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Jörg Dünne (München)



Spuren im Sand – Kartographie und Literatur in der aktuellen medien- und kulturwissenschaftlichen Diskussion



Traces in the Sand – Cartography and Literature in the Current Debate of Media and Cultural Studies
Based on the review of two recently published books, one by Robert Stockhammer and the other by Jürg Glauser and Christian Kiening,on cartography and literature, this contribution argues that the interest in the relation between cartography and literature can be basically divided into a cultural studies approach that relies on a wider notion of what a map is, highlighting its diverse symbolic functions, and a media studies approach that restricts the meaning of maps and mapping basically to an indexical relation between map and territory. The tension between these two approaches is explored with regard to the different periods of cartographic and literary history on the one hand and with regard to its systematic implications for thinking about the relation between maps and literary texts on the other hand.


Während es in den letzten Jahren nicht an allgemein kulturwissenschaftlichen und speziell literaturwissenschaftlichen Zugängen zu Raumfragen gemangelt hat, die unter dem eingängigen Schlagwort des "spatial turn" zusammengefasst werden konnten (vgl. hierzu v.a. Döring / Thielmann 2008 und Dünne / Günzel 2006),1 wäre es sicherlich in mehrerlei Hinsicht übertrieben oder sogar verfehlt, von einem "cartographical turn" der Kulturwissenschaften zu sprechen: Wenn überhaupt, dann datiert die Konjunktur des Kartierens als einer übergreifenden kulturellen Praxis aus den Siebzigerjahren, als mit der Methode der kognitiven Kartierung bzw. des mind mapping (vgl. v.a. Downs / Stea 1977) ein Theorieangebot gemacht wurde, das zum Einen Anschluss an die Kognitionsforschung versprach und zum Anderen auch literaturwissenschaftlich, gerade in der Mediävistik, gerne verwendet wurde, wenn es darum ging, die Alterität mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Räume im Vergleich zu modernen Raumkonzepten zu beschreiben (vgl. exemplarisch Jahn 1993).




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Doch die Hypostasierung der 'Karte im Kopf' zu einer – oft nicht bewussten– vorgängigen Raumkonzeption geht nicht nur von vagen Analogieschlüssen zwischen äußeren und mentalen Räumen aus, die aus Sicht der aktuellen Kognitionsforschung wenig anschlussfähig sind, sie vernachlässigt überdies die Tatsache, dass Karten enorm einflussreiche, aber eben historisch kontingente Artefakte zur Raum-Ordnung sind, die nicht immer existiert haben bzw. nicht immer mit gleicher Funktion verwendet wurden. So hängt das aktuelle Interesse an Karten in der Literatur- und Kulturwissenschaft offensichtlich damit zusammen, dass – so zumindest Robert Stockhammer:

Landkarten verschwinden. Papierne Darstellungen von räumlichen Verhältnissen sind allenfalls noch eine Form der Datenausgabe von Geographischen Informationssystemen. Gleichzeitig, wahrscheinlich eben deshalb, haben sie Hochkonjunktur in der Erzählliteratur ebenso wie in der Populär-, Kunst- und Kulturwissenschaft (Stockhammer 2007: 7).

Für die kultur- und insbesondere die literaturwissenschaftliche Forschung bedeutet dies eine Einschränkung und eine Chance zugleich: eine Einschränkung insofern, als angesichts dieser Umstände das 'Kartieren' als Leitmetapher kulturwissenschaftlicher Bestandsaufnahme seine Ausstrahlung, die es noch in postmodernen Zusammenhängen genossen hat (vgl. dazu im Überblick Cosgrove 2005), zunehmend verliert. Zum Anderen eine Chance, als mit dem Historischwerden des Mediendispositivs Karte in deutlicherer Weise als bisher der Blick auf die historischen Bedingungen und die Funktionen dieses Dispositivs freigegeben wird, nicht zuletzt was die Frage nach der Bedeutung von Karten für die Literatur betrifft. Insofern ist es kein Zufall, dass kürzlich zwei wichtige deutschsprachige Publikationen, eine Monographie von Robert Stockhammer (2007) unter dem Titel Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur, und ein Sammelband, herausgegeben von Jürg Glauser und Christian Kiening (2007) mit dem Titel Text – Bild – Karte. Kartographien der Vormoderne, die Bedeutung der Kartographie aus historischer Perspektive beleuchten und dabei teilweise oder sogar schwerpunktmäßig auf literaturwissenschaftliche Fragen Bezug nehmen.2 Die Publikationen greifen dabei die Ansätze anderer, vor allem in englischer Sprache erschienener Studien der letzten Jahre zur Kartographie aus kultur-, kunst- oder literaturwissenschaftlicher Perspektive auf, führen sie aber im Anschluss an die deutschsprachige Forschungsdiskussion der letzten Jahre fort. Strategisch sind beide Publikationen in der Forschungslandschaft an wichtigen Schnittpunkten verortet: Der Komparatist Robert Stockhammer war zur Zeit der Entstehung seines Buches Mitarbeiter des Berliner Zentrums für Literatur- und Kulturforschung und der Germanist Christian Kiening ist in Zürich Direktor des Nationalen Forschungsschwerpunkts "Mediality", an dem auch der Skandinavist Jürg Glauser beteiligt ist – beides sind derzeit Hochburgen der kultur- und medienwissenschaftlich orientierten literaturwissenschaftlichen Forschung im deutschsprachigen Raum.3




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Über die begrenzte Vergleichbarkeit einer monographischen Perspektive mit der notwendigerweise breiter gestreuten Sicht eines Sammelbandes hinaus soll hier vor allem die Frage nach fruchtbaren Ansätzen zu einer Beschreibung der Kartographie als historische Medienpraxis im Auge behalten werden, wobei punktuell auch auf andere jüngere Studien im Forschungsfeld von Kartographie und Literatur einzugehen ist. Der Schwerpunkt dieser Besprechung soll vor allem auf literaturwissenschaftlichen Perspektiven liegen, womit insbesondere eine im Sammelband stark vertretene kunstgeschichtliche Perspektive auf Kartographie hier relativ knapp abgehandelt werden muss.

