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Richard Waltereit (Tübingen)



Joachim Jacobs (1994): Kontra Valenz.
Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier. (= Fokus, 12)



1 Ein Paukenschlag

Der auf Lucien Tesnière (1959) zurückgehende Begriff der Valenz ist sicherlich das erfolgreichste Konzept der Dependenzgrammatik. "Unter Valenz wird die Fähigkeit [...] speziell des Verbs verstanden, eine bestimmte Anzahl spezifizierter Leerstellen für kontextuelle Partner zu eröffnen" (Kotschi 1981: 80) - das gehört inzwischen zum linguistischen Abc. Nicht nur das: das Konzept der Valenz hat, teilweise in unterschiedlicher terminologischer Verkleidung, seinen Siegeszug längst auch in anderen Grammatikmodellen als der Dependenzgrammatik angetreten. So kann man sagen, daß es auf dem Umweg über die auf Fillmore (1968) zurückgehende Kasusgrammatik inzwischen auch zumindest in die semantik-bezogenen Aspekte der generativen Theoriebildung eingegangen ist. In noch höherem Maße gilt dies wohl für die verschiedenen Spielarten lexikalistischer Theorien, so die Relationale Grammatik und die Lexical-Functional Grammar. Alle diese Ansätze haben einen Kerngedanken Tesnières übernommen, nämlich daß das Subjekt ein Komplement des Verbs ist.1 Valenz scheint also einen theoretisch gesicherten Fortschritt der Sprachwissenschaft darzustellen und ist zu einem ihrer Grundbegriffe geworden. Dies drückt sich zum einen darin aus, daß Valenz bzw. ihr Korrelat in anderen Grammatikmodellen ein zentraler Baustein der jeweiligen Theorien ist: Für die Dependenzgrammatik ist der Valenzbegriff geradezu konstitutiv. Der zunächst holistische Valenzbegriff ist in der theoretischen Entwicklung der Dependenzgrammatik mehr und mehr aufgefächert worden, in eine syntaktisch-ausdrucksseitige, eine semantische und schließlich in eine informationsstrukturelle Komponente. Im generativen Government & Binding-Modell ist die der semantischen Valenz entsprechende Thetarollen-Theorie ein zentrales Modul, auf dessen strukturierte Interaktion mit der syntaktischen Oberfläche sich sehr viele theoretische Versuche bezogen haben (cf. z.B. Williams 1995: 99-101). Zum anderen drückt sich die Etablierung des Valenzbegriffes auch in seinen weitreichenden Anwendungen aus, so in Form verschiedener Valenzwörterbücher und auch in der Fremdsprachendidaktik.

In diese transtheoretische Harmonie bricht nun das hier rezensierte Buch ein. Es macht schon im Titel deutlich, daß es nicht die Absicht hat, den Konsens in bezug auf den Valenzbegriff zu bestätigen. Es handelt sich dabei um die Veröffentlichung eines bereits 1986 verfaßten Manuskripts, das der Autor für die acht Jahre spätere Publikation lediglich mit einem "Nachwort 1993" versehen hat. (Im Vorwort schreibt er, daß er das Manuskript ursprünglich nicht veröffentlichen wollte, sondern es als Ausgangspunkt einer umfassenderen Arbeit über Valenz nehmen wollte - die aber m.W. bis jetzt noch nicht vorliegt.) Die Überschriften der ersten Kapitel kündigen genüßlich-provokant die Demontage des Valenzbegriffes an: "Die Valenzmisere", "Wie es dazu kommen konnte". Und diese Überschriften versprechen nicht zu viel: Jacobs macht auf sehr


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überzeugende und klare Weise deutlich, daß das Valenzkonzept in seiner herkömmlichen Form nicht zu halten ist. Im Kern besagt Jacobs' Kritik, daß es Valenz als substanzielle Beziehung zwischen Verben und Aktanten gar nicht gibt. Vielmehr verberge sich hinter dem, was als Valenz bezeichnet wird, eine Vielzahl, insgesamt sieben, verschiedener und voneinander unabhängiger syntagmatischer Beziehungen. Dies muß nun etwas näher ausgeführt werden.


