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Jörg Dünne (Erfurt)



Judith Frömmer (2008): Vaterfiktionen. Empfindsamkeit und Patriarchat in der Literatur der Aufklärung. München: Fink.



Dass Judith Frömmers Buch Vaterfiktionen den Geschwistern der Autorin gewidmet ist, könnte reiner Zufall sein. Es könnte aber ebenso als ein subtiler Hinweis darauf zu verstehen sein, dass sich die Autorin vor dem Hintergrund ihrer historischen Analysen zur literarischen Genese des Patriarchats nicht in die unumschränkte Obhut einer akademischen Vaterinstanz begeben möchte. In der Tat handelt es sich bei Judith Frömmers Studie, die eine leicht überarbeitete Fassung ihrer romanistischen Dissertation an der LMU München darstellt, um ein bemerkenswert eigenständiges Werk, dem zwar unterschiedliche Generationen und Filiationen der sog. Konstanzer Schule 'Pate stehen', ohne dass es sich aber ganz auf eine festgelegte akademische Familienzugehörigkeit zurückführen ließe.

Die originellen Hauptthesen der Studie lauten: 1) Das "Gesetz des Vaters", das Lacan zufolge symbolische Zeichenordnungen prägt, ist historisch durch die Aufklärung instituiert worden; 2) diese Institution ist im Wesentlichen fiktionalen Ursprungs, genauer: sie entstammt dem Drama der Aufklärung bzw. dem bürgerlichen Familienroman. Diese Thesen entwickelt Frömmer in Auseinandersetzung mit der neueren sozial- und literaturwissenschaftlichen Forschung zum 18. Jahrhundert, deren Erkenntnisse sie produktiv zusammenführt. Zum einen geht Frömmer davon aus, dass die Aufklärung nicht nur, wie seit Kant immer wieder behauptet, als demokratische Emanzipation aus den Machtstrukturen des Ancien Régime zu verstehen ist, sondern dass gerade mit dieser Emanzipation eine Inthronisierung der Vaterfigur als Herrscher über die Kleinfamilie einhergeht, dessen Aktionsfeld nicht zuletzt die moderne Biopolitik ist. Zum anderen greift Frömmer die medienhistorische These Albrecht Koschorkes auf, dass sich empfindsame Kommunikation im 18. Jahrhundert aus dem Schriftverkehr heraus entwickelt und dass die Konstruktion sowie die Dekonstruktion des Patriarchats nur angemessen beschreibbar sind, wenn man die ästhetischen Verfahren ihrer Entstehung untersucht.




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In Kombination dieser beiden Argumentationsstränge behauptet Frömmer, dass die moderne Kleinfamilie mit dem Vater als Oberhaupt eine "imaginäre Institution"1 sei, die durch empfindsame Lektüre nicht nur beeinflusst, sondern überhaupt erst hervorgebracht werde. Es geht Frömmer jedoch nicht nur um die These von der Geburt der modernen Kleinfamilie aus dem Geist der empfindsamen Literatur,2 sondern gleichzeitig auch um die Destabilisierung dieser Genese:3 In einer gewagten, aber durchaus bedenkenswerten Engführung der Fiktionstheorie Wolfgang Isers bzw. Albrecht Koschorkes4 mit gendertheoretischen Ansätzen5 versieht Frömmer das Verhältnis von Fiktivem und Imaginärem nach dem Modell des lacanianischen Verhältnisses von Symbolischem und Imaginärem mit einem Geschlechterindex: Den regulativen Fiktionen der männlich bestimmten Einbildungskraft in der Aufklärung stellt sie ein potenziell gegenstrebiges 'weibliches' Imaginäres gegenüber.

Nach einem "Prolog" (S. 13–37), der die Fragestellung sowie den Begriff der "Vaterfiktion" einführt, ist der erste Teil (S. 41–90) in historischer Betrachtung der Genese der patriarchalischen Kleinfamilie im Zeitalter der Aufklärung gewidmet. Hier arbeitet Frömmer, u.a. in Rekonstruktion der zeitgenössischen "Filmer-Debatte",6 die biopolitische Wirksamkeit auch und gerade einer auf Fiktionen beruhenden patriarchalischen Kontrolle heraus. Die 'natürliche' Gesellschaft wird dabei als biopolitisches Konstrukt entlarvt, das letztlich aus dem Roman hervorgeht.