Die beiden hier im Zentrum stehenden Bände setzen nicht nur historisch, sondern auch methodisch in ihrer Untersuchung der Kartographie unterschiedliche Schwerpunkte: Während sich der von Jürg Glauser und Christian Kiening herausgegebene Sammelband auf das konzentriert, was in einem heuristisch durchaus fruchtbaren "Hilfsbegriff" (TBK: 26) die "Vormoderne" genannt wird, die sowohl die Forschung zum Mittelalter als auch diejenige zur Frühen Neuzeit umfasst, konzentriert sich die Monographie von Robert Stockhammer stärker auf die Moderne seit dem 18. Jahrhundert, sowohl in karten- als auch in literaturgeschichtlicher Hinsicht.

Die verschiedenen historischen Schwerpunkte sind auch, aber nicht ausschließlich für die unterschiedliche methodische Herangehensweise der beiden Studien verantwortlich – sofern man den Autoren eines Sammelbandes ein solch geschlossenes Profil überhaupt unterstellen kann. Diese Profile sind, um es auf einen Nenner zu bringen, im Fall des Sammelbandes Text – Bild – Karte vor allem kulturwissenschaftlich und im Fall der Studie Kartierung der Erde speziell medienwissenschaftlich angelegt. Die kulturwissenschaftlich orientierte Studie behandelt Karten dabei stärker wie symbolisch interpretierbare Hybriden aus Bild und Text, die medienwissenschaftlich geprägte Untersuchung versteht sie eher als technische Instrumente, mit denen man Orte bestimmt.

In der Folge werden drei sowohl in historischer als auch in systematischer Sicht wichtige Argumente der beiden Publikationen miteinander verglichen: Einzelne Passagen aus dem Buch von Robert Stockhammer sollen dabei jeweils mit relevanten Einzelbeiträgen aus dem Sammelband konfrontiert und dabei ebenso auf übergeordnete theoretische Fragen hinsichtlich der kulturwissenschaftlichen Diskussion um Kartographie geöffnet werden. Zuerst wird es um die Frage gehen, wie Kartographie selbst aus kultur- und medienwissenschaftlicher Sicht verstanden werden kann (1), bevor das Verhältnis Kartographie und Literatur untersucht wird (2). Abschließend wird die Frage gestellt, inwiefern eine literaturwissenschaftliche Annäherung an Kartographie sinnvoll zu einer Geschichte von Wissens- und Imaginationspraktiken beitragen kann (3).




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1. Karten und Territorialität

Die Definition dessen, was eine Karte sei, ist in der aktuellen Forschung zur Kartographie noch immer dazu angetan, grundlegende Debatten zu entfachen: Vor allem die englischsprachige kartographiehistorische Forschung um James Brian Harley und David Woodward hat den Kartenbegriff in den Achtzigerjahren von einer entweder rein kunstgeschichtlichen Betrachtung oder einer positivistischen Beschränkung auf die möglichst 'realistische' Repräsentation physischer Räume gelöst; der erweiterte Kartenbegriff in der von Harley und Woodward herausgegebenen History of Cartography als "graphic representations that facilitate a spatial understanding of things, concepts, conditions, processes, or events in the human world" (Harley 1987: XVI) hat den Vorteil, dass mit ihm beispielsweise auch verschiedenste mittelalterliche Formen von Karten sowie außereuropäische Formen der räumlichen Aufzeichnung integriert werden können, die mit einem an physischen Raum gebundenen Kartenverständnis nicht oder nur teilweise erfassbar wären. Zum Anderen birgt diese von jeglichem Territorialbezug abstrahierende Kartendefinition aber auch das Risiko einer inflationären Ausweitung der Metapher des mapping in sich.

Was die beiden hier zu besprechenden Publikationen betrifft, führen, wie nicht anders zu erwarten, unterschiedliche kartenhistorische Schwerpunkte zur Favorisierung unterschiedlich weiter Kartendefinitionen: Am explizitesten wird dies im Rahmen des Sammelbandes Text – Bild – Karte von der Mediävistin Cornelia Herberichs (TBK: 201–217) in Auseinandersetzung mit dem Semiotik-Experten Winfried Nöth angesprochen, der selbst einen Beitrag (TBK: 39–68) zu dem Band beigesteuert hat: Cornelia Herberichs verteidigt für die Analyse mittelalterlicher mappaemundi einen weiten Begriff von Kartographie und wehrt sich damit insbesondere gegen eine teleologische Verkürzung mittelalterlicher Karten auf eine Vorstufe neuzeitlicher Kartographie, die Nöth zufolge vor allem von der Indexikalität des Zeichenbezugs zwischen Karte und Territorium geprägt ist. Herberichs argumentiert gegen Nöth, dass es nicht darum gehe, mittelalterliche Karten semiotisch als Zeichensysteme ausweisen, die mit einem 'imaginären' Territorium operierten, sondern die Akzentuierung des Territoriumsbezugs muss ihrer Darstellung zufolge überhaupt erst als ein neuzeitliches Merkmal angesehen werden.




