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Rolf Lohse (Berlin)



Überlegungen zu einer Theorie des Komischen



Thoughts Towards a Theory of the Comic
In this article, the comic is described as a mechanism that allows to transgress restrictions of human behaviour and avoids at the same time the sanctions usually linked to these transgressions. This specific quality of the comic transgression mechanism allows us to question existing interpretations of this world and to test standard concepts of the world in a playful mode. The comic is thus a complex device for human orienteering. It offers the chance to investigate the current state and place of the border lines marking the limits of what is normally expected human behaviour and to control these norms with no sanctions threatening. The 'comic' investigation works in all the domains where rules are established, where behaviour is normed, and where tenets are fixed. The comic insists on a liberated space within which rules may be transgressed (for a short time) and the pressure necessary to maintain the standards can be evacuated. In this respect, the comic may be seen as a stabilising subversion or as a subversive stabilisation of the status quo.


Das Komische gehört zu jenen Phänomenen, die den Menschen immer wieder fasziniert und zum Nachdenken angestoßen haben. Die Diskussion um eine Theorie des Komischen ist dabei längst nicht abgeschlossen, wie man aus immer neuen Beiträgen1 dazu ersehen kann. In kaum einem anderen Bereich wurden derart viele Erklärungsversuche aus den verschiedensten Disziplinen unternommen, und wie kaum eine andere Frage ist die nach dem Komischen immer wieder als Randbemerkung zu anderen Zusammenhängen behandelt worden, so daß die Theoriebildung äußerst disparat ist. Die Ansätze unterscheiden sich hinsichtlich der Begrifflichkeit, des theoretischen Bezugssystems und vom Erkenntnisinteresse her.


1

Die bisherigen Ansätze lassen sich noch dem jeweiligen Grundgedanken klassifizieren. Das Komische kann auf Überlegenheit (Hobbes), der Inkongruenz (Schopenhauer, Koestler), der Überraschung (Quintilian), der Ambiguität (Höffding), der Entspannung (Lipps) oder auf einem psychologischen Zusammenhang (Freud) beruhen (vgl. Keith-Spiegel 1972) Allerdings zeichnet sich weder eine durchgehende Verwendbarkeit der Kategorien ab, noch sind diese Grundbegriffe vollkommen verläßlich, da Kontraste, Inkongruenzen, Überraschungen, Überlegenheitsgefühle etc. denkbar sind, die keineswegs komisch sind.2 Zudem sind auch Formen des Komischen denkbar, die nicht auf einem Kontrast oder einer Überlegenheit beruhen.

Vielleicht könnte vom Wortsinn her eine Definition entwickelt werden. Doch auch das Wort gibt keinen Aufschluß: Es ist bekannt, daß es sich im Begriffsumfeld der Komödie (comédie, comique) entwickelt hat. Sicher rekurriert comique auf den griechischen kómos, das Gelage, den festlichen Gesang, den festlich fröhlichen Umzug zu Ehren des Dionysos. Allerdings ist die genaue Filiation und der eingetretene Bedeutungswandel des Wortes bislang nicht schlüssig nachgewiesen. Daher kann auch vom Wort ausgehend keine endgültige Klärung des Begriffsgehalts vorgenommen werden.




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Hinzu kommt, daß eines der grundlegenden Probleme der Komiktheorie ungelöst ist, das der Tautologie. Oft bleibt die Frage nach dem Wesenskern des Komischen aus der Untersuchung ausgeklammert, so daß das Komische durch die komische Wirkung erklärt wird. Das Komische wird etwa zurückgeführt auf einen (komischen) Kontrast, und das Lachen wird zum Zeichen des Komischen, dessen Wirkung eben das Lachen ist. Wolfgang Preisendanz legt die Tautologie solcher Definitionen offen:

Freilich könnte ich mich daran machen, im Vollbesitz aller einschlägigen Theorien zu analysieren und zu bestimmen, was [...] komisch ist. Freilich könnte man die unendlich dehnbare, weil letztlich immer wieder tautologische Theorie des komischen Kontrasts bemühen und für jede der zitierten Stellen, für jeden der Textausschnitte einen speziellen - mehr im Ausdruck oder mehr im Sachverhalt liegenden - komischen Kontrast geltend machen. Aber mit der zwingenden Explikation dessen, was die Kontraste zu unabdingbar komischen macht, was das Verhältnis von Text und Kontexten aller Art unabdingbar zum Garanten von Komik macht, würde es hier wie immer und überall hapern (Preisendanz 1976: 155).

Auf diesen grundlegenden Kritikpunkt ist bislang noch keine adäquate Antwort gefunden worden.

Sucht man nach einem Ansatz, der die Erklärung des Komischen voranbringt, so läßt sich auf Überlegungen Joachim Ritters zurückgreifen, der die Frage nach dem Daseinssinn des Lachens stellt. Er sucht nach dem Zusammenhang zwischen dem Komischen und Sinnstiftungen, die das Bild der Welt strukturieren. Er sieht im Lachen, das "dem Dasein überhaupt eigen" sei und "mit seiner Verschiedenheit mit[geht]", ein Phänomen, das über die anerkannten Setzungen hinaus auf das verweise, was diese Setzungen ausklammern. Es bestimme sich "je aus dem Daseinssinn" und "folgt [...] jeweils dem, was als Sein und Wesen gesetzt und verstanden ist" (Ritter 1940: 7). Allerdings folge es der positiven Ordnung als Entgegenstehendes, als Negation.

Grundsätzlich gilt: das Entgegenstehende und Kontrastierende ist im Ganzen des Seins und des Daseins nichts Festes, es folgt als das Andere oder als das, was nicht ist, jeweils dem, was als Sein und Wesen gesetzt und verstanden ist (Ritter 1940: 7).

Es sei der normative Ernst, der zwischen dem Positiven und dem Entgegenstehenden abgrenze und innerhalb des Lebensganzen das für wesentlich Erachtete von dem für unwesentlich Erachteten trenne.