Frömmers literarische Textlektüren zeichnen sich durch hohe Genauigkeit, einen souveränen Umgang mit der Forschungsliteratur und gleichzeitig durch ein Problembewusstsein aus, das den roten Faden der 'Vaterfiktionen' nie aus den Augen verliert. In ihrer vergleichenden Lektüre der Familiendramen Diderots und Lessings (Teil II, S. 91–187) arbeitet sie bei ersterem im Fils naturel und dem Père de famille heraus, wie das väterliche Rollenspiel zur Grundlage sozialer Identität wird, gleichzeitig aber auch die Heterogenität der bürgerlichen Vaterrolle deutlich macht. Im Gegensatz zur Apologie des empfindsam-aufgeklärten Patriarchats bei Diderot zeigen Lessings Miss Sara Sampson und Emilia Galotti die Aporie der Legitimität der familiär begründeten patria potestas, die auch auf die Legitimität des Nationalstaats übergreift. Bei Lessing zeigt nach Frömmer das Frauenopfer des Trauerspiels, wie die männliche 'Vergeistigung' de facto der Gewaltausübung am weiblichen Körper bedarf, um sich ins Werk zu setzen und dabei eine Reihe von "schönen Leichen" auf der Bühne zu hinterlassen.7

Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse ist sicherlich zu Recht die letzte ausführliche Analyse Frömmers (Teil III, S. 189–265) gewidmet, und auch hier gelingt der Autorin ein origineller Weg durch die Vielzahl der bestehenden Interpretationen: Sie attestiert dem Roman – und diese Positionierung dürfte wohl eine der stärksten Beiträge der Arbeit zur Rousseau-Forschung überhaupt sein – eine entscheidende Funktion bei der Füllung der Leerstelle, den die politischen und anthropologischen Schriften Rousseaus hinsichtlich der 'Geschlechterpolitik' ausweisen. Dabei wird besonders deutlich, wie das moderne Patriarchat direkt aus dem empfindsamen Roman und nicht aus einer theoretischen Position heraus entspringt. Vor der Folie der Geschichte von Abélard und Héloïse zeigt Frömmer weiterhin, wie bei Rousseau das Begehren der Liebenden St. Preux und Julie buchstäblich aus der Lektüre heraus entsteht und wie die Zähmung des weiblichen Imaginären durch die männliche Fiktion einer väterlichen Ordnung schließlich scheitert. Dieses Scheitern bezieht sich nicht nur auf Julies tatsächlichen Vater, der das Normensystem des Ancien Régime verkörpert, sondern vor allem auf den symbolischen Vater Wolmar mit seinem Kontrollbestreben. Auch Wolmar ist jedoch, wie Frömmer erneut unter Bezug auf Abélard und Héloïse hervorhebt, letztlich machtlos gegenüber Julies Konversion zur mystischen Frömmigkeit quietistischer Prägung, womit ein neues 'himmlisches' Patriarchat die Gesetze des irdischen Vaters außer Kraft setzt.




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Ausgehend von ihrer These der Unbezähmbarkeit des weiblichen Imaginären deutet Frömmer in einem kurzen Epilog (S. 267–272) schließlich die Wandlung der Erscheinungsform dieses Imaginären im 19. Jahrhundert zu dem an, was sie den "Roman des Hysterikerin" nennt. Noch der männliche Blick der Freudschen Psychoanalyse unterwirft sich dabei in seiner Fiktion der Strukturen des Begehrens, so die abschließende These, den Spielregeln des weiblichen Imaginären: Was im 18. Jahrhundert der Roman war, kristallisiert sich im 19. Jahrhundert allmählich zur Wissenschaft der Psychoanalyse aus, die aber deswegen nicht weniger auf der Grundlage einer regulativen Fiktion sowie eines bestimmten Imaginären beruht.

Insgesamt ist Frömmer ganz ohne Zweifel eine höchst instruktive Studie an der Schnittstelle zwischen feministisch geprägter Literaturwissenschaft und neuerer Fiktionstheorie gelungen. Es bleibt aber die Frage, ob sich das Fiktive und das Imaginäre ohne Weiteres mit einer Geschlechterzuordnung versehen lassen, die ersteres als weiblich und letzteres als männlich ausweist. Hier schwankt Frömmer, wie es scheint, in ihrer theoretischen Konzeption: Bisweilen nimmt sie mit Cornelius Castoriadis in Abgrenzung von Lacan ein jeglicher Opposition vorausliegendes 'radikales' Imaginäres in Anspruch, das gesellschaftliche Ordnungsstrukturen (einschließlich der Geschlechterdifferenz) überhaupt erst hervorbringt, bisweilen aber weist sie einem bereits 'sozialisierten' Imaginären subversive Kraft zu – in diesen Fällen ist es als ein 'weibliches' in psychoanalytischer Tradition ausgewiesen. Ähnlich kann man sich auf der Seite des Fiktiven fragen, wie genau dieses mit dem Vater in Verbindung steht: Ist es das Sprachspiel der Fiktion, das patriarchalische Väter produziert (z.B. aus dem empfindsamen Roman) oder sind es umgekehrt die Väter, die sich der Fiktion bedienen, um Macht auszuüben (wie der Rollen spielende Dorval in Diderots drame bourgeois). Ist die "Vaterfiktion" also als genitivus objectivus oder als genitivus subjectivus zu verstehen?