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Herberichs ist sicherlich darin recht zu geben, dass beispielsweise mittelalterliche mappaemundi eine sehr viel größere intramediale Komplexität entwickeln, als dies vor der Folie neuzeitlicher Kartographie in den Blick gerät – so verlangen sie nach einer performativen Aktualisierung von Wissen, die eine topische 'Er-Findung' darstellt und auch nicht auf ein geschlossenes heilsgeschichtliches Bedeutungssystem reduziert zu werden vermag, wie dies oft in älteren, ideen- oder mentalitätsgeschichtlich an der Kartensemantik orientierten Studien gesucht wird.4 Was bei Herberichs dabei stärker im Hintergrund bleibt, ist die Frage, in welchen pragmatischen Kontexten mittelalterliche Karten über ihre performative kulturelle Produktivität hinaus Wissen erzeugen bzw. an Wissensordnungen partizipieren. Sicher ist der Territorialbezug mittelalterlicher Karten problematisch und nicht allein auf synchron erfassbare geographische Räume bezogen, sondern verfügt über eine geschichtliche Tiefe, die komplexe Pragmatik mittelalterlicher Karten sollte aber vielleicht dennoch nicht ganz zugunsten intramedialer Performanz vernachlässigt werden. In diesem Zusammenhang ist es übrigens schade, dass in dem Sammelband kein Beitrag zu finden ist, der sich der spätmittelalterlichen Portolankartographie widmet, die sehr viel stärker an Fragen der Territorialität orientiert ist als die mappaemundi (vgl. hierzu jedoch zahlreiche Beiträge in Engel / Michalsky / Schmieder).

Davon, dass die frühneuzeitliche Kartographie in ganz besonderer Weise mit der Frage der Territorialisierung und der Vermessung verknüpft ist, zeugen, eine Reihe von Beiträgen aus der dritten Sektion ("Orte – Räume – Vermessungen") des Sammelbandes, insbesondere Natalie Schweizers Beitrag zur Verortung Amerikas der Neuen Welt (TBK: 253–273), Maria Snyders Untersuchung von mathematischen und militärischen Perspektiven im Süddeutschland des 16. Jahrhunderts (TBK: 275–292) und – am prägnantesten hinsichtlich der politischen Implikationen dieser Territorialisierung – Holm Graessners Beitrag zur Veränderung des staatlichen Territoriums im Zuge der kartographischen Geometrisierung (TBK: 293–316). An diese Akzentuierung des Bezugs von Karte und Territorium schließt auch Robert Stockhammer an, der in seiner Monographie aus systematischer Sicht klar für einen eingeschränkten Begriff von Kartographie unter Hervorhebung des – tatsächlichen oder imaginierten – Territorialbezugs plädiert. Unter Karten versteht er "Zeichenverbundsysteme [...], die ein Gelände darstellen, das als bereisbar vorgestellt wird" (KE: 13). Dadurch, dass seine Untersuchungsperspektive weder im Mittelalter noch in der Frühen Neuzeit einen Schwerpunkt setzt, sondern er "den historische[n] Akzent [...] gegenüber klassischen Geschichten der Kartographie etwas nach vorne" verschiebt (KE: 18), entgeht er dem Vorbehalt von Cornelia Herberichs gegenüber einer teleologisch an der Moderne orientierten Kartengeschichtsschreibung. Seine Darstellung der Kartographie als ein Medium, dessen Zeichen sich vor allem durch Indexikalität auszeichnen, präzisiert mit Winfried Nöth und C. S. Peirce, dass es bei dem dabei implizierten außersprachlichen Bezug nicht um einen naiven Realismus, sondern um die dynamische Konstruktion einer solchen Wirklichkeit im Medium der Karte selbst handelt.




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Stockhammer geht jedoch in seiner Untersuchung, was historische Präzision betrifft, weit über den Ansatz Nöths hinaus. In Anschluss an medienhistorische Untersuchungen zu mathematischen Prozessen der Wissensverarbeitung in der Frühen Neuzeit (vgl. hierzu allgemein Krämer / Bredekamp 2003 und speziell zur Kartographie Schäffner 1997) beschreibt er in einem der lesenswertesten Abschnitte im ersten, allgemeinen Teil seines Buches die Herstellung von Karten als "Rückkopplungen zwischen der Arbeit im Gelände und der Arbeit im Büro" (KE: 18). Dabei unterscheidet er prinzipiell drei Arbeitsstadien der Kartenherstellung (vgl. KE: 19–49): erstens die Festlegung einer geeigneten Projektion; zweitens die Punktfixierung, die auf Geländeinformationen basiert, und schließlich drittens den über die mathematische Grundlage hinausgehenden kartographischen Semioseprozess, den Stockhammer "Augmentation" nennt und auf den sich die meisten kulturwissenschaftlichen Ansätze allein beschränken. Indem Stockhammer die Arbeitsstadien der Projektion und der Punktfixierung hinzuzieht, behandelt er Karten nicht nur als Bilder oder Texte, sondern als eine Form der Operationalisierung von Raum, die auf mathematischem Kalkül beruht.