2 Die erfolglose Suche nach dem wahren Valenztest

Anregung zu seiner These gibt Jacobs die intensive, doch letztlich erfolglos gebliebene Suche der Valenztheoretiker nach einem geeigneten Valenztest. Die Forschungsliteratur zur Valenz ist geprägt von dem Bemühen, ein Verfahren zu finden, das auf möglichst eindeutige Weise valenzabhängige Elemente (Aktanten, Komplemente, Ergänzungen) von nicht-valenzabhängigen Elementen (Zirkumstanten, Adverbiale, Adjunkte, Angaben) zu unterscheiden gestatte. Vielerlei Tests sind vorgeschlagen worden. Ich lasse hier einige davon Revue passieren anhand des Beispielsatzes Max rasiert Herrn Meier auf der Wiese.2 Herrn Meier ist als direktes Objekt eine klassische Ergänzung, auf der Wiese als Ortsadverbial eine klassische Angabe:

(a) Weglaßprobe (valenzabhängige Elemente sind nicht weglaßbar, nicht-valenzabhängige Elemente sind weglaßbar): *Max rasiert auf der Wiese, aber Max rasiert Herrn Meier.

(b) Geschehenstest (Angaben können mithilfe eines Pro-Verbs den Satz anaphorisch vertreten, Ergänzungen nicht): Max rasiert Herrn Meier, und das geschieht auf der Wiese, aber *Max rasiert auf der Wiese, und das geschieht Herrn Meier.

(c) Umstellprobe (Angaben sind in der Wortstellung frei, Ergänzungen nicht bzw. weniger): Max, auf der Wiese, rasiert Herrn Meier, aber *Max, Herrn Meier, rasiert auf der Wiese.

(d) Test der freien Hinzufügbarkeit (mehrere Angaben einer Kategorie sind in einem Satz kumulierbar, mehrere Ergänzungen nicht): Max rasiert Herrn Meier auf der Wiese im Stadtpark in Hamburg, aber *Max rasiert Herrn Meier Herrn Schulze seinen Bruder auf der Wiese.

Das Problem dieser Tests ist nämlich, daß keiner von ihnen wirklich befriedigende Ergebnisse liefert, ihre Anwendungsresultate sich oft widersprechen und infolgedessen keiner sich jemals allgemein durchsetzen konnte. So ist schon die Weglaßprobe problematisch. Ihre strikte Anwendung würde z.B. zu dem unplausiblen Schluß zwingen, daß das direkte Objekt von geben eine Angabe sei, denn man kann es in Wendungen wie wir geben gerne weglassen. (Dieser Umstand wurde in der Valenzforschung durchaus erkannt und hat zur Erfindung des "hölzernen Eisens" (Heringer 1984: 35) der "fakultativen Ergänzung" geführt). Auch andere Tests können widersprüchliche Ergebnisse produzieren. So weist einerseits der Geschehenstest bestimmte lokale Präpositionalphrasen als Ergänzungen aus (*Hannes hält sich auf, und das Geschieht in Berlin als Paraphrase von Hannes hält sich in Berlin auf). Andererseits indiziert der Test der freien Hinzufügbarkeit die Phrase in Berlin als eine Angabe: Hannes hält sich in Berlin in Neukölln in der Sanderstraße auf.


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Die Valenzforschung hat sich einen geeigneten Valenztest immer als ein "Symptom" der von diesem Test unabhängig existierenden Valenz vorgestellt. Valenz wurde gewissermaßen als eine an sich "unsichtbare" substanzielle Beziehung zwischen zwei Satzgliedern gesehen, die durch bestimmte Indizien sichtbar zu machen sei, so wie der Lackmuspapiertest die als solche unsichtbare Säure- bzw. Laugenhaftigkeit einer Flüssigkeit sichtbar macht (S. 43). Genau hier durchschlägt nun Jacobs den gordischen Knoten: Die Inadäquanz der Valenztests bedeute nicht, daß ein geeigneter Valenztest noch zu finden sei, sondern weise darauf hin, daß es Valenz als unitäres Phänomen gar nicht gebe. Vielmehr entsprechen die verschiedenen Tests unterschiedlichen, voneinander unabhängigen Deutungen des intuitiv gegebenen Valenzbegriffs:

Ein wesentlicher Grund für die inflationäre Vermehrung der Deutungen des Valenzbegriffs war also, daß man die Tatsache, daß in anderen als den klassischen Beispielen verschiedene Interpretationen von Valenz(bindung) zu verschiedenen Ergebnissen führen, den Interpretationen angelastet hat, statt sie als einen Hinweis auf die heterogene Natur der zu analysierenden Phänomene zu werten. (S. 11)


3 Sieben Valenzdimensionen

Im Hauptteil des Buches werden sieben mögliche Deutungen des Valenzbegriffs vorgestellt, und es wird der Beweis angetreten, daß man für jedes kombinatorisch mögliche Paar dieser Deutungskriterien mindestens ein Beispiel finden kann, für das sie divergierende Aussagen über den Ergänzungs- bzw. Angabenstatus, d.h. die Valenzbindung, machen. Damit wäre gezeigt, daß die Deutungen tatsächlich voneinander unabhängig sind. Ich werde nun im folgenden diese Kriterien vorstellen. Für den Beleg der Unabhängigkeit dieser Kriterien voneinander verweise ich auf den rezensierten Text selbst. Im Anschluß werde ich einige möglicherweise problematische Aspekte von Jacobs' Argumentation diskutieren.