Der Ernst besteht überhaupt darin, daß er nur das zur Sache Gehörige gelten läßt und so hiermit zugleich unzählige Gedanken, Wünsche, Neigungen, Vorstellungen, die in der Wirklichkeit des Daseins außerdem und nicht weniger lebendig mitgehen, zwingt, in der Form des Unwesentlichen und Nichtdazugehörigen fortzubestehen und als das Unsachliche und Unernste das jeweils zur Rede Stehende gleichsam in der Weise zu umspielen, wie sich in die sachlichen Protokolle der Sitzungen alles das, was nicht zur Sache gehört, in der Form von Männchen und spielerischen Ornamenten als dennoch dazugehörig einschleicht (Ritter 1940: 10).




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Durch den Ernst entstehe die positive Ordnung, die auf der Abtrennung von Wesentlichem und Unwesentlichem beruhe.

Was das Nichtige zum Nichtigen macht, das Entgegenstehende zum Entgegenstehenden und sie ausgrenzt als Ausfallendes, Unwesentliches, Unsinniges, Unverständiges usw., ist je die positive Ordnung selbst, die das Dasein sich gibt (Ritter 1940: 9).

Im Anlaß des Lachens zeige sich nicht nur das "Nichtige" und "Entgegenstehende", das aus der positiven Ordnung Ausgegrenzte, sondern die Norm selbst werde als ausgrenzendes Prinzip enthüllt. Das Lachen ist damit nicht mehr nur der Norm untergeordnet, sondern reflektiert sie. Es ist nicht, wie bei Bergson, normkonform funktionalisiert,3 sondern integriert das durch die Norm Ausgegrenzte, das nun nicht mehr als das schlechthin Nichtige erscheint, sondern in seiner Zugehörigkeit zum Lebensganzen.

Aus dieser Bestimmung ergibt sich der Bezug des Komischen auf die jeweils geltende Norm, die auf eine besondere Weise überschritten wird:

Das Komische entsteht so hier in einer doppelten Bewegung, einmal im Hinausgehen über die jeweilig gegebene Ordnung zu einem von ihr ausgeschlossenen Bereich, und zweitens darin, daß dieser ausgeschlossene Bereich in und an dem ihn ausschließenden Bereich selbst sichtbar wird (Ritter 1940: 9).

Ritter deutet das Komische als Spiel, "dessen Sinn es ist, die Zugehörigkeit des dem Ernst Fremden zur Lebenswelt zu manifestieren" (Ritter 1940: 13) und sogar "die Identität eines Entgegenstehenden und Ausgegrenzten mit dem Ausgrenzenden herzustellen" (Ritter 1940: 12).4

Mit der Einsicht in die ausgrenzende Rolle der Vernunft werde die Begrenztheit des vernunftgesteuerten Umgangs mit der Welt bewußt: Die Vernunft, die "mit der Setzung ihres Seinssinnes Unendliches ausgrenzt" (17), mache "die Grenze der Vernunft bewußt, durch die das Ausfallende zum Ausfallenden wird" (20). Diese Begrenztheit der Vernunft zeigt sich darin, daß sie "abgetrennt ist von der Fülle desjenigen Lebens, das ihr nur als nichtig und nichtseiend unwesentlich begegnen kann" (17). Damit erhält das Komische eine Funktion, die in dieser Deutlichkeit noch nicht formuliert wurde: In dem Prozeß der Reintegration des Ausgegrenzten macht das Komische die ausgegrenzten Bereiche und den Verlauf der Grenze sichtbar. Das Komische trägt damit dazu bei, den Verlauf von Grenzziehungen zu lokalisieren. Diese bei Ritter nur angedeutete Lokalisierungsfunktion führt - denkt man sie konsequent weiter - zu einer Neubewertung der Funktion des Komischen. Neben seiner 'Normenkontrollfunktion' erfüllt das Komische eine wichtige Sondierungs- und Orientierungsfunktion innerhalb der Topographie der Setzungen und Gewißheiten, die das Dasein strukturieren.

Aus dieser Deutung des Komischen zieht Ritter bemerkenswerte Konsequenzen: Der Zusammenhang zwischen dem Lebensganzen und dem Komischen erlaube es nicht nur, die Abhängigkeit der heutigen Formen des Komischen von der Strukturierung der Lebenswelt in den Blick zu bekommen, sondern im Umkehrschluß auf uns gekommene Formen des Komischen "als Dokumentierungen vergangenen Lebens" (12) zu lesen. Damit erscheint es möglich, aus erhaltenen Manifestationen des Komischen den lebensweltlichen Zusammenhang wenigstens teilweise zu rekonstruieren, in dem sie ihren Platz hatten. Ritter kommt zu der grundsätzlichen Bestimmung, "daß sich das Lachen selbst je aus dem Daseinssinn bestimmt, in dem der Lachende seinem Wesen und seiner Lage nach sich hält." (7) Wenn sich das Lachen aus dem Daseinssinn bestimmt, dann müßte sich umgekehrt aus dem, was belacht wird, dieser Daseinssinn wieder rekonstruieren lassen.




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Die Überlegungen Ritters regten die komiktheoretische Diskussion der Konstanzer Arbeitsgruppe "Poetik und Hermeneutik" wesentlich an, in deren Verlauf verschiedene Erklärungsmodelle entwickelt wurden, die zwar nicht Ritters existenzphilosophischen Ansatz übernehmen, die aber dem von Ritter vorgeschlagenen Grundmodell verpflichtet sind.