Der entscheidende Einwand Stockhammers gegen eine rein kulturwissenschaftliche Sicht auf moderne Karten ist dabei derjenige, dass die bloße Konzentration auf die symbolische Dimension von Karten zu einer – zumindest für die Moderne – inadäquaten Vorstellung ihrer Dekonstruierbarkeit geführt hat, wogegen sich gerade die fundamentale Indexikalität der Karten sperrt. Der territoriale Geltungsanspruch von Karten kann also, Stockhammer zufolge, nicht einfach außer Kraft gesetzt werden, er kann nur – und hier ist seiner Ansicht nach die entscheidende Funktion von Literatur anzusiedeln – als solcher herausgestellt und damit aus der Perspektive eines anderen Mediums heraus beobachtbar gemacht werden. Damit ist das Verhältnis von Karte und Literatur erreicht, das im nächsten Punkt näher behandelt werden soll.

 

2. Karten und Literatur

Auch hinsichtlich des Verhältnisses von Karte und Literatur folgen die beiden Bände unterschiedlichen Ansätzen, die zum Teil in ihrem historischen Gegenstandsbereich begründet sind: So ist vor der beginnenden Neuzeit ein Vergleich zwischen Literatur 'und' Karte allein deswegen nur begrenzt sinnvoll, weil zumindest die institutionellen Rahmenbedingungen letzterer alles andere als gesichert sind – stattdessen gilt es zu berücksichtigen, dass die geographische Tätigkeit seit der Antike selbst zumindest teilweise als eine literarische verstanden wurde. So ist es bis heute umstritten, ob die alexandrinische Geographie bei Ptolemaios überhaupt Karten benutzt hat, wie wir sie heute kennen.




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Im Rahmen des Sammelbandes nimmt sich Florian Mitterhuber in seinem Beitrag (TBK: 69–93) des Verhältnisses von Text und Karte in der ptolemäischen Geographie an und lässt entgegen älterer Annahmen der Forschung keinen Zweifel daran, dass zu Ptolemäus' Zeit bereits Karten gezeichnet wurden. Dennoch spielt die textuelle Geographie bis in die Frühe Neuzeit hinein eine große Rolle und ist als wissenschaftliche Praxis weder von der Historiographie noch von heute eher zur Literatur im engeren Sinn gezählten Textgattungen wie Reiseberichten streng geschieden. Leider wird die Ausdifferenzierung von literarischem und wissenschaftlichem Diskurs sowie das Verhältnis von Karte und literarischem Text nur von wenigen Beiträgen des doch eigentlich schwerpunktmäßig der Frühen Neuzeit gewidmeten Bandes Text – Bild – Karte angesprochen: Die der Frühen Neuzeit gewidmeten Beiträge zur letzten Sektion "Texte – Räume – Kartierungen" behandeln die Kartographie, wenn überhaupt, nur sehr peripher.5 Sie bleiben damit hinter dem Problembewusstsein der vorangehenden, vierten Sektion zurück, die sich vor allem aus kunstgeschichtlicher Sicht mit dem Verhältnis von Karte und Bild beschäftigt, wo Tanja Michalsky zu Kartographie, Topographie und Landschaftsmalerei in der Frühen Neuzeit (TBK: 319–349), Thierry Greub zu Vermeers Karten (TBK, 351–375), Ylva Gasser zu einer Brasilienkarte und den Werken des Malers Frans Post (TBK: 377–401) sowie Michael Gamper zu den Medien der Darstellung von Gärten im 17. und 18. Jahrhundert (TBK: 403–432), teilweise direkt aufeinander Bezug nehmend, an wichtige kunstgeschichtliche Studien der jüngeren Zeit (vgl. etwa Alpers 1983, Buci-Glucksmann 1996 oder Stoichita 1999) anschließen. So werden einerseits Strukturähnlichkeiten zwischen Landschaftsmalerei und frühneuzeitlicher Kartographie, aber auch Differenzierungsprozesse erkennbar, die gleichzeitig zu einer Selbstreflexion der Malerei als Gemälde führen.

