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Ludger Scherer (Bonn)



Uwe Schleypen (2004): Schreiben aus dem Nichts. Gegenwartsliteratur und Mathematik – das Ouvroir de littérature potentielle. München: Meidenbauer. ( = Romania Viva, 1)



Ausgangspunkt von Uwe Schleypens umfangreicher (458seitiger) Studie zum französischen Ouvroir de littérature potentielle ist die scheinbare Unvereinbarkeit von "Mathematik und Literatur, Berechnung und Imagination, formale[r] und bildliche[r] Sprache" (11). Die derart beschriebenen Gegensätze würden natürlich Antinomien bleiben, veränderte sich ihre Zuordnung nicht im Verlauf der Untersuchung – doch Schleypen enttäuscht die Erwartungen der Leser nicht und resümiert am Ende seiner Arbeit: "Und dennoch treffen sie sich – im Nichts" (411). Damit wäre zugleich der Titel seines Buches angesprochen, der bei denjenigen, die sich bereits mit Oulipo beschäftigt haben, durchaus Erstaunen auslösen kann, denn aus dem Nichts entstehen die Werke dieser Autoren ja gerade nicht, sondern aus selbstgewählten formalen Vorgaben, den contraintes. Worauf sich die mißverständliche Formulierung bezieht, wird bei der Lektüre klarer und bietet doch einen Ausgangspunkt für die kritische Würdigung der Arbeit.

Diese gliedert sich in vier Kapitel. Eingangs wird in einer Einleitung, wie schon angedeutet, die angebliche Befremdlichkeit der Untersuchungsperspektive betont, und zentrale Begriffe und Setzungen der folgenden Untersuchung kommen bereits zur Sprache. Ausgangsthese ist, daß "die écriture sous contrainte und die moderne Mathematik von einer direkten Auseinandersetzung mit der Realität absehen, da sie ihre Sicherheit im Umgang mit ihr verloren haben" (13). Das erste Kapitel widmet sich dann unter der Überschrift "Literatur, Mathematik und Absenz" in drei Abschnitten der Präsentation von Oulipo, der modernen Mathematik und dem Modell der Absenz. Die Gründung des Ouvroir de littérature potentielle 1960 durch Queneau und Le Lionnais, seine Methodik, Mitglieder und Position in der Literaturgeschichte, all dies wird kurz angesprochen, teilweise etwas zu verkürzend, denn die Behauptung, daß ihre praktische Ausrichtung die Oulipiens (sinnvollerweise übernimmt Schleypen den eingeführten französischen Terminus für die Mitglieder der Autorengruppe) daran hindere, "das Warum ihrer Methode zu hinterfragen, geschweige denn, sich geistesgeschichtlich zu situieren" (18), stimmt schon im Kontext der folgenden Analysen nicht.




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Der Umgang mit den contraintes erfolgt ja vielmehr bewußt, reflektiert und durchaus im Bezug auf historische Zusammenhänge und Entwicklungen. Im Anschluß stellt Schleypen einschlägige Forschungsliteratur kritisch vor, wie auch am Ende des folgenden Unterkapitels zur modernen Mathematik, das die mathematische Geheimgesellschaft Bourbaki präsentiert, die 1934 als Rebellion gegen die verkrustete französische Mathematik begann und nach dem Krieg zum dominierenden Paradigma auch der universitären Lehre aufstieg. Ihr Kennzeichen ist der Versuch, in einem bis heute unabgeschlossenen umfassenden Lehrwerk, den Eléments de mathématique, den verschiedenen mathematischen Disziplinen durch strenge Formalisierung und Axiomatik eine sichere gemeinsame Basis zu liefern. Das 'Moderne' dieser nicht-euklidischen Mathematik reflektiert die Problematisierung des traditionellen Wahrheitsbegriffes, ausgedrückt in den säkularen Schwierigkeiten der Mathematiker mit Euklids Parallelenaxiom, die zu einer Abkoppelung von der empirischen Wirklichkeit führte. Das arbiträr gesetzte Axiomensystem, das an die Stelle von unsicherer Anschauung und Intuition tritt, hat nur einen relativen Wahrheitswert und auch die formalistischen Kriterien der Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit sind prinzipiell unbeweisbar – so bleibe der Glaube an die Richtigkeit der Theorie als einziger Ausweg aus dem erkenntnistheoretischen "Münchhausen-Trilemma" (41). Das letzte Unterkapitel des ersten Teils nimmt nun die Setzung vor, "Absenz als Modell zeitgenössischer Weltbetrachtung" zur "erkenntnistheoretische[n] Grundlage des oulipotischen Schreibens" (44) zu erklären, wozu postmoderne Ansätze der Philosophie und Kunst angerissen werden. Derridas und Lyotards einschlägige Werke werden dabei auf die Kategorie der radikalen Absenz von Transzendenz hin referiert, die europäische Kunst seit dem 19. Jahrhundert auf die Behandlung der Leere hin abgeklopft, wobei der von Hugo Friedrich postulierten "leeren Transzendenz" (59) der Symbolisten die postmoderne Absenz folge. Die "Literatur unter den Bedingungen von Absenz" soll nun im folgenden auf Spuren dieses Weltbildes untersucht werden.