Wolfgang Iser beschreibt das Komische als eine "ablaufende Operation" (Iser 1976: 400), deren tiefenstrukturelle Funktionsweise er formelhaft als "Kipp-Phänomen" (ebd.: 399) faßt: Positionen, die sich jeweils gegenüberstehen, können in einem dialektischen Wechselspiel ineinander umkippen. Die verschiedenen Erscheinungsformen des Komischen werden gedeutet als "nur historisch bedingte Füllungen einer vorwiegend pragmatisch funktionierenden Struktur." (ebd.: 399) Mit dieser Unterscheidung zwischen Tiefenstruktur und Oberfläche, auf der verschiedene Realisierungen der Grundstruktur möglich sind, formuliert Iser ein Modell, das es gestattet, die Grundstruktur des Komischen unabhängig von ihren historisch verschiedenen Füllungen zu untersuchen. Iser schlägt vor, die Tiefenstruktur des Komischen als binäres Oppositionsverhältnis zu beschreiben, dessen beide zusammengeschlossene Positionen sich wechselseitig negieren. Dadurch entsteht das Ungreifbare des Komischen, sein "Geschehenscharakter [...], der sich durch die aufeinander bezogenen Positionen ergibt." (ebd.: 399)

Rainer Warning sieht das Verhältnis zwischen herrschender Norm und dem Komischen nicht als ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis - Komik gleich Normverstoß -, sondern bestimmt es in Rückgriff auf die Überlegungen Ritters als ein Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung:

[...] was ihr [der Norm] entgegensteht, was von ihr ausgegrenzt wird als etwas Nichtiges, Unwesentliches, Lächerliches, das ist nicht etwa ein schlechthin Negatives, sondern nur etwas, womit der jeweilige normative Ernst nicht fertig wird, das aber zum Lebensganzen genauso dazu gehört wie das als positiv und wesentlich Geltende. Im Lachen, so Ritter, wird diese geheime Zugehörigkeit des Ausgegrenzten, des Nichtigen zum Lebensganzen sichtbar (Warning 1975: 347).

Die komische Verarbeitung hebt das Ausgegrenzte aus der Rolle des Ausgegrenzten heraus, und "so überführt es denn auch das Nichtige in [...] seine eigene Positivität" (Warning 1975: 347). Damit wird das von der Vernunft Ausgegrenzte gegen die normative Vernünftigkeit ausgespielt: "Der Norm selbst also wird mitgespielt, in dem das Lachen sie enthüllt in der Beschränktheit eines ausgrenzenden Prinzips." Die von Ritter aufgezeigte Funktionsweise des Komischen beschreibt Warning als "ein funktionales Modell der Positivierung von Negativität." (ebd.: 348)

Im Rahmen der Handlungstheorie Karlheinz Stierles entsteht Komik, wenn eine Handlung fremdbestimmt ist und scheitert. (Stierle 1976: 238) Die Komik wird in diesem Modell an die Bedingung geknüpft, daß die fremdbestimmte und scheiternde Handlung - zumindest für einen Beobachter - folgenlos und damit "enthebbar" (ebd.: 251) ist. Dank der Enthebbarkeit kann die Negativität der Handlung letztlich wieder positiviert werden, da sie keinen wirklichen Schaden anrichtet und insofern folgenlos bleibt.




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Wolfgang Preisendanz bezieht diesen Erklärungsansätzen gegenüber eine skeptische Position und verweist auf die allgegenwärtige Gefahr der Tautologie.

Voraussetzungen und Bedingungen dafür, daß sich etwas komisch ausnimmt, als Komik aufgefaßt, akzeptiert und quittiert wird, sind aufgrund der historischen, sozialen, kulturellen, psychischen, situativen Faktoren so komplex und problematisch, ein allgemein verbindlicher und gültiger Begriff des Komischen ist so unabsehbar, daß ich es für ausgeschlossen halte, die Behauptung, hier handle es sich - im Hinblick auf Intention oder Rezeption - um Komik, so zu verifizieren, daß diese Behauptung (und mithin der sie bestimmende Eindruck) absolute intersubjektive Verbindlichkeit gewönne. Die theoretische Begründung und die analytische Verifikation der Wahrnehmung von Komik halte ich, wenigstens bis zur Stunde, für ein vergebliches Bemühen (Preisendanz 1976: 156).

Seine Skepsis hinsichtlich der Begründbarkeit des Komischen ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen, allerdings verbaut die Folgerung, es sei unmöglich, das Komische intersubjektiv verbindlich zu bestimmen, mögliche Wege, die aus den Aporien der gegenwärtigen Diskussion herausführen. Daher ist aber an dieser Stelle Freuds Mahnung in Erinnerung zu rufen, die Kritik an den bestehenden Hypothesen dürfe nicht dazu führen, die Ansätze pauschal zu verwerfen.

Allen Theorien des Komischen ist von ihren Kritikern der Einwurf gemacht worden, daß ihre Definition das für die Komik Wesentliche übersieht. Das Komische beruht auf einem Vorstellungskontrast; ja, insofern dieser Kontrast komisch und nicht anders wirkt. Das Gefühl der Komik rührt vom Zergehen einer Erwartung her; ja, wenn diese Enttäuschung nicht gerade peinlich ist. Die Einwürfe sind ohne Zweifel berechtigt, aber man überschätzt sie, wenn man aus ihnen schließt, daß das wesentliche Kennzeichen des Komischen bisher der Auffassung entschlüpft ist (Freud 1969: 248).

Auf der Basis der dargestellten Überlegungen wird im folgenden ein hypothetisches Grundlagenmodell des Komischen skizziert. Dabei kann zunächst auf sekundäre Unterscheidungen, wie der zwischen hoher und niederer Komik oder der zwischen spontan-lebensweltlicher oder ästhetisch-artifizieller Komik, verzichtet werden.


2

Der Funktionsmechanismus des Komischen beruht auf einer transgressiven Grundstruktur, die nicht unmittelbar in Erscheinung tritt, sondern sich in sehr verschiedenen Formen an der Oberfläche zeigt. Diese Sichtweise erlaubt es, die vielfältigen Erscheinungen des Komischen als unterschiedliche Realisierungen einer dynamischen Grundstruktur zu deuten.