Während also im Rahmen der Trias 'Text – Bild– Karte' ausgerechnet die frühneuzeitlichen Texte im Verhältnis zur Kartographie etwas unterbelichtet bleiben, kann sich im Hinblick auf das moderne Verhältnis von Karte und Text Christina Ljungberg mit ihrem Beitrag zur Beziehung zwischen Karte und Text in Daniel Defoes Robinson Crusoe (TBK: 501–518) bereits auf ein weitgehend ausdifferenziertes Verhältnis zweier medialer bzw. ästhetischer Praktiken berufen.6 In ihrer Lektüre der bekannten Roman-Passage, in der Robinson auf seiner Insel eine Fußspur im Sand entdeckt, erläutert Ljungberg in Anlehnung an Peirce eine semiotische 'Urszene', in der sich Indexikalität und Symbolizität hybridisieren und damit die beiden Dimensionen des Zeichengebrauchs auftauchen, deren Kombination auch Karten prägt. Die Fußspur verweist damit nach Ljungberg auf eine binnenfiktionale mise en abyme, einer 'kartographisch' geprägten Wahrnehmung. Sie geht so weit zu behaupten, die Karten, die dem Roman allerdings nicht von Anfang an, sondern erst in späteren Auflagen beigegeben werden, würden sowohl emblematisch für Crusoes Aneignung von Welt als auch für das moderne Fiktionsverständnis in Defoes Romanprojekt stehen, in dem sich Imagination und die Suggestion von Faktualität ergänzen (vgl. zur "factual fiction" bei Defoe grundlegend Davis 1983). Damit bewegt sie sich auf dem Gebiet moderner Literatur, das auch den Gegenstand von Robert Stockhammers Textlektüren bildet, auch wenn er als genauer Leser Ljungbergs Generalisierungen differenzierter betrachtet: Stockhammer hält Robinson Crusoe zumindest, was das Verhalten des Protagonisten betrifft, nicht von vornherein für ein Paradigma kartographischer Weltaneignung und attestiert Robinson vielmehr ein erstaunliches "Desinteresse" an der Kartierung seiner Insel (KE: 114). Die Erklärung, die er dafür gibt, führt letztlich jedoch auf Ljungbergs Urszene der Fußspur zurück: "Offenbar entsteht die Notwendigkeit einer kartographischen Verortung erst gleichzeitig mit Gesellschaften" (ebd.). Erst das Zeichen der Fußspur im Sand provoziert möglicherweise als Wahrnehmung von etwas Fremdem ein kartographisches Kontrollbegehren.




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In seinen eigenen Analysen im zweiten Teil seiner Monographie zeigt Robert Stockhammer mit stupender textanalytischer Genauigkeit und kartographiegeschichtlichem Detailwissen, dass die moderne europäische bzw. nordamerikanische Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts jenseits von Defoe eine Reihe von noch sehr viel direkter kartographisch interessierten Schriftstellern hervorgebracht hat, die mit den unterschiedlichsten Absichten auf Kartographie rekurrieren – die Analysen von Jonathan Swifts Kartographie Brobdingnags in Gulliver's Travels über Johann Gottfried Schnabels Inselkarte in der Insel Felsenburg, Goethes Landvermessung und -kartierung in den Wahlverwandtschaften, Stifters thematischer Kartographie im Nachsommer bis hin zu Herman Melvilles Kartographie des Ozeans in Moby Dick können hier nur genannt sowie zur Lektüre empfohlen, nicht aber in ihren Einzelheiten besprochen werden. Dabei bezieht sich Stockhammer jedoch nicht nur auf (geo-)politische Hintergründe der Inhaltsebene einzelner Texte und es geht ihm auch nicht allein um literarische Phantasien der Kontrolle und des Überblicks, sondern darüber hinaus hebt er, wie der Untertitel seines Buches andeutet, neben der Reflexion auf die Macht 'von' Karten durch Literatur vor allem die Lust 'an' Karten im literarischen Schreiben hervor.

Methodisch knüpft Stockhammer hierbei, ohne diesen Bezug explizit zu machen, an neuere intermediale Fragestellungen an, die, in Analogie zu Begriffen wie "filmisches" oder "photographisches Schreiben" (vgl. hierzu jeweils Tschilschke 2000 und Albers 2002), ein kartographisches literarisches Schreiben propagieren. Im Gegensatz zu bereits existierenden Studien zur französisch-, englisch- und spanischsprachigen Literatur, die das kartographische Schreiben vor allem hinsichtlich seiner Ursprünge in der frühen Neuzeit verfolgen (vgl. insbesondere Conley 1996, Klein 2001 und Padrón 2004), legt Stockhammer seinen Schwerpunkt auf die moderne Literatur. Stockhammer benutzt übrigens selbst nicht den Begriff des "kartographischen Schreibens", sondern spricht, wohl in Analogie zum Ausdruck "Poetizität", von der "Kartizität" von Texten, die er wiederum von der "Kartierbarkeit" auf thematischer Ebene unterscheidet, d.h. der Frage, ob von einem literarisch dargestellten Territorium Karten gezeichnet werden können (vgl. KE: 67–71).




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Aus zwei Oppositionspaaren gewinnt Stockhammer insbesondere seine Kriterien zur Beschreibung von "Kartizität", d.h. von literarischen Schreibverfahren, die Karten in bestimmter Hinsicht strukturanalog sind: Wie bereits andere Studien vor ihm, rekurriert er dabei zum Einen (vgl. KE: 71–79) auf eine Unterscheidung, die Michel de Certeau (1990, v.a. 175-180) als Opposition von carte und parcours einführt und auf die sprachliche Raumkonstitution überträgt. Aufschlussreich sind Stockhammers Überlegungen hierzu vor allem insofern, als er diese Opposition nicht, wie etwa Certeau, kognitionspsychologisch fundiert, sondern geographiegeschichtlich unter Rückgriff auf den Unterschied zwischen dem als Wegbeschreibung konzipiertem Itinerar und dem seit Ptolemäus zur Kartenherstellung verwendeten Positionskatalog beschreibt (vgl. dazu in ähnlicher Weise bereits Padrón 2004). Semiotisch präzisiert er die Unterscheidung noch durch eine weitere Opposition zwischen Phorik, die auf bereits erwähnte Textelemente ("von hier aus") zurückverweist, wie dies Wegbeschreibungen tun, und Deixis, die auf einen außersprachlichen situativen Kontext verweist und damit mit der Index-Funktion von Karten-Texten verbunden werden kann. Noch origineller als die Bestimmung von Kartizität über die Affinität zur Deixis bzw. zum Positionskatalog ist allerdings die Wahl des zweiten Gegensatzpaares, mittels dessen Stockhammer karten-affines Schreiben als von einer von ihm so genannten "Erzählprojektion" geprägt beschreibt (vgl. KE: 80–83). Darunter versteht er, im Gegensatz zur bekannten "Erzählperspektive", eine nicht-anthropozentrische Modellierung von Raum, die nicht der Fiktion eines individuellen Blicks verpflichtet ist, sondern vielmehr der nicht anthropomorphen Bestandsaufnahme von geographischen Positionen.

