Notwendigkeit eines "differenzbetonten" (143), "mehrpoligen und vielstimmigen" (145) Übersetzens zwischen sprachlichen, kulturellen und lebensweltlichen Kontexten versteht sie als Chance, vor dem Hintergrund eines translational turn in den Kulturwissenschaften die "Produktivität kultureller Differenzen" (141) nutzbar zu machen. Aus einer anderen Richtung – von derjenigen der häufig marginalisierten Materialität des literarischen Übersetzens her – erschließt Andrea Pagni historisch diesen erweiterten, dynamisierten "Übersetzungsraum" am Beispiel Lateinamerikas ("Lateinamerika als Übersetzungsraum", 161-176).2





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Kulturelle Differenz als translatorischer Gegenstand erscheint in dieser Betrachtung als Notwendigkeit der Selbstübersetzung unter kolonialen Bedingungen (164f.) und als Motor der postkolonialen Nationenbildung im globalen Kontext des 19. Jahrhunderts (166f.), die bis in die konkrete Übersetzung einzelner literarischer Werke ins Spanische wirksam wird. Eine geographisch und historisch sehr nah dazu angesiedelte Problematik untersucht Dieter Janik in seinem Beitrag zur "Nationbildung in Spanischamerika" (245-256): die darin der Literaturgeschichte als Nationalgeschichte zugewiesene Rolle sowie die Frage kulturellen Transfers anhand der Phasenverschiebung zwischen der "Alten" und der "Neuen Welt", aufgrund derer eine direkte Übernahme romantischen Denkens für die Selbstentdeckung Spanischamerikas nicht möglich und sinnvoll war.

Auf diesem Weg gelangen sowohl Janik als auch Pagni zur zentralen Bedeutung hybrider bzw. heterogener Konzeptionen in der lateinamerikanischen Kulturtheorie, welche Klengel mit der Schwellenposition der Lateinamerikastudien unterschiedlicher Provenienz verbindet und die für Bachmann-Medicks Übersetzungsverständnis allgemein unter dem Begriff der Hybdridität im Bhabhaschen Sinne erscheinen. An dieser Stelle wiederum lässt sich unmittelbar der Beitrag von Karl-Heinz Stoll anschließen, der eine Synthese der sprachwissenschaftlichen wie kulturhistorischen Dimensionen des Begriffs "Translation als Kreolisierung" beleuchtet (177-202). Gemeint ist damit ein nicht nur sprachliches Verständnis vom Übersetzen, sondern eine Auffassung von "Kultur als Übersetzung" (184), die mit neueren – wiederum von Konzepten der Hybridität geprägten – Ansätzen der einschlägigen Translationswissenschaften verbunden wird und in einen Begriff von Übersetzung als aktive "Weiterführung der Kreolisierung" (191) mündet. Ebenfalls an der Frage kultureller Differenz setzt der Beitrag von Jens Loenhoff ("Kulturwissenschaft und interkulturelle Kommunikationsforschung", 203-223) an, der die Spannung zwischen dem Eigenen und Fremden von Kulturen analysiert, die gemeinsam mit ihrer (Un)Übersetzbarkeit erst im kommunikativen Kontext erzeugt werden (219) und somit als Praxis und Rekodierung in der Weltgesellschaft erscheinen. Véronique Porra widmet sich in ihrem Beitrag am Beispiel des frankophonen Raums den in der Gegenwart weiterhin bestehenden Machtkonstellationen zwischen "Zentrum und Peripherie" (225-243), die allerdings zunehmend von der Multidimensionalität dieses Modells (233) geprägt sind, in deren Folge periphere Räume wie etwa neuere MigrantInnenliteraturen als "institutionalisierte Marginalität" zentrale Positionen besetzen.

Der dritte Teil "Lebenswelten und kulturwissenschaftliche Forschung" schließlich richtet den Blick auf die konkrete Einbettung der Kulturwissenschaften in gelebte kulturelle und gesellschaftliche Wirklichkeiten. Für seine Betrachtungen zum "‘Alltag’ als Perspektive kulturwissenschaftlicher Forschung" (259-278) resümiert Michael Simon die Tradition der Volkskunde bzw. Europäischen Ethnologie im Lichte ihres interdisziplinären Selbstverständnisses und ihrer Aktualität für die gegenwärtigen Kulturwissenschaften. So werden die Forschungsfelder "Alltag" und popular culture/cultura popular miteinander in Beziehung gesetzt und die Verschränkungen der Begriffe von Alltag, Zivilisation und Kapitalismus verdeutlicht. Der gemeinsame Beitrag von Andreas Gipper und Susanne Klengel zu "Erinnerte Schleifung – geschleifte Erinnerung" (279-299) schließlich vollzieht ausgehend vom Veranstaltungsort der dem Band zugrunde liegenden Ringvorlesung verschiedene Dialoge und Über-Setzungen. Bau und Symbolik der Germersheimer Festung Mitte des 19. Jahrhunderts, vor allem aber ihre Schleifung nach dem Ersten Weltkrieg und die auf ihr aufbauende Erinnerungsarbeit Ende des 20. Jahrhunderts führen in die innere Logik eines militärisch wie symbolisch umkämpften Grenzgebiets zwischen Frankreich und Deutschland, das nach dem Zweiten Weltkrieg zum Raum der grenzüberschreitenden Begegnung und "Völkerverständigung" umgedeutet wird. Bewusst grenzüberschreitend ist auch der Umgang der Autoren mit Pierre Noras Konzept der lieux de mémoire, das aus dem Kontext der französischen Historiographie Mitte des 20. Jahrhunderts in den der deutschsprachigen Kulturwissenschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts, aus der französischen Erinnerungskultur in die Topographie deutscher Erinnerungsorte übertragen wird.




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Die oft noch nicht hinreichend bewusst gemachten Potenziale der Kulturwissenschaften – insbesondere einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft –, im Dialog mit den so genannten Lebenswissenschaften gerade solche lebensweltlichen Einsichten und Reflexionen – als Beitrag zu einem "dynamischen und komplexen Weltbewusstsein" (311) – einzubringen, die diese nicht erfassen können, werden von Ottmar Ette in seinem Abschlussbeitrag, "Wissen schafft Zukunft: Sieben Thesen zu Kulturwissenschaft und Lebenswissen" auf eindrückliche Weise deutlich gemacht (301-330).

In ihrer Gesamtheit verdeutlichen die versammelten Beiträge eindrucksvoll die Möglichkeiten einer kritischen Selbstfindung und Positionierung der Kulturwissenschaften sowie der inter- und transdisziplinären Orientierung der sie bildenden Disziplinen. So ergibt sich in der Zusammenstellung dieses Bandes, dessen vielfältige und vielschichtige innere wie äußere Verschränkungen hier nur am Beispiel einiger Querverbindungen angedeutet werden konnten, ein reichhaltiges und äußerst anregendes Panorama der Potenziale und Aufgaben der Kulturwissenschaften im Wechselspiel von Kulturen, Übersetzen und Lebenswelten, in der Erkundung und Nutzbarmachung der Räume des "Dazwischen" und der Bewegung, der Grenzüberschreitung und der Differenz.