Alle Grenzen, die menschliches Tun im weitesten Sinne strukturieren, können im Falle des Komischen überschritten werden. Dazu gehören Verhaltensnormen, Normen des Sprachgebrauchs, Regeln logischer Operationen, ästhetische Regeln, religiöse und profane Wertsetzungen, Sinn- und Realitätsdeutungen, Naturgesetze. Diese sich im Laufe der Geschichte verändernden Setzungen lassen sich nicht nur als Indikatoren gesellschaftlicher Veränderungen heranziehen, wie in Norbert Elias' Prozeß der Zivilisation, sondern ihr Wandel erklärt auch - legt man das Modell der Grenzüberschreitung zugrunde - Veränderungen des Komischen.




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Allerdings ist das Komische durch das genannte Grundmodell noch nicht vollständig erklärt: Es ist nötig, die dem Komischen zugrundeliegende Grenzüberschreitung von anderen Transgressionsphänomenen zu unterscheiden, wie man sie etwa in der Avantgardekunst, im Falle der Kriminalität und auch im Kontext wissenschaftlicher Forschung antrifft. Im Unterschied zu diesen Phänomenen ist das Komische frei von drohenden Sanktionen.

In der Freiheit von Sanktionsdrohungen liegt die zweite Bedingung des Komischen: Es handelt sich um eine vor Sanktionen gesicherte, d.h. quasi entschärfte Grenzüberschreitung, die sich als harmlos auffassen läßt. Das Komische scheint den Gegenstand in eine Spielsphäre zu versetzen, in der normalerweise geltende Sanktionen gehemmt sind, da das Spiel, wie Johan Huizinga bemerkt, "eine eigene zeitweilig geltende Welt" (Huizinga 1956: 23) erzeugt: "In der Sphäre des Spiels haben die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung" (ebd.:20).

Jede Transgression unterliegt zunächst der Sanktionsdrohung, so steht die Verletzung von Rechtsnormen unter Strafandrohung. Das Komische stellt insofern eine Ausnahme dar, als es von der Sanktionsdrohung verschont bleibt und somit Grenzüberschreitungen ohne das Risiko von Sanktionen - spielerisch - ermöglicht. Dieser Aspekt des Spielerischen impliziert, daß die dem Komischen möglichen Verstöße gegen Grenzziehungen als nur scheinbare Verstöße gedeutet werden können. Die Grenzen werden prinzipiell nicht verletzt, sondern harmlos umspielt.

Die fundamentale Harmlosigkeit des Komischen erklärt die paradoxe Wirkungsweise des Komischen: Sie setzt das Risiko herab, das von Sanktionen drohen könnte und schützt damit den Grenzübertritt.5 Andererseits stellt es die Harmlosigkeit der Überschreitung für die jeweilige Grenze sicher und schützt damit die angegriffene Festlegung. Auf diese Weise werden Grenzen überschreitbar, die normalerweise unangreifbar sind.6 Werden normalerweise unüberschreitbare Grenzen ü berschritten, so verändert sich die Sicht auf die Dinge. Die Gegenstände, die in den Zugriff des Komischen fallen, verändern sich: Sehr ernste Dinge, wie Tod und Bedrohung, können auf diese Weise als harmlos verarbeitet werden. Daher fallen - selbst wenn Ritter von Grenzen des Lachens und damit des Komischen spricht - auch scheinbar absolut geltende Grenzen in den Zugriff der komischen Operation. Es muß dabei immer nur deutlich signalisiert werden, daß es sich um eine harmlose Transgression handelt. Das ist etwa im Fall von schwarzem Humor von fundamentaler Bedeutung.

Das Grundmodell ist durch zwei Prinzipien bestimmt, die sich wechselseitig bedingen und beschränken. Es kann sicherlich noch verfeinert werden, allerdings erlaubt es, was im folgenden noch genauer ausgeführt wird, individuelle Deutungen von Geschehen wie auch die Funktionen des Komischen im gesellschaftlichen Kontext zu erklären sowie die Tatsache, daß das Komische je nach Epoche unterschiedliche Gestalt annehmen kann. Das Grundmodell erklärt schließlich, weshalb das Komische in der konkreten Erscheinung durchaus unterschiedlich gedeutet werden kann und weshalb es so verschiedene, divergierende Ansätze gibt.




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Was ein solcher Kernbegriff des Komischen leistet, kann auf zwei Punkte gebracht werden: 1. Er stellt einen in dieser Weise noch nicht explizit gemachten gemeinsamen Nenner für die bisherigen, sehr divergenten Ansätze dar und sichert damit deren Vergleichbarkeit und gegenseitige Anschließbarkeit. 2. Er könnte den Grund legen für einen allgemeinen Komikbegriff, der nicht mehr auf wenige Anwendungsgebiete beschränkt ist. Das Komische kann als eine dem Menschen grundsätzlich offenstehende Möglichkeit beschrieben werden, Geltungen aller Art ohne Risiko momentan außer Kraft zu setzen und damit sanktionierte Positionen zu verlassen und tabuierte oder verdrängte Positionen harmlos einzunehmen. Durch diese Operation können - ganz im Sinne Ritters - ausgegrenzte Bereiche des Lebens (wieder) hereingeholt und akzeptierte Positionen hinterfragt werden.


3

Die Implikationen dieses Erklärungsmodells des Komischen werden im folgenden eingehend diskutiert, im Vorgriff auf diese Diskussion soll nur auf einen spezifischen Gewinn dieser Sichtweise des Komischen hingewiesen werden. Die Beschreibung des Komischen als spielerischer Erkundungsgang an den Grenzen des Handelns und Denkens erlaubt es, eine Aussage über seine Funktionen zu treffen: Es ermöglicht die Sichtung und Kontrolle des Bestandes an Normen, die unsere Handlungswelt strukturieren, und damit, obsolete Festlegungen aufzuspüren und auszusondern, ohne daß eine schmerzhafte Sanktion zu befürchten wäre.