Paradebeispiel dafür ist Georges Perecs Roman La Disparition (1969), dem sich das zweite Kapitel von Schleypens Arbeit unter der Überschrift "Die symbolische Absenz eines Vokals" widmet. Das erste Unterkapitel begibt sich darin auf die "Suche nach dem Vokal der Weisen" (67), analysiert dazu detailliert den Aufbau des Romans, seine Genese, die Figuren und ihre Charakterisierung (der Protagonist Anton Voyl wird zur "Personifikation des ungestillten Erkenntnisstrebens", 81) und die aktive Rolle des Lesers bei der Lösung des kriminologischen Rätsels und der Identifizierung der zugrundeliegenden contrainte. Der fehlende Buchstabe e des Romans wird als "Symbol für die verschwundene Wahrheit" (104) interpretiert, das Lipogramm gerät zu einem "Gleichnis für das menschliche Erkenntnisstreben" (105). Nach diesem ersten Analyseschritt unternimmt es das zweite Unterkapitel ("Der epistemologische Rückgriff auf die ästhetische Moderne"), das Erkenntnisproblem der literarischen Instanzen mit der Kulturgeschichte der Moderne zu verknüpfen.




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Die zahlreichen intertextuellen Verweise in Perecs Roman werden entsprechend auf ihre Beziehung zur "Erkenntnissuche des modernen Subjekts" (107) hin untersucht. Besonderes Gewicht erhalten dabei die sechs lipogrammatisch nachgedichteten Klassiker der französischen Lyrik von Hugo, Baudelaire, Mallarmé und Rimbaud. Diese werden überzeugend als Rekonstruktion der "Biographie des modernen Subjekts" (115) interpretiert, ausgehend vom Ungenügen an der Realität über den gescheiterten romantischen Versuch der intuitiven Vision bis zum Ennui und der zitierten leeren Transzendenz der Symbolisten. Auch die weiteren Intertexte des Romans (u.a. Thomas Manns Der Erwählte) verweisen auf die Zufallsbedingtheit menschlicher Tätigkeiten und die Unmöglichkeit absoluten Wissens. Die "Nachforschungen der anderen Romanfiguren" (143) unterliegen denselben Bedingungen, die fortwährende Suche nach Erkenntnis führt wiederum lediglich zur "leeren Transzendenz" (154). Das dritte Unterkapitel bindet diese Befunde an die postmoderne Kondition der Absenz an. Letztere ist nicht mehr symbolistisch-modern "leer", sondern "abwesend", paradoxe Anwesenheit der Abwesenheit des Absoluten. La Disparition als "exemplarisches Werk der Absenz" (162) weise deren charakteristische ästhetische Erscheinungsformen auf, "die motivliche Darstellung von Leere, die Konstruktion aufgrund autonomer Regelsysteme, die differentielle Sinnkonstruktion, Prozesshaftigkeit und Momente der Dekonstruktion" (162). Nachdem Schleypen alle diese Elemente, teilweise in abgemilderter Form im Vergleich zur Radikalität der zugrundeliegenden philosophischen Ansätze, in Perecs Roman aufgespürt hat, kann er abschließend resümieren: "Der mutmaßliche Vokal der Weisen ist ein Waise" (197), Symbol der Relativität jeder Erkenntnis und des unabgeschlossenen und unabschließbaren Prozesses diskursiver vorläufiger Sinnkonstruktion.