1.) Notwendigkeit (NOT): Nicht-valenzgebundene Satzglieder sind weglaßbar, valenzgebundene sind es nicht (dies entspricht der erwähnten Weglaßprobe).

2.) Beteiligtheit (BET): Valenzgebundene Satzglieder sind am Sachverhalt beteiligt, nicht-valenzgebundene stellen lediglich Begleitumstände dar. In diesem Sinne wäre im Beispiel Max rasiert Herrn Meier auf der Wiese das Objekt Herrn Meier beteiligt, das Adverbial auf der Wiese nicht.

3.) Argumenthaftigkeit (ARG): Valenzgebundene Satzglieder sind Argumente der jeweiligen Prädikation, nicht-valenzgebundene sind es nicht. Argumenthaftigkeit wird als Erfüllung des bereits erwähnten Geschehenstests definiert (S. 18-20). Somit ist das direkte Objekt Herrn Meier ein Argument, das Adverbial auf der Wiese hingegen nicht.

4.) Exozentrizität (EXO): Die valenzgebundenen Satzglieder bilden zusammen mit dem Prädikat als Valenzträger einen anderen Konstituententyp (nämlich eine Verbalphrase) als das Prädikat allein (das typischerweise ein Verb als lexikalischer Kopf ist); nicht-valenzgebundene Satzglieder hingegen bilden mit dieser Verbalphrase als Ko-Konstituente eine weitere Verbalphrase. Sie reduplizieren also diejenige Konstituente, die aus Prädikat und ggf. valenzgebundenen Satzgliedern besteht. Man könnte entsprechend den Beispielsatz folgendermaßen darstellen:

S[NPMax VP[VP[Vrasiert NP[Herrn Meier]] PP[auf der Wiese]]]

und würde so die Exozentrizität des Objekts, nicht aber des Adverbials zeigen.


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5.) Formale Spezifizität (Rektion) (FOSP): Mindestens ein Formmerkmal des valenzgebundenen Satzglieds (z.B. Kasus) wird vom Valenzträger spezifiziert. "Vom Valenzträger spezifiziert" heißt hier: das Formmerkmal ist weder Ausdruck der Anwendung einer von einzelnen Lexikoneinträgen unabhängigen syntaktischen Regel noch ist es funktional bestimmt (S. 27f.). Ein auf eine Anwendung einer syntaktischen, d.h. kontextsensitiven, Regel zurückgehendes Formmerkmal ist z.B. der Genitiv in Possessivkonstruktionen (das Haus meines Vaters). Eine funktionale, kontextunabhängige Festlegung eines Formmerkmals ist z.B. der Akkusativ von temporalen Angaben (er aß den ganzen Tag). Im Beispiel Max rasiert Herrn Meier auf der Wiese wird der Akkusativ als Formmerkmal von Herrn Meier vom Verb rasieren spezifiziert. Jedoch wird kein Formmerkmal von auf der Wiese vom Verb rasieren spezifiziert.

6.) Inhaltliche Spezifizität (INSP): Mindestens ein inhaltliches Merkmal des valenzgebundenen Satzglieds (z.B. semantische Rolle) wird vom Valenzträger spezifiziert. Analog zu FOSP wird das inhaltliche Merkmal "Patiens" von Herrn Meier vom Verb spezifiziert, nicht jedoch das inhaltliche Merkmal "Temporalangabe" der Präpositionalphrase auf der Wiese.

7.) Assoziiertheit (ASSOZ): Versuchspersonen assoziieren häufig valenzgebundene Satzglieder zum Valenzträger, nicht aber valenzunabhängige Satzglieder (cf. hierzu Heringer 1984, 1986). Heringer legte Probanden deutsche Infinitive vor. Die Probanden sollten die Fragewörter nennen, die ihnen zu den Infinitiven einfielen (wer?, was?, warum? usw.). Alle Aktanten-Fragewörter wurden häufiger und schneller genannt als irgendein Zirkumstanten-Fragewort.