Dieses Erklärungsmodell stellt nicht nur eine Synthese bisher divergierender Ansätze der Komiktheorie dar, sondern ist darüber hinaus an theoretische Modelle von Nachbardisziplinen wie etwa denen der Soziologie anschließbar. Der Gewinn dieses Modells liegt in dem besonderen Erklärungspotential, das ein handliches und anwendbares Grundmodell zur Verfügung stellt, dessen Grundstruktur verschiedene Oberflächenphänomene zu erklären vermag. Es erklärt beispielsweise die historische Veränderlichkeit des Komischen und regionale Verschiedenartigkeit. Über dieses Modell lassen sich auf andere verwandte Phänomene (Nonsens, Parodie, Witz, Humor,...) genauer klären. Es ermöglicht - wie schon angedeutet wurde - die Rekonstruktion der Mentalitäten zu verschiedenen geschichtlichen Momenten oder an verschiedenen Orten.

Das Komische läßt sich als transgressiver Mechanismus beschreiben, der Sanktionierungen abweist oder zumindest abdämpft und der an den verschiedensten Geltungsansprüchen und Setzungen operieren kann. Die Transgression von Festlegungen aller Art führt aus dem Geltungsbereich des Ernsts in denjenigen des Unernsts.7 Legt man diese Sichtweise zugrunde, so lassen sich die Vielfalt, die Wandelbarkeit und die Vieldeutigkeit des Komischen konsequent erklären: Die Vielfalt der Ausprägungen des Komischen kann darauf zurückgeführt werden, daß die Tiefenstruktur des Komischen prinzipiell unbegrenzt viele Realisierungen an der Oberfläche zuläßt. Das Komische lebt von und mit Bezug auf Regeln, die bündelweise den Handlungsraum strukturieren und von denen jede einzeln unterminiert werden kann: angefangen von sprachlichen, über Verhaltens- bis hin zu speziellen Regeln der ästhetischen Produktion und des Denkens. Daher kann angenommen werden, daß es so viele Erscheinungsformen des Komischen gibt wie verletzbare Grenzen. Diese Vermutung bestätigt sich angesichts der unerschöpflichen Vielfalt komischer Ausdrucksformen.




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Das vorgestellte Modell vermag zu erklären, weshalb sich das Komische fortwährend verändert.8 So wie sich gesellschaftliche Normen im Laufe der Geschichte weiterentwickeln,9 so wandelt sich das Komische, das Festlegungen aller Art auf den Prüfstand stellt und Normen variationsreich umspielt.

Viele Formen des Komischen unterliegen der Vergänglichkeit. Witze altern bekanntlich schnell. Bestimmte Verfahren des Komischen zeigen allerdings auch eine besondere Resistenz. Es gibt allerdings keinen Hinweis darauf, daß es überzeitliche Formen des Komischen gibt. Es handelt sich vermutlich um Wandlungsvorgänge der longue durée, die wie die kurzlebigeren Formen der Komik Veränderungen unterworfen sind, allerdings in größeren Zeiträumen. Die Veränderlichkeit des Komischen läßt sich nicht nur an der Vielzahl von epochenspezifischen Formen des Komischen ablesen, sondern auch an der Vielzahl unterschiedlicher Theorien, die immer wieder andere Aspekte des Komischen ins Zentrum stellen.

Die Tatsache, daß sich das Komische kontinuierlich verändert, könnte erklären, warum es bislang keine gesicherte, widerspruchsfreie Theorie des Komischen gibt. Es scheint so zu sein, daß sich sowohl die vielfältigen Erscheinungsformen wie auch die verschiedenen theoretischen Ansätze aus der jeweiligen zeitgenössischen Konkretisierung der Tiefenstruktur erklären lassen, die an veränderlichen Normen, Werten und Verboten operiert. Die dem Komischen inhärente Viel- oder Doppeldeutigkeit läßt sich als Konsequenz dieser transgressiven Tiefenstruktur fassen. So kommt es zu dem ambivalenten Charakter des Komischen, das sowohl Ordnungen in Frage stellen, wie auch gegen Infragestellungen absichern kann.

Das Komische ist zwar grundsätzlich harmlos, es kann aber eine nicht zu unterschätzende subversive Wirkung haben. Es bricht verfestigte Grenzlinien auf und kann damit auch als eine Öffnung zu Neuem interpretiert werden. Es sorgt allerdings durch die kurzfristige Entspannung von Zwängen auch für deren Beständigkeit, da die Zwänge nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden.

Eine virulente subversive Komik stellt für jede Festlegung eine Gefahr dar; sie kann allerdings auch völlig harmlos sein, da die Subversion im Modus des Komischen geäußert wird. Sie kann für eine momentane Entspannung sorgen, die das Festgelegte nicht wirklich angreift. So changiert die Wirkung des Komischen zwischen Stabilisierung und Subversion, schafft als Ventil vorübergehend Freiheit vom Regelzwang und arbeitet möglicherweise gleichzeitig an langfristiger Veränderung. Das Komische wirkt damit sowohl subversiv wie auch affirmativ stabilisierend.

Diese grundlegende Ambiguität ist exemplarisch beim komischen Theater zu beobachten. In der Commedia dell'arte zeigt sich, daß die manifeste Infragestellung von einer latenten Stabilisierung getragen wird:

Tout se passe comme si le théâtre avait ici pour fonction de simuler une victoire sur la censure morale, sur la contrainte psychologique, sur la répression sociale [...]. La ruse triomphante d'Arlequin ne détruit pas l'obstacle et ne modifie en rien le rapport des forces institué (Abirached 1974: 225).

Hier zeigt sich die Doppeldeutigkeit des Komischen: Die Zensur durch Moral, psychologische Zwänge und gesellschaftliche Triebunterdrückung wird scheinbar besiegt. Doch der Sieg erweist sich als Simulation, als schöner Schein. Harlekin beläßt in seinem Triumph alles beim alten.