Mit diesen beiden Kriterien für Kartizität gelingt es Stockhammer, die Lust der Literatur an Listen und Diagrammen, wie etwa in Schnabels Insel Felsenburg, in eine plausible wissensgeschichtliche Verbindung mit der Kartographie zu bringen, oder die geographische Bestandsaufnahme von Orten etwa in Stifters Nachsommer als Form von literarischer Beschreibung zu erfassen, die in gängigen Untersuchungen der Erzählperspektive, wie beispielweise bei Gérard Genette, ein blinder Fleck bleiben.

Die besondere Pointe von Stockhammers Untersuchungen zur 'Kartizität' moderner Literatur besteht jedoch in der These, dass diese kartenanalogen literarischen Verfahren hinsichtlich ihrer Objekte in letzter Konsequenz etwas "Nicht-Kartierbares" deutlich werden lassen, das Karten selbst verschlossen bleibt. Besonders deutlich wird das Nicht-Kartierbare der literarischen Moderne dort, wo die Versuche der Kartierung auch auf das Objekt ausgreifen, das sich als "glatter Raum" nach Gilles Deleuze und Félix Guattari (1980: 592–625) der kartographischen Kerbung am stärksten widersetzt, nämlich das Meer. Es ist von daher kein Wunder, dass Herman Melvilles Moby Dick gerade in seinem karten-analogen Versuch, die "See zu schreiben"7 auf der Suche nach dem Wal auf einen nicht-kartierbaren Rest stößt, mit dem Stockhammers Analysen enden: Der Ort Moby Dicks ist "ein Ort, der, selbst nicht kartierbar, eine Einsicht in die Bedingungen und Grenzen der Kartierung ermöglicht. Es gibt ihn nicht auf Karten, aber in der Literatur" (KE: 209). Damit führt Stockhammer schließlich auch die Frage nach der Kartizität literarischer Texte zu einer Antwort, deren Tragweite über die bloße Lust am karten-affinen Schreiben hinausreicht: Vielmehr wird für ihn die Literatur zur symbolischen medialen Praxis, die in der weitgehenden Anverwandlung an das Kartenmedium nicht nur zu einem Bewusstsein seiner eigenen Möglichkeiten kommt, sondern auch die Aporien des totalisierenden Repräsentationsanspruchs von Karten deutlich macht.




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Somit führt der Endpunkt von Stockhammers Analysen abschließend wieder über die innerliterarische Perspektive hinaus und zurück auf die Frage nach der Leistungsfähigkeit einer medien- bzw. einer kulturwissenschaftlichen Analyse von Kartographie im Hinblick auf die Geschichte von Wissens- und Imaginationspraktiken, um die es im letzten Punkt dieser Überlegungen gehen soll.

 

3. Kartographie als Medientechnik und als kulturelle Praxis

In der Gesamtsicht auf die beiden hier besprochenen Publikationen könnte man als salomonisches Fazit versucht sein, die divergierenden Herangehensweisen mit den unterschiedlichen historischen Ausprägungen des vielgestaltigen Gegenstands 'Karte' zu rechtfertigen: Während sich für die Untersuchung der Praxis des Kartierens im Mittelalter kulturwissenschaftliche Zugänge am besten eignen, die den Begriff der Karte weit und nicht in erster Linie territorial fassen, erfolgt in der Frühen Neuzeit eine Mathematisierung und Territorialisierung der Kartographie, die diese verwissenschaftlicht und deshalb als Hintergrund für die Untersuchung moderner Literatur, die sich auf Karten bezieht, einen 'härteren' medienwissenschaftlichen Ansatz erforderlich macht. Dieser Ansatz berücksichtigt gleichzeitig auch, dass ein ausdifferenziertes literarisches System nunmehr die pragmatische Gebundenheit der Kartographie als Machtinstrument lustvoll subvertieren kann.

Ein solches schiedlich-friedliches Fazit würde aber letztlich nur die kontingente historische Grenzziehung zwischen Mediävistik und neuerer Literatur in methodischer Sicht untermauern und würde sich nicht der Herausforderung stellen, beide Herangehensweisen miteinander in Spannung zu setzen. Das wird insbesondere, aber nicht nur, an der Frühen Neuzeit deutlich, in der einerseits die große Durchlässigkeit von Karten für verschiedenste kulturelle Praktiken eingeschränkt wird und sich andererseits auch Grenzen zwischen Wissens- und Diskurspraktiken verfestigen, die nicht zuletzt zur Herausbildung des literarischen Systems der Moderne mit seiner spezifischen Konzeption von Fiktionalität geführt haben.