Das dritte Kapitel "Die écriture sous contrainte und Absenz in oulipotischen Texten" unternimmt es nun, nach demselben Schema Spuren der Absenz in anderen Texten von Oulipiens nachzuweisen. Diese Einteilung erweist sich nicht immer als stringent, so stellt die Erzählung Banlieu von Paul Fornel zugegebenermaßen (vgl. 202) keine bloß "motivliche Darstellung von Leere" (162) dar, ebenso wie Perecs Voyage d'hiver dort fehl am Platze ist. Abgesehen von dieser Detailkritik liegt die Gefahr der gewählten Darstellungsform darin, der deutlicheren Präsentation oulipotischer Meisterwerke zuliebe schiefe und verkürzende Gegenüberstellungen vorzunehmen. Das beginnt bereits mit dem apodiktisch zu "dem zeitgenössischen Weltbild" (199) stilisierten Absenzmodell, zu dessen Verdiensten dann ästhetische und philosophische Konzepte erklärt werden, die durchaus älter sind (Kunstautonomie, Areferentialität, Intertextualität). Manche zu beanstandende Formulierung nimmt der Autor an späterer Stelle implizit zurück, etwa wenn er zunächst behauptet, die Erfahrungswelt und "literarisch-kulturelle Sinnmuster" (199) seien außersprachliche Größen, um dann zu schreiben, daß "auch die Lebenswirklichkeit des Autors bereits kulturell geprägt ist" (210).




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Ebenso ist die écriture sous contrainte kein Wundermittel, auch ohne sie entstünde "das Werk erst während des Schreibens" (241). Schleypens Analyse oulipotischer Texte ist jedoch durchweg gelungen, insbesondere die Darstellung der Bedeutung Mallarmés für Oulipo, die (auch bereits an anderer Stelle vorgelegte) Lektüre von François Le Lionnais' L'unique sonnet de treize vers et pourquoi (243-245) und die präzise Analyse von Jacques Roubauds vertracktem dekonstruktivistischen Kriminalroman L'Enlèvement d'Hortense (246-255). In der Zusammenfassung nennt er das oulipotische Korpus ein "zeitgemäßes Schreiben" (256), wobei wiederum im Bemühen, dieses vom Geruch bloßer artifizieller Sprachspielerei zu befreien, das "Gewebe realer, historischer, kultureller, literarischer, biographischer und gruppeninterner Bedeutungsangebote" (256), das zu seiner Stabilisierung herbeizitiert wird, zu Unrecht der Sprache entgegengestellt wird.

Im vierten Kapitel "Die écriture sous contrainte und die moderne Mathematik" kommt Schleypen dann auf die Ausgangslage zurück und untersucht mögliche Parallelen zwischen Oulipo und Bourbaki, angefangen von der ähnlichen Organisationsstruktur der Gruppen, ihrer Arbeitsweise und Geselligkeit, über den Vergleich der Methoden Axiom und contrainte, die Eigenarten der jeweils produzierten Texte und die Art der Kreativität bis hin zum fundamentalen mathematischen Erkenntnismodell. Dies geschieht ausführlich und nachvollziehbar, die Schlußfolgerung, daß von Oulipos "Ziel, Mathematik und Literatur zu vereinen [...] kaum etwas übrig geblieben zu sein [scheint]" (12), findet sich in dieser vergröberten Form jedoch bereits in der Einleitung. Aller Vergleichbarkeiten der beiden Gruppen zum Trotz läßt sich nicht nachweisen, daß Oulipo nach dem Vorbild der Mathematikergruppe gebildet wurde (vgl. 296), obwohl Schleypen dies eine Druckseite später behauptet. Auch sind mathematische Axiome und literarische contraintes nicht nur "in ihrer Anwendung" (305) unterschiedlich, sondern von verschiedener Natur. Daran ändert auch Queneaus Versuch einer axiomatischen Poetik in Les Fondements de la Littérature d'après David Hilbert nichts, den Schleypen dann als "Parodie" (312) liest, und der gleichwohl "die Axiomatik als literarisches Verfahren gerechtfertigt" (314) habe. Mathematische Strukturen eignen sich jedoch schlecht für direkte Übertragungen in Literatur, davor steht bereits die mangelnde logische Strenge der Sprache.

Auch ein Exkurs zu möglichen Beziehungen Oulipos zum französischen Strukturalismus erbrachte als Ergebnis, daß diese "ähnlich oberflächlich und akzidentiell wie die Beziehungen des Strukturalismus zu Bourbaki" (343) sind. Strenge und Nachvollziehbarkeit sind bei oulipotischen Texten begreiflicherweise nicht in mathematisch befriedigendem Ausmaß anzutreffen. Einen interessanten Vergleichspunkt stellt hingegen die "kreative Seite" (362) der Mathematik dar, deren Bildlichkeit, Unregelmäßigkeit und Assoziativität Verbindungen zur literarischen Textproduktion erlauben, auch wenn die Dialektik von Freiheit und Form in beiden Domänen unterschiedlich funktioniert.