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Die Stabilisierung des Bestehenden ist allerdings nicht zwangsläufig von Dauer: Die demonstrierte Unterwanderung von Geltungen kann Spätfolgen haben, die auf Veränderung hindeuten. Selbst wenn der Grenzverstoß stark abgedämpft ist und harmlos erscheint, so ist doch eine weitere Wirksamkeit auf der Ebene des beispielgebenden Handelns nicht auszuschließen.

Dem handlungsfähigen Diener kommt in einem als untauglich erkannten, obsoleten Wertsystem ein besonderer Bildwert zu: "une image positive de la société, ou plus exactement l'image d'une société à établir et à définir" (Abirached 1974: 228). Die komische Figur wird zum Repräsentanten der sozialen Utopie. Im so verstandenen Komischen wird nicht nur die Grenze zum Verbotenen und Unerwünschten überschritten, sondern auch die Utopie greifbar, die im sanktionsfreien Raum entworfen werden kann.

Das Komische kann als eine spielerische Transgression, ein sich vortastendes Erproben des Ausgegrenzten beschrieben werden: Ein Fuß bleibt auf dem sicheren Boden der anerkannten Normen, der andere Fuß schiebt sich vor in den Bereich des Ausgegrenzten, was nicht ohne Folgen bleibt: Betrachtet man die im Komischen enthaltene kritische Tendenz, so kann eine Langzeitwirkung der einmal erfolgten Subversion nicht ausgeschlossen werden. Die Komik trägt nun nicht mehr nur den Charakter einer scheinbaren Befreiung, der ihr zunächst anhaftet. Die nur scheinbar unernste Entgrenzung kann eine längerfristige Auflösung begrenzender Normen einleiten. Diese befreiende Wirkung im Sinne eines utopischen Entwurfs kann neben jener nur kurzfristigen bestehen, die in der 'entfesselnden' Wirkung des Lachens liegt, in der kurzzeitigen Erlösung von Fremd- und Selbstzwängen und im momentanen Außer-Kraft-Setzen der in eine bestimmte Richtung drängenden psychischen Apparatur der Hemmungen und Tabus.10

Dieses Außer-Kraft-Setzen hat wiederum zwei Seiten. Zum einen kann tatsächlich eine Aufhebung von Zwängen greifen, zum anderen wirkt die kurzzeitige Befreiung auch nur für einen Moment, nach dem man sich die Zwangsapparatur wieder auf die Schultern lädt und sich mit den Zwängen versöhnt. Die Ekstase wird zum Ventil, zur momentanen Befreiung und Flucht.

Damit erweist sich das Komische nicht als das geeignete Mittel, Veränderungen unmittelbar zu bewirken: Es begnügt sich mit dem spielerischen Durchbrechen des Bestehenden. Die mögliche Destabilisierung von Normen erfolgt in einem speziell markierten spielerischen Modus. Dadurch wird es schwer, den Angriff, den das Komische gegen diese Normen enthält, abzuwehren.11 Dinge, die mit den aktuellen herrschenden Diskursen in Widerspruch stehen, werden unter dem Schutzschild des Unernsts sagbar, so etwa das Schreckliche in Form des schwarzen Humors.

Progressive und konservative Aspekte kennzeichnen das Komische, das den status quo gesellschaftlicher Werthaltungen und Geltungsansprüche umspielt. Es steht allerdings nicht unentschieden zwischen diesen beiden Polen, sondern erprobt die Festigkeit von Grenzziehungen, ohne die Grenzen nachhaltig zu verletzen. Es kann Utopien formulieren, Gegensätze versöhnen und vor Auswüchsen warnen. Damit wirkt das Komische als Regulativ: Die konsequenzlos erscheinende Grenzüberschreitung, die die Freiheit von Sanktionen einfordert, ist eine der natürlichen Waffen des Menschen gegen absolut gesetzte Begrifflichkeit, gegen totalitäre Ansprüche, gegen Verdrängung.




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Das Komische arbeitet etwa an der Sprache, dieser ersten Totalität, die der Mensch erfährt. Im Umgang mit ihr lernt der Mensch, daß es strikt unhintergehbare Normen gibt, deren Gültigkeit außer Frage steht. Die Sprachkomik kann als Spiel gedeutet werden, in dem absolut geltende Regeln in Frage gestellt und so die Grenzen des Sprachsystems durch vielfache Überschreitungen erprobt werden können. Das Komische liegt zwischen Grenzverletzung und Grenzsicherung: Es kann auf der einen Seite auf lange Sicht eine Grenze durchaus auch verletzen. Andererseits läßt es sich als unschädlich und harmlos auffassen.

Das vorgeschlagene Erklärungsmodell des Komischen als Transgression, die ihrer möglichen Sanktion beraubt ist, bringt eine weitere Qualität dieses Phänomens in den Blick. Seine Funktion erschöpft sich nicht darin, Grenzen zu stabilisieren oder zu destabilisieren. Es sorgt dafür, daß der sich verändernde Verlauf von Grenzen im Bewußtsein bleibt. Die durch die Grenzüberschreitung demonstrierte Durchlässigkeit der Gültigkeiten mag zwar auf der einen Seite auf Dauer eine zerstörerische Wirkung in Hinblick auf die Konstitution menschlicher Ordnungskonzepte entwickeln, andererseits ist nur durch die Transgression sichergestellt, daß der Verlauf der Grenzen bewußt bleibt, was zur Stabilisierung der Grenzen beitragen kann. Diese beiden Wirkungen des Komischen beschränken sich gegenseitig und heben sich auch teilweise auf.