Hier beschränkt sich Stockhammers Studie, so ingeniös sie auch einerseits die Literatur als Schlüssel zu den epistemologischen Gründungsparadoxien der Kartographie und umgekehrt die Kartographie als Mittel zur Provokation literarischer Selbstreflexion ansieht, darauf, zwei voneinander im Prinzip unabhängige Entitäten wie Kartographie und Literatur in Form einer pragmatisch gebundenen medialen Technik und einer sie subvertierenden ästhetischen Praxis gegenüberzustellen. Dieses – hier auf intermediale Frage ausgeweitete – Verständnis von Literatur kennzeichnet seit Michel Foucaults Überlegungen zur Literatur als Gegen-Diskurs literaturwissenschaftliche Studien zur Moderne, wobei Konterdiskursivität, wie Stockhammer nachdrücklich und in aller Schärfe herausstellt, gerade nicht bedeutet, dass literarische Erfahrung sich in einen Gegensatz zur wissenschaftlichen Erfahrung stellen würde, sondern dass sie diese vielmehr auf die Spitze treibt und dort dekonstruiert, wo diese ihre eigenen blinden Flecken nicht selbst reflektieren kann. Die Grenzen und historischen Bedingungen der Autonomie des literarischen Diskurses bleiben dabei allerdings unangetastet.




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Um von hier aus auf den Sammelband Text – Bild – Karte zurückzukommen, werden dort zwei verschiedene Angebote gemacht,8 die hinter das Faktum der Existenz eines bereits instituierten Systems literarischer Kommunikation zurückgehen und die grundlegende Frage nach der Entstehung moderner Literatur in Dialog mit der Wissens- und vor allem der Kartographiegeschichte aufwerfen. Zum Einen von Christian Kiening (TBK: 221–251), der in der frühneuzeitlichen Situation am Beispiel einer Reihe von Texten aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, ausgehend vom 1509 erschienenen Prosaroman Fortunatus, Erfahrung und Vermessung in der Frühen Neuzeit miteinander korreliert. Frühneuzeitliche Texte sieht er dabei als Schnittstelle an, in denen Erfahrung, die für ihn an eine sich herausbildende frühneuzeitliche Subjektivität geknüpft ist,9 und Vermessung, die sich vor allem in der Geometrisierung des Raums durch Kartographie äußert, zusammentreffen, um gemeinsam eine Wissensordnung zu stiften. Im Gegensatz zu Stockhammer beharrt Kiening auf dem Standpunkt eines zwar nicht einfach vorgängigen, aber zumindest vom medialen Dispositiv ablösbaren Subjekts, das sich geographische Informationen aneignet und sie zu bestimmten Zwecken nutzt. Damit schließt er nicht nur an die in der Frühneuzeitforschung wichtige subjektgeschichtliche Frage nach der Herausbildung weltlicher curiositas an, sondern verfolgt generell einen eher hermeneutischen Zugriff auf den Umgang mit Karten und ihrem Wissen.

Demgegenüber zielt die "Lust am Symbolischen" bei Stockhammer auf ein Verständnis literarischen Schreibens, das auf Subjektivität als textexterne Kategorie verzichtet, womit er eine Gegenposition zu Kienings Insistenz auf der Erfahrungsdimension vor allem literarischer Texte einnimmt. Als bekennender Semiotiker verwahrt sich Stockhammer aber auch – mittels des amüsanten Nachweises, wie beharrlich etwa Melanie Klein das kartographische Interesse des zehnjährigen Richard als Ausdruck einer latenten präsymbolischen Störung deutet, anstatt die "polymorph-perverse Lust am Symbolischen selbst" (KE: 60) zuzulassen – gegen eine psychoanalytische Fundierung von Literatur bzw. literarisch konstituierten Räumen im "Imaginären". Psychoanalytische Theorien des literarischen Imaginären sieht er generell einem "antimathematischen Affekt" (KE: 82) verhaftet. Damit unterbindet er jedoch auch von vornherein eine Perspektive, die von dem theoretisch vielschichtigsten der Beiträge des Sammelbandes, nämlich von Jess Edwards zum Lesen einer frühneuzeitlichen Karte (TBK: 95–130) in den Vordergrund gerückt wird und die nach einer ursprünglichen Verbindung von Wissens- und Imaginationspraktiken fragt.




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Edwards' Beitrag ist nicht nur quantitativ der umfangreichste des ganzen Sammelbandes, er stellt auch eine Art von Meta-Beitrag dar, der einen höchst aufschlussreichen Überblick über die medien- und kulturwissenschaftliche aktuelle Forschung zur frühneuzeitlichen Kartographie vor allem im angelsächsischen Raum liefert. Edwards ist weit davon entfernt, Kartographiegeschichte aus psychoanalytischer Sicht zu deuten (vgl. zu einer solchen Perspektive auf die Frühe Neuzeit Conley 1996), wohl aber reduziert er die Technik der kartographischen Ortung nicht auf ein rein technisches Apriori, das literarisch dekonstruiert werden könnte, sondern verknüpft in einer Überlegung, die fundamental für das Verständnis sowohl der medien- als auch kulturwissenschaftlichen Funktion von Kartographie sein könnte, Imagination und Medientechnik genealogisch: Statt eine präsymbolische Ebene des Imaginären zu bemühen, untersucht er, wie Karten mittels ihrer mathematischen Konstruiertheit eine grundlegende "Strukturphantasie" (TBK: 124) entwerfen, die mit der ihr inhärenten Vorstellung von Totalität notwendigerweise auch Ambivalenzen produziert. Diese Ambivalenzen manifestieren sich in den verschiedenen theoretischen Systematisierungsversuchen von Kartographiegeschichte bis zum heutigen Tag in unterschiedlichen, entweder eher auf mathematische Exaktheit oder auf Karten als ästhetische Objekte fokussierten Ansätzen. Damit steht Edwards' Untersuchung der Funktion mathematisch geprägter Imagination in der Frühen Neuzeit im Grunde dem Stockhammerschen Ansatz, der Lust und Macht von Karten miteinander in Spannung treten lässt, recht nahe, lässt diese Spannung jedoch aus dem Medium Karte selbst hervorgehen. Außerdem präzisiert er das, was Stockhammer die "Lust am Symbolischen" nennt, im Hinblick auf die Genealogie raumkonstitutiver Imaginationspraktiken.