So treffend die Analyse der machtbewusst fingierenden Väter der Aufklärung, die sich an dem subversiven Imaginären ihrer Töchter abarbeiten, auch für die untersuchten Texte ist, stellt sich dennoch die Frage, ob eine solche Position nicht letztlich auf eine (Re-)Essentialisierung der Geschlechterdifferenz in der binären Opposition von formierendem Fiktiven und von formsprengendem Imaginären zuläuft. Damit steht letztlich zur Diskussion, inwiefern das Imaginäre als metahistorische Ermöglichungsdynamik überhaupt eine sinnvoll operationalisierbare Kategorie für literatur- und diskursgeschichtliche Analysen sein kann. Ein Ausweg aus dieser Grundsatzdebatte ließe sich möglicherweise finden, wenn man stärker nach den spezifischen medienhistorischen Konstellationen und weniger nach überhistorischen anthropologischen Grundlagen fragt, aus denen patriarchalische Vaterfiktionen entstehen: Ansätze zu einer solchen Untersuchungsperspektive gibt es in Frömmers Studie durchaus, und sie verdienten nach Ansicht des Rezensenten weitergedacht zu werden: Sehr perspektivenreich scheint insbesondere die Beobachtung, dass es im Drama vor allem die "Tableaus" sind, die die empfindsame Macht des Patriarchats ins Werk setzen (vgl. S. 123–127). Vergleichbare Analysen zur medialen Funktionsweise der Vaterfiktionen im Roman sind für Rousseaus Julie leider nur angedeutet – sie müssten dort nicht nur die Technik der 'Szenenbildung', sondern sicherlich auch Fragen der Narration einbeziehen.




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Dessen ungeachtet ist Judith Frömmers Studie Vaterfiktionen ein wichtiges und ein inspirierendes Buch, das an dem besonders geeigneten Beispiel aufklärerisch-empfindsamer Texte aus Frankreich und Deutschland die spezifische Macht der Literatur herausstellt: Weit davon entfernt, bestehende soziale Ordnungen nur zu problematisieren oder zu dekonstruieren, ist die Literatur vielmehr der Ort, an dem sich solche Ordnungen allererst herausbilden.


Bibliographie

Bronfen, Elisabeth (1992): Over Her Dead Body: Death, Femininity, and the Aesthetic. Manchester: Manchester UP.

Bronfen, Elisabeth (1992a): Die schöne Leiche. Weibliche Todesbilder in der Moderne. München: Goldmann.

Castoriadis, Cornelius (1975): L'institution imaginaire de la société. Paris: Seuil.

Iser, Wolfgang (1993): Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Kittler, Friedrich A. (1991): Dichter – Mutter – Kind. München: Fink.

Koschorke, Albrecht (2002): "Macht und Fiktion", in: Frank, Michael (u.a.) (Hg.): Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Frankfurt am Main: Fischer, 73–85.

Vinken, Barbara (Hg.) (1992): Dekonstruktiver Feminismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Warning, Rainer (1999): "Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault", in: ders.: Die Phantasie der Realisten. München: Fink, 313–345.


Anmerkungen

1 Frömmer stützt sich dabei auf Cornelius Castoriadis (1975).

2 Vgl. hierzu die Studie von Kittler (1991).

3 Hier rekurriert Frömmer auf Warning (1999).

4 Vgl. Iser (1993) sowie exemplarisch Koschorke (2002).

5 Frömmers Lektüren stützen sich hier u.a. auf Vinken (1992).




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6 Ausgehend von der Diskussion um die 1680 erstmals veröffentlichte Schrift Patriarcha or the Natural Power of Kings von Sir Robert Filmer zeigt Frömmer eine diskursgeschichtliche Verschiebung, die zur Verknüpfung des modernen Patriarchats mit der Kleinfamilie führt und so den Weg zur Vaterfiktion ebnet: Während Filmer annimmt, dass der König aufgrund seiner direkten Abstammung von Adam biologisch als politischer Herrscher legitimiert sei, zeigt die Diskussion von Filmers Schrift bspw. bei Locke und Rousseau eine verstärkte Trennung von Vaterschaft und Staat und eine zunehmende Begründung von Vaterschaft als symbolisch legitimierter Position: Das eigentliche Reich des fingierenden Vaters, der sich seine Legitimation symbolisch erarbeiten muss, wird damit die Familie.

7 Vgl. Bronfen (1992) und die Textsammlung Bronfen (1992a).