Damit kann das Komische als ein Instrument gedeutet werden, das auf Veränderungen von Grenzziehungen in Tun und Denken empfindlich reagiert. Um die Grenzen, die sich in dauernder Bewegung befinden (Elias 1969: 379), immer genau lokalisieren zu können, genügt es nicht, nur die erlaubten Handlungen zu vollführen, da eine mögliche Veränderung des Verlaufs dieser Grenze unbemerkt bliebe. Um über den Verlauf der Grenzen im Klaren zu bleiben, muß (gezielt) gegen sie verstoßen werden. Die Scheidelinie etwa zwischen erwünschtem und nicht akzeptablem Verhalten wird durch trial and error-Verfahren, durch tatsächliche Verstöße und darauffolgende Sanktionierung immer wieder erkundet. Da die Sanktionen bei solchen Grenzverletzungen sehr spürbar sein können, muß ein Weg gefunden werden, die Kosten solcher Verstöße gering zu halten. Das Komische stellt eine ökonomische Möglichkeit dar, den Grenzverlauf zu erkunden, da Sanktionierungen dank des Signals der Harmlosigkeit vermieden werden können und Verluste unterbleiben, die bei unabgesicherter Erkundung der aktuellen Grenzziehungen durch Sanktionierungen entstehen würden.

Die Sondierung durch das Komische hilft, in der prekären Normalität Orientierungen zu finden, indem man die Erkundung der aktuellen Grenzziehungen durch harmlose Grenzüberschreitungen betreibt. Die Komik enthüllt den arbiträren Setzungscharakter vieler Normen und vermeintlich intersubjektiv verbindlichen Weltdeutungen und ermöglicht damit die (Neu-) Orientierung innerhalb des Gegebenen. So erklärt sich die grundlegend ambivalente Wirkung der Komik wie auch das Changieren zwischen einer manchmal anpassungsfreudigen und manchmal unerbittlich Kritik übenden, einer aufklärerischen und gleichzeitig möglichen abdämpfenden Tendenz. Komik in diesem Sinne kann als Orientierungsmittel in der aktuell bestehenden Situation und als Anpassungsphänomen interpretiert werden.

Gleichzeitig wird im Zugriff des Komischen das Normwidrige thematisierbar: Durch die Darstellung des nicht Normgemäßen wird die Grenze zum Normgemäßen immer wieder sichtbar.12 Damit kann das Komische helfen, diese Grenze aufzuspüren. Es folgt nicht nur - wie ein Indikator - den Veränderungen der Grenzverläufe, sondern es vermag auch, den einzelnen mit der jeweiligen Lage einzelner Grenzen vertraut zu machen. In diesem Sinne bezeichnet das Komische eine Art des lokalisierenden und korrigierenden Umgangs mit kollektiven und individuellen Grenzziehungen.




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Das Komische würdigt das Ausgegrenzte in seiner Zugehörigkeit zum Lebensganzen, allerdings - und hier muß Ritters These wohl etwas eingeschränkt werden - auf eine Weise, die sicherstellt, daß es als Ausgegrenztes erkennbar bleibt. Insofern bestätigt es den status quo: Zwar wird das Ausgegrenzte sagbar, aber eben nur als Ausgegrenztes! So kann es dem Komischen, auch wenn es etwa mit Themenbereichen wie der Erotik oder dem Tod spielt, nicht gelingen, diese Themenkomplexe in den Bereich des Akzeptierten hereinzuholen. Die Komik benennt zwar diese Bereiche, hilft aber gleichzeitig mit, das Verdrängte im Status des Ausgegrenzten zu halten bzw. diese Bereiche um so wirkungsvoller hinter die nun sichtbaren Grenzlinien zu verbannen. Damit kann der komische Umgang mit Ausgegrenztem als ambivalente Hereinnahme des Ausgegrenzten beschrieben werden. Das Komische macht Grenzen punktuell überschreitbar, greift sie 'spielerisch' an, hebt sie aber nicht vollständig auf, sondern macht sie sichtbar und läßt ihren Verlauf erkennen. So spricht das Komische immer die Sprache seiner Zeit. Die Komik vergangener Zeiten ist als Spur damaligen Lebens lesbar:

Das Mitlachenkönnen und d.h. die Aktualisierung des komischen Gehalts ist daher nicht schon durch die Verständlichkeit des stofflichen Geschehens ermöglicht. Es ist daran gebunden, daß die Ordnung, aus der und mit der der Stoff zum Lächerlichen wird, lebensmäßig wirksam ist. Die mittelalterliche Karikatur, der Wortwitz des 16. und 17. Jahrhunderts etwa können geistesgeschichtlich ihrem sachlichen Gehalt nach noch durchaus verständlich sein. Die Motive, die in sie hineinspielen, die Zusammenhänge, die gemeint sind, können als Dokumentierungen vergangenen Lebens lesbar sein (Ritter 1940: 12).

Sollte sich diese Annahme bestätigen, so ließe sich aus den Manifestationen des Komischen eines geschichtlichen Moments die mentale Lage des Menschen zum jeweiligen Zeitpunkt rekonstruieren. Diese These ist sicherlich weiter zu untermauern, immerhin erscheint es plausibel, die Filme Chaplins oder auch das Theater Molières in diesem Sinne als Dokumente zu lesen, die Auskunft geben über Grenzverläufe, die die mentalen Grundzüge in ihrer Zeit prägen.

 

 

Bibliographie

 

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Anmerkungen:


1 Im November 1995 fand an der FU-Berlin ein Kolloquium zum Thema "Frauen und Komik" statt, und eine gemeinsame Forschergruppe der FU und der HU-Berlin arbeitet an einer "Literaturgeschichte des Lachens im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit". Auch in der Geschichtswissenschaft wird dieses Thema immer wieder diskutiert, wie jüngst etwa von Jacques Le Goff, Laurence Moulinier und Antoine Becque in Annales 52e année, no. 3 (Mai/Juni 1997): 449 ff.