Die Dimensionen EXO und ASSOZ werden im folgenden nicht weiter diskutiert, da Jacobs sie in seinem Nachwort 1993 als unabhängige Valenzkriterien widerruft (S. 69-70). Er verwirft EXO, da Exozentrizität als syntaktische Konfiguration nicht exklusiv für Valenzbeziehungen sei und daher nicht als unabhängige Valenzdeutung gelten könne. ASSOZ wird nun als psychologisches Korrelat der Argumenthaftigkeit aufgefaßt und daher als eine von dieser unabhängigen Valenzdeutung verneint.


4 Alles nicht ganz so einfach

Wie erwähnt, bildet Jacobs (S. 33-41) alle kombinatorisch möglichen Paare aus diesen sieben Kriterien und bringt Beispiele, in denen seiner Meinung nach die Kriterien voneinander abweichende Aussagen über die Valenzbindung eines Ausdrucks machen. An dem hiermit unternommenen Beweis der Unabhängigkeit der Valenzdimensionen ist insgesamt wenig auszusetzen. Ich möchte allerdings auf einige Schwachpunkte aufmerksam machen, deren Berücksichtigung im Ergebnis die Geltung von Jacobs' Thesen relativiert:

a) Das Kriterium "Beteiligtheit": Dieses Kriterium nimmt die Metapher Tesnières vom Satz als "petit drame" (1959: 102) auf:

Beteiligte Entitäten sind [..] all jene, die [...] mitwirken oder [...] direkt oder indirekt betroffen sind. Alle Entitäten dagegen, die, wenn sie im Satz überhaupt erwähnt werden, zur Einordnung des Vorgangs/Zustands in einen größeren Zusammenhang dienen, z.B. in einen temporalen, lokalen, kausalen oder finalen Zusammenhang, sind an diesem Vorgang/Zustand im hier relevanten Sinne nicht beteiligt. Sie bilden den 'Grund', von dem sich die beteiligten Entitäten als 'Gestalten' abheben. (S. 16)

Dieses auf die Intuition zurückgreifende Kriterium wird als "ziemlich unklar" (S. 16) bezeichnet und dergestalt präzisiert, daß alle Ausdrücke, die Ort, Zeit, Dauer, Richtung usw. denotieren, als BET definiert werden. Dieser Trick erlaubt es Jacobs, anhand von Sätzen wie Hannes verbrachte den ganzen Sommer mit Lesen -BET als unabhängig von anderen Valenzdimensionen zu beschreiben:


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BET sei unabhängig von FOSP (und entsprechend auch von INSP) (S. 37), da die NP den ganzen Sommer vom Verb kasusmarkiert wird (also formal spezifiziert wird), aber als Dauer denotierender Ausdruck -BET sei. Analog könne auch die Unabhängigkeit von BET und ARG hergeleitet werden (S. 37). Im Beispiel Hannes verbrachte den ganzen Sommer mit Lesen muß den ganzen Sommer ein Argument sein (*Hannes verbrachte mit Lesen, und das geschah den ganzen Sommer). BET ist in diesem Beispiel unabhängig von den anderen Dimensionen um den Preis, ein intuitives Kriterium kontraintuitiv zu verwenden. Denn man kann wohl nicht umhin, in Verben wie verbringen die im direkten Objekt ausgedrückte Zeitangabe als 'Figur' (und nicht als 'Grund') des dargestellten Sachverhalts zu bezeichnen. Welche Konstituententypen +BET sind, kann nicht prädikatunabhängig definiert werden, sondern muß für jeden Valenzträger einzeln spezifiziert werden.

