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Jörg Türschmann (Mannheim)



Christine Mielke (2006): Zyklisch-serielle Narration. Erzähltes Erzählen von 1001 Nacht bis zur TV-Serie. Berlin/New York: Walter de Gruyter. (= spectrum Literaturwissenschaft: Komparatistische Studien, 6)



Die Erzähltheorie hat in den 1970er Jahren einen Aufschwung erfahren, der auf die Arbeiten von Gérard Genette zurückgeht. Seine Studien verlagerten das Interesse an literarischen Erzählungen vom Erzählten zum Erzählen und fügten sich gut in den linguistic turn der historisch-philologischen Wissenschaften des vorangegangenen Jahrzehnts. Bis heute haben vor allem Genettes Figures ihre unangefochtene Stellung als theoriegeschichtliche Referenz bewahrt,1 wenn es darum geht, einmal schnell daran zu erinnern, dass auch das Wie des Erzählens eine Betrachtung wert ist. Daher erstaunt es, in der Bibliographie der umfangreichen germanistischen Dissertation von Christine Mielke zur "zyklisch-seriellen Narration" keinen einzigen Eintrag zu Genettes Publikationen zu finden. Der theoretische Ansatz von Mielkes Untersuchung ist allerdings auch nicht strukturalistisch, sondern kulturwissenschaftlich oder historisch-anthropologisch zu nennen.

Die Autorin beschäftigt sich mit Rahmenerzählungen als historischen Vorläufern von Serienformaten in den audiovisuellen Medien. Diese Perspektive erklärt den Begriff der zyklisch-seriellen Narration. Darunter fallen die "Serie oder Serialität vor allem als Struktur inhaltlich (intern) verbundener Folgen einer Reihe" sowie "beim Zyklus die einzelnen Teile [als] selbständige, abgeschlossene Werke, die nur übergeordnet (extern) verbunden sind" (45–46). In der Serie sind also die Folgen unmittelbar voneinander abhängig, im Zyklus nur vermittels einer übergeordneten Rahmung. Die Serie ist "nicht zu einem Ganzen kausal-logisch gefügt [...], sondern die lineare Bewegung der Reihe, die ein endloses Erzählen suggeriert"; beim Zyklus gibt es dagegen eine "thematische[n] Einheit" mit der "Rückkehr zum Ausgangspunkt", eine "Kreisform" (47). Für die historische Perspektive nun ist das Verhältnis zwischen "Rahmung" und Binnenerzählungen ausschlaggebend. "Serie" und "Zyklus" bilden vor diesem Hintergrund keine komplementäre Antonymie, wonach ausschließlich das eine oder andere vorläge, sondern sind die Extrempunkte eines Kontinuums, in dem die historischen Formen anzusiedeln sind. Mielkes besonderer Ansatzpunkt besteht darin, dass nicht nur beim Zyklus, sondern auch bei der Serie "die Rahmung immer [Hervorhebung CM] zyklisch" ist (47).




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Dieser Ausgangspunkt bildet wahrscheinlich den interessantesten Aspekt, aber auch die größte Herausforderung für die Theoriebildung. Denn auf diese Weise werden die Grenzen zwischen Text, Ko-Text und Kontext sehr fließend definiert. Die "externen" Verbindungen, die den Zyklus von der Serie unterscheiden, stellen mit Blick auf das reale Publikum einer Fernsehserie und die fiktiven Erzähler und Zuhörer einer literarischen Rahmenhandlung, mit deren Hilfe selbstständige kurze Erzählungen verbunden sind, keinen Gegensatz dar. Denn wie in den Rahmenerzählungen von 1001 Nacht oder im Dekameron versammelt sich auch bei der Fernserie ein Publikum regelmäßig für eine "zyklische Rezeption" (48). 'Externität', wenn man so sagen darf, meint also einmal allgemein die Beziehung zwischen einem Publikum und einer Folge von Erzählungen, das andere Mal ein textinternes, "auf die kausal-logische Vortragsstruktur des Erzählten" (47) zu beziehendes Unterscheidungsmerkmal des Zyklus. Die "fiktive Rahmung" bzw. die "doppelte Rezeptionssituation von fiktivem und realem Publikum" des Zyklus (47) und das ausschließlich reale Publikum der Serie stellen also keinen Gegensatz dar, wenn es darum geht, den Zusammenhang einer historischen Entwicklung zu begründen, sind aber dann relevante Unterscheidungskriterien, wenn die historische Entwicklung unter dem Gesichtspunkt textinterner Externität beim Zyklus und deren Fehlen bei der Serie typologisch gegliedert werden soll.