Geht man noch einen Schritt weiter, könnte man behaupten, dass möglicherweise die Kartographie nicht nur von der modernen Literatur dekonstruiert wird, sondern als historische Imaginationspraxis in wesentlichem Maß dazu beigetragen hat, eine moderne Konzeption von Literatur und insbesondere von Fiktionalität überhaupt erst auszubilden. Mit der kartographischen Operationalisierung von geographischen Räumen zu besetzbaren Territorien ginge somit gleichzeitig eine Operationalisierung von Imaginationspraktiken zu einer spezifisch modernen geo- bzw. kartographischen Fiktion einher, die sich der Karte als Matrix bedient. Gerade in der Lücke zwischen Stockhammers medienwissenschaftlicher In-Bezug-Setzung eines ausdifferenzierten literarischen Systems mit kartographischer Technik und einer offenen Betrachtung von Karten als kulturelle Texte, das in nuce auch literarisch benutzbare Verfahren zur Raumkonstitution in sich schließt, könnte also der Ansatzpunkt für weitere Untersuchungen zum Verhältnis von Karte und Literatur liegen.




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Bibliographie

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Anmerkungen

1 Zu weiterer Literatur zum spatial turn vgl. auch den ersten Forums-Beitrag des Verfassers für PhiN 35/2006, der der Besprechung von literaturwissenschaftlichen Neuerscheinungen zur Raumtheorie gewidmet ist: vgl. http://web.fu-berlin.de/phin/phin35/p35t5.htm. Der vorliegende Beitrag hat sich komplementär dazu zum Ziel gesetzt, das Verhältnis von Literatur und Kartographie im Licht neuerer Forschungsliteratur zu beleuchten.

2 In der Folge wird aus beiden Bänden mit Nennung der Seitenzahlen im laufenden Text sowie zur Unterscheidung mit den Siglen KE (Stockhammer) und TBK (Glauser / Kiening) zitiert.




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3 Vgl. die Websites http://www.zfl.gwz-berlin.de/ und http://www.mediality.ch/. Sowohl für Robert Stockhammer als auch für Christian Kiening stellt die Beschäftigung mit Räumen bzw. Kartographien ein bereits vertrautes Forschungsfeld dar, für das bei Stockhammer 2005 u.a. der von ihm herausgegebene Sammelband TopoGraphien der Moderne sowie bei Kiening 2006 vor allem die Monographie zu Amerikareiseberichten mit dem Titel Das wilde Subjekt zeugen.

4 Weitere mediävistische Beiträge in der zweiten Sektion ("Ränder – Richtungen – Lektüren") des Sammelbandes widmen sich den monströsen Völkern des Erdrands (Marina Münkler, TBK 149-173) sowie den Himmelsrichtungen und Erdregionen auf mittelalterlichen Weltkarten (Hartmut Kugler, TBK 175-199). Beide Aufsätze sind eher der älteren, ideen- oder mentalitätsgeschichtlich an der Kartensemantik orientierten Forschungstradition zuzuordnen, die zweifellos ein wichtiges Paradigma in der Mediävistik darstellt, aber hier nicht im Vordergrund steht, weil sie nur vereinzelt auf die Frage der kartographischen Semiose selbst eingeht.

5 So etwa Ursula Kundert (TBK: 435–456), die Andachtstexte der Lutheranerin Catharina Regina von Greiffenberg untersucht, und Thomas Mohnike (TBK: 457–475), der auf imaginierte Geographien in der Lebensbeschreibung der schwedischen Adligen Agneta Horn eingeht.

6 Außerdem beschäftigt sich im Rahmen dieser Sektion auch noch der Beitrag von Carl Jung (TBK: 501–518) mit dem schwedischen Reisebericht von Carl Peter Thunberg aus dem 18. und einem Auswanderer-Roman von Vilhelm Moberg aus dem 19. Jahrhundert, ohne dabei jedoch näher auf Kartographie-Fragen einzugehen.

7 So der Titel eines Vorworts von Michel de Certeau zu Jules Vernes Les grands navigateurs du XVIIIe siècle, die Stockhammer wiederentdeckt sowie in deutscher Übersetzung in den von ihm herausgegebenen Sammelband Topographien der Moderne (2005) aufgenommen hat.

8 Zu erwähnen wäre aus der Theorie-Sektion des Bandes außerdem noch der Beitrag von Philippe Forêt (TBK: 131-145), der die Kartographiegeschichte Ostasiens durch verschiedene Epochen hindurch hinsichtlich ihrer gemeinsamen Differenzen zum modernen westlichen Kartenverständnis untersucht.

9 Vgl. hierzu auch ausführlicher die Analysen in Kiening (2006).