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Der Überstrapazierung mathematischer Parallelen hätte an dieser Stelle womöglich ein Blick in Georges Perecs Text La chose (postum 1993) abgeholfen, in dem das Verhältnis von liberté und contrainte ausgehend vom Free-Jazz diskutiert wird. Das Schreiben in beiden Domänen ist jedenfalls eher unterschiedlich denn "Ungleich gleich" (379). Entsprechend skeptisch wäre zu bewerten, wie großen Einfluß das "erfolgreiche mathematische Erkenntnismodell" (382) auf oulipotische Texte hat, im Vergleich zu literarischer Tradition etwa oder philosophischer Theorie. Das problematische Verhältnis zur Wirklichkeit führte wohl in der modernen Mathematik und bei Oulipo zum Versuch der Formalisierung, reiner Formalismus ist allerdings kein Paradigma für die Literatur (vgl. 386); Schleypen sieht gleichwohl im Umweg über formale Regeln einen neuen indirekten Realitätsbezug ermöglicht (vgl. 410).

Bevor im umfangreichen Anhang die erwähnten contraintes in einem Glossar erläutert werden, eine Bibliographie und drei Indices die Arbeit er- und beschließen, resümiert Schleypen im Kapitel "Schreiben aus dem Nichts" die Ergebnisse seiner Arbeit. – Einige Detailkritik daran ist im Verlauf der Darstellung bereits angeklungen, die monierten Formulierungen, Ungenauigkeiten und Verkürzungen entspringen allerdings häufig aus dem ehrenwerten, aber übertriebenen Bedürfnis, die literarische Qualität und das Reflexionspotential oulipotischer Texte herauszustellen, die in der Tat zu oft als bloße Sprachspielerei mißverstanden wurden. Zu diesem Zweck ist es beispielsweise jedoch nicht nötig, ein vorsintflutliches Gegenbild 'traditioneller' primitiv-mimetischer Kunst zu konstruieren, vor dessen dunklem Hintergrund Oulipo heller leuchten könnte.

Positiv zu vermerken sind auf jeden Fall die umfassenden Werkanalysen. Das Gesamtkonzept ist etwas kritischer zu sehen: Folgt man Schleypens Modell der Absenz und billigt ihm ebenfalls fundamentale Bedeutung für die Geisteswissenschaften und Künste im 20. Jahrhundert zu, so bleibt doch die Frage, ob Absenz mit Nichts gleichzusetzen wäre, ob das postulierte Nichts als "nackte Realität einer gebrochenen Welt" (412) erstens erkenntnistheoretisch schlüssig beschrieben und zweitens wirklich notwendiger und hinreichender Ausgangspunkt für die écriture sous contrainte ist.

Die wichtige Rolle der Mathematik für Oulipo ist nach Schleypens Untersuchung nun genauer beschreibbar – wenn man die Bedingungen der Literatur (stärker) berücksichtigt. Für oulipotische Texte ist jedenfalls die Dialektik von liberté und contrainte ausschlaggebend, deren Ausdruck nicht zuletzt das clinamen ist, die bewußte Abweichung von der Regel, das Schleypen ja auch anspricht (vgl. 353). Die Faszination dieser Texte gelingt es Schleypen, etlicher Redundanzen zum Trotz, gut zu vermitteln, deren Bezüge zur Mathematik werden erstmals umfassend analysiert, wobei ein weniger formalistisches Vorgehen die eher philosophisch-ästhetischen Gemeinsamkeiten womöglich deutlicher zum Vorschein gebracht hätte.




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Direkte Übernahmen und Parallelen sind zwischen den Bereichen Mathematik und Literatur, gerade auch im Zuge der gewählten poststrukturalistischen Perspektive, wohl weniger wahrscheinlich und auch weniger wichtig, intertextuelle und 'interdisziplinäre' Beziehungen hingegen schon. Die eingangs angesprochene mißverständliche Formulierung des Titels hat den Blick demnach auf einige Kritikpunkte an der Arbeit gelenkt, die deren zahlreiche Verdienste jedoch nicht aufheben.