2 Derselbe Einwand trifft übrigens auch auf die Behauptung zu, bestimmte rhetorische Mittel, wie etwa die Wiederholung, seien typisch für das Komische. Komik entsteht nicht allein durch Wiederholung, sondern durch die Wiederholung von latent Komischem. Die Wiederholung kann ganz und gar unkomisch sein, wenn der Situationskontext ein repetitives Tun erfordert. Daher entfaltet eine Wiederholung selbst keine komische Wirkung, sondern verstärkt sie. (Vgl. Emelina 1991: 108, 115).

3 Zur Kritik an Bergson vgl. Werner 1991.




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4 Allerdings kann das Komische diese Identität nicht umfassend herstellen, dem Spiel des Komischen sind seinerseits Grenzen gesetzt: "[...] es [ist] nur dann möglich [...], wenn das Entgegenstehende als zugehörig zum Dasein begriffen werden kann, und d.h., wenn es noch positiv in das Dasein einfügbar ist" (Ritter 1940: 15). Um diese Einschränkung genauer zu fassen, führt Ritter hier den Begriff der Dispositionsbreite ein: "Diese Dispositionsbreite hat ihre Grenzen dort, wo die positive Aufnahme des Entgegenstehenden ihr Ende hat" (Ritter 1940: 15). Das Komische ist damit nicht als universales Prinzip der Positivierung von Negativem zu deuten, sondern es erscheint auf den Bereich des noch integrierbaren Negativen begrenzt, der Verstöße umfaßt, die auf irgend eine Weise noch heilbar sind, und der an den Bereich des absolut Negativen grenzt. Innerhalb dieser Dispositionsbreite vermag das Komische, die "geheime Zugehörigkeit des Nichtigen zum Dasein" (Ritter 1940: 10) sichtbar zu machen. An dieser Stelle kann eingewandt werden, daß Ritter das Komische nun doch wieder einem normativen Begriff unterordnet, dem des "positiv Einfügbaren", und das wohl im Widerspruch zu dem Versuch, das Komische jenseits der als zu eng empfundenen rationalistischen Deutungen zum umfassenden Phänomen zu erklären, das das Ausgegrenzte als zum Lebensganzen zugehörig erweist (vgl. Ritter 1940: 6). Auch wenn nun doch nicht alles Ausgegrenzte positivierbar ist, widerlegt dieser kritische Einwand nicht die grundsätzliche Bedeutung dieses Ansatzes.

5 Die "Enthebbarkeit" und "Folgenlosigkeit", auf die Stierle das Komische gründet, beruhen teilweise auch auf der "Distanz" eines Beobachters (Stierle 1976: 251). Diese Distanz kann als eine Konsequenz der hier zugrunde gelegten Harmlosigkeit gedeutet werden.

6 Man könnte einwenden, daß sich nicht ausnahmslos alle Grenzziehungen für eine komische Grenzüberschreitung eignen. Es gibt einige Ausnahmesituationen (Militärparade, Begräbnis und Gottesdienst), in denen ein regelrechtes Lachverbot besteht. Cicero nennt weitere Bereiche, die nicht komisch verarbeitet werden können: das Hochrangige, das Elend, sowie die außergewöhnliche Schlechtigkeit. Cicero, de or. 2. 58 (237). Ritter weist darauf hin, daß "es in der seelischen Verfassung des Daseins bestimmte Grenzen [gibt], jenseits derer nicht mehr gelacht wird und gelacht werden kann" (Ritter 1940: 4, 15).

7 In den zentralen Punkten konvergiert dieser Ansatz mit den Überlegungen Jean Emelinas, der das Komische auf drei Grundbestimmungen, "distance, anomalie, effets abolis" zurückführt (Emelina 1991: 69). Der dem Komischen zugrundeliegende "désordre sans conséquences" (ebd.: 53) kann unmittelbar übersetzt werden in sanktionsfreie Grenzüberschreitung: Komisch wird eine Anomalie, die aus emotionaler Distanz betrachtet wird und die folgenlos bleibt. "La condition nécessaire et suffisante du comique est une position de distance par rapport à tout phénomène considéré comme anormal et par rapport à ses conséquences eventuelles" (ebd.: 81). Gegenüber Emelina werden hier jedoch die Aspekte Transgression, die das Komische über die Normen hinaus generell an Geltungen und Festlegungen koppelt, und Risikovermeidung in den Mittelpunkt gerückt. Der Aspekt der Distanz ergibt sich aus der daraus folgenden Unbetroffenheit für den Rezipienten des Komischen.

8 Daß das Komische einem geschichtlichen Wandel ausgesetzt ist, ist schon oft bemerkt worden: "Was eine Gesellschaft komisch findet, worüber sie lacht, das wechselt im Lauf der Geschichte, weil es zum Wandel des Normbewußtseins gehört" (Plessner 1950: 117).

9 Norbert Elias beschreibt im Prozeß der Zivilisation die diachronische Veränderung von Norm- und Schamgrenzen (vgl. Elias 1969).

10 Die befreiende Wirkung beschreibt Vischer im Zusammenhang mit dem naiv Komischen und der Posse: "Der Hanswurst bei Seiltänzergesellschaften [...] ergötzt das Publikum besonders durch diese Gattung des Komischen, zu diesem Publikum gehören wir aber alle, denn es meine nur niemand, daß er dem Eindruck des naiv Komischen ganz entwachsen sei, vielmehr erhoffe, dies nicht zu sein. In dieser sinnlich heiteren, klar einleuchtenden Darstellung einer absoluten Zweckwidrigkeit [im Rahmen des naiv Komischen] liegt eine Befreiung von dem Ernste geistiger Zwecke, die als eine sehr reine, menschlich gesunde Erholung zu betrachten ist" (Vischer 1967: 185).

11 Man denke etwa an die Rolle des Hofnarren, der zeitweise als wichtiges Korrektiv im königlichen Rat fungierte.

12 "[Es] wird die Grenze der Vernunft bewußt, durch die das Ausfallende zum Ausfallenden wird" (Ritter 1940: 20).