b) Der Status des Subjekts: An mehreren Stellen (S. 37-40) rekurriert Jacobs auf das englische Subjekt, dessen Formmerkmale in der generativen Grammatik von seiner strukturellen Position und nicht vom lexikalischen Gehalt des Verbs abhängen. Die Formgestalt des englischen Subjekts ist also in dieser Theorie nicht ein Produkt von FOSP, sondern Ergebnis der Anwendung einer syntaktischen Regel. Seine inhaltlichen Merkmale (thematische Rolle usw.) sind aber natürlich vom Verb determiniert. Diesen Annahmen schließt sich Jacobs an. Somit wäre ein Beleg für die Unabhängigkeit von FOSP und INSP erbracht. Dazu ist folgendes zu sagen: In der Tat wird in einigen Varianten der generativen Grammatik die Subjektform als strukturell, und nicht lexikalisch, determiniert beschrieben. Das hängt aber damit zusammen, daß in diesen Varianten die Subjektform als theoretische Entität gar nicht existiert, sondern nur als "convenient label" verwendet wird. Was traditionell als Subjekt bezeichnet wird, ist in dieser Theorie einfach eine bestimmte, vom Verb unabhängige, strukturelle Position. Wenn man sich diesen Standpunkt zu eigen macht (und dafür mag es gute Gründe geben), so legt man damit definitorisch fest, daß es Subjekte gar nicht gibt. Damit schließt man aber "Subjekte" aus der Valenzerörterung aus und kann über sie keine empirischen Hypothesen mehr machen! Die Behandlung des englischen Subjekts in der generativen Prinzipien- und Parameter-Theorie ist also nicht geeignet, die Unabhängigkeit von FOSP und INSP zu beweisen.

Folgt man der hier vorgetragenen Kritik (unter dem Vorbehalt, daß es vielleicht andere, akzeptable, Beispiele zum Beweis der Unabhängigkeit der betreffenden Valenzdimensionen geben könnte), so entfiele also die Dimension BET als unabhängiges Valenzkriterium. Des weiteren entfiele die Unabhängigkeit von FOSP und INSP voneinander. Vorläufig will ich daher hier FOSP und INSP zu FOINSP zusammenfassen. Was verbleibt nun von Jacobs' Dekomposition des Valenzbegriffs? Nachdem der Verfasser selbst in seiner Nachschrift schon EXO und ASSOZ eliminiert hat, blieben also noch drei unabhängige Dimensionen übrig: NOT, ARG, FOINSP. Betrachtet man nun Jacobs' Ausführungen zur Unabhängigkeit von ARG von FOSP einerseits und von INSP andererseits, so muß man, folgt man der bisher entwickelten Kritiklinie, zu dem Schluß kommen, daß auch ARG von FOINSP (zumindest bei verbalen Valenzträgern) nicht unabhängig ist. Wenn, wie oben ausgeführt, FOSP und INSP zusammenfallen, genügt es, um zu diesem Schluß zu gelangen, zu zeigen, daß ARG von FOSP oder INSP nicht unabhängig ist. Jacobs liefert zwei Argumente für die Unabhängigkeit von ARG und INSP bei verbalen Valenzträgern:

[D]ie inhaltlichen Merkmale von Agens-PPn lassen sich durch die Passiv-Regeln voraussagen. (Sie entsprechen ja immer denen des Agens-Arguments der entsprechenden aktivischen Vollform.)

Direktionalbestimmungen bei Bewegungsverben sind inhaltlich nicht spezifisch, da jedes Verb, das eine Bewegung beschreibt, von Direktionalbestimmungen begleitet werden kann (vgl. gehen, fahren, laufen, schwimmen, fliegen, kriechen, robben, purzeln usw.). Solche Bestimmungen sind aber Argumente des jeweiligen Verbs, vgl. *Er ging, und das tat er ins Kino. (S. 39)


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Zum ersten Punkt ist zu sagen, daß sicherlich die inhaltlichen Merkmale von Agens-PPn als Argumente in Passivkonstruktionen zwar denjenigen der entsprechenden Aktivkonstruktion entsprechen, daß aber diese wiederum natürlich lexikalisch festgelegt sind und daher INSP (FOINSP) unterliegen.

Auch der zweite Punkt ist nicht überzeugend. Er beruht anscheinend auf der Vorstellung, daß inhaltliche Merkmale von Argumenten immer dann nicht vom Verb spezifiziert seien, wenn diese Merkmale für alle entsprechenden Argumente der jeweiligen Verbklasse (hier also Bewegungsverben) zur Verfügung stehen. Da jedoch nicht gesagt wird, wie die Verbklassen zu definieren sind, und folglich unterstellt werden darf, daß diese sehr klein sein können, so läuft der Punkt in der Konsequenz darauf hinaus, daß überhaupt kein inhaltliches Merkmal eines Verbarguments vom Verb selbst spezifiziert zu werden braucht, da bei genügend eng definierten Verbklassen jedes inhaltliche Merkmal eines Arguments in die Verbklasse selbst als deren Merkmal verlegt werden kann. Somit ist INSP (und damit auch FOINSP) von ARG nicht unabhängig.