Externität ist auf theoretischer Ebene also sowohl Grundlage historischer Verklammerung als auch typologischer Unterscheidung. Wer noch Realität und Fiktion für trennbar hält, wird diese begriffliche Doppelfunktion kritisieren. Wer die Fiktion – oder mit Baudrillard in einem weiteren Sinn das "Simulakrum" – als Teil oder gar als die Wirklichkeit selbst begreift, wird sich hier bestätigt finden. Über diese spannende Frage schweigt sich die Autorin leider, aber vielleicht auch klugerweise aus. Sie konstatiert vielmehr aus einer anthropologischen Perspektive, dass das zyklisch-serielle Erzählen eine therapeutische Funktion in Krisensituationen haben kann. Und weil zyklisch-serielle Narration häufig aus Erzählungen besteht, die sich an ein breites Publikum richten, vermeidet Mielke zugleich eine ideologiekritische oder kulturelitäre Diskriminierung ihres Untersuchungsgegenstandes. Hinter der 'spannenden Frage' steckt allerdings ein grundlegendes komplexes referenztheoretisches Problem, das sich vermutlich mit Niklas Luhmanns Systemtheorie oder mit den Überlegungen zu Paradox und Wiederholung von Douglas R. Hofstadter beschreiben ließe (vgl. Hofstadter 1995), jedoch etwa von historischen Materialisten im Gefolge des Marxismus als bürgerlich-idealistisches Scheinproblem kritisiert werden würde. Historisch gesehen ist allerdings für die zyklisch-serielle Narration das 19. Jahrhundert wichtig. So befasst sich Mielke in Teil II ihrer Arbeit ausführlich mit deutscher Literatur aus dieser Zeit, die sich selbstverständlich aus ihrer theoretisch im späten 20. Jahrhundert verankerten Sicht und ihrer impliziten Bevorzugung des Paradoxes ganz anders darstellt als aus der Sicht zeitgenössischer sozialrevolutionärer Kämpfer unter dem Eindruck der Industriellen Revolution (vgl. Türschmann 2006). Entscheidend ist vor allem, dass Mielke die erste romantisch geprägte Hälfte des 19. Jahrhunderts behandelt und die zweite Hälfte mit der Entstehung der littérature industrielle nur kurz anreißt (vgl. Sainte-Beuve 1839).




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Die Darlegung der historischen Entwicklung der zyklisch-seriellen Narration erfolgt vor dem Hintergrund der These, dass das Erzählen einen besonderer Umgang mit der Angst vor dem Tod darstellt. In Teil I werden hiefür Hannelore Schlaffer, Volker Klotz, Klaus Kanzog, Andreas Jäggi, Konrad Peter Grossmann, Wulf Segebrecht, Christiaan L. Hart Nibbrig und Thomas Macho zitiert, um den Zusammenhang zwischen zyklisch-serieller Narration, Novellistik, Semiotisierung des Todes und Bewältigung von Todesangst zu erläutern (9–39). Die wichtigste Funktion des Erzählens in einer Erzählrunde, die sich angesichts einer Gefahr versammelt, ist "der indirekte Bezug zur Krisensituation" (35). So ist es möglich, Ängste zu artikulieren, ohne von ihnen überwältigt zu werden, Auswege gedanklich durchzuspielen und gesellschaftliche Utopien zu formulieren. In Teil I werden dann vor allem nach einer Darlegung der orientalischen mündlichen Erzähltradition und ihrer Verschriftlichung in 1001 Nacht Beispiele aus den romanischen Literaturen angeführt, darunter Giovanni di Boccaccios Dekameron (1349–53), Marguerite de Navarres Heptameron (1540–49) und Giambattista Basiles Pentameron (1634–37). Hier werden einzelne Werke ganz unterschiedlich bewertet, vor allem hinsichtlich der Beziehung der Geschlechter zueinander und der herausragenden Stellung der