Es bleiben also (wieder unter dem Vorbehalt, daß vielleicht andere als die von Jacobs präsentierten Beispiele die gewünschte Unabhängigkeit der jeweiligen Valenzdimensionen voneinander zeigen könnten) ganze zwei unabhängige Valenzdeutungen übrig, nämlich die Notwendigkeit (NOT) und die Argumenthaftigkeit (ARG).


5 Und nun?

Selbst wenn es, wie hier ausgeführt, wesentlich weniger unabhängige Valenzdimensionen als von Jacobs angenommen geben sollte, so ist Kontra Valenz trotzdem ein geniales Buch. Die Neukonzeption der Valenz in Form unterschiedlicher Deutungen (nicht Tests) eines intuitiv gegebenen Begriffs der Beteiligung am Sachverhalt erlaubt es, die verfahrene und öde Diskussion um die Abgrenzung von Ergänzungen und Angaben in einem völlig neuen Licht zu sehen. Des weiteren zeigt Jacobs selbst einige Perspektiven auf, die seine Theorie der Valenzforschung weist:

1.) Valenz als prototypikalisches Konzept: Wenn Valenz in verschiedene unabhängige Dimensionen zerfällt, so stellt sich die Frage, warum diese so oft gemeinsam auftreten (so daß es erst der Anstrengung eines J. Jacobs bedurfte, um ihre Unabhängigkeit voneinander zu erkennen). Damit ist man schon fast automatisch beim Prototypenbegriff (S. 71). Valenz könnte ein Fall grammatischer Prototypikalität mit zentralen und randständigen Merkmalen sein.

2.) Diachronie und Grammatikalisierung der Valenzdimensionen: Eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem Grund für die typische Kookkurrenz der Valenzdimensionen gibt Jacobs (S. 71) selbst. Er schlägt vor, daß die verschiedenen Dimensionen der Valenzbindung Stufen einer Grammatikalisierung der Argumentbeziehung sein könnten (wobei man hier statt Grammatikalisierung wohl eher Lexikalisierung sagen müßte, denn es geht ja um die lexikalische Information einzelner Verben). Stark lexikalisierte Argumente würden demnach mehr Valenzdeutungen entsprechen als schwach lexikalisierte.


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Mein Fazit: Dieses Buch löst sicherlich nicht alle Probleme der Valenzforschung. Möglicherweise sind die Valenzbeziehungen doch nicht alle in dem von Jacobs skizzierten Maße voneinander unabhängig. Vor allem wird deutlich, daß die Antwort auf die Frage nach der Natur von Valenz speziell davon abhängen wird, wie man das Verhältnis von Lexikon und Syntax definiert. Trotzdem muß jeder, der sich mit Valenz beschäftigt, dieses Buch lesen. An Ideenreichtum und gedanklicher Präzision ist es den Diskussionen um Valenztests und um die Abgrenzung von Ergänzungen und Angaben Meilen voraus.



Bibliographie

Fillmore, Charles J. (1968): "The case for case", in: E. Bach, R. T. J. Harms (Hgg.): Universals in linguistic theory, New York, 1-88.

Helbig, Gerhard (1992): Probleme der Valenz- und Kasustheorie, Tübingen (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 51).

Heringer, Hans Jürgen (1984): "Neues von der Verbszene", in: G. Stickel (Hg.): Pragmatik in der Grammatik. Jahrbuch 1983 des Instituts für deutsche Sprache, Düsseldorf (Sprache der Gegenwart 60), 34-64.

Heringer, Hans Jürgen (1986): "The verb and its semantic power: association as a basis for valence theory", Journal of semantics 4, 79-99.

Kotschi, Thomas (1981): "Verbvalenz im Französischen", in: ders. (Hg.): Beiträge zur Linguistik des Französischen, Tübingen (Tübinger Beiträge zur Linguistik 154), 80-122.

Tesnière, Lucien (1959): Eléments de syntaxe structurale, Paris.

Williams, Edwin (1995): "Theta theory", in: G. Webelhuth (Hg.): Government and Binding theory and the Minimalist Program, Oxford (Generative Syntax 1), 97-124.



Anmerkungen

1 Cf. Fillmore (1968: 17): "The position I take seems to be in agreement with that of Tesnière (1959, pp. 103-105) who holds that the subject/predicate division is an importation into linguistic theory from formal logic of a concept which is not supported by the facts of language and, furthermore, that the division actually obscures the many structural parallels between 'subjects' and 'objects'".
2 Eine umfassendere Übersicht gibt z.B. Helbig (1992: 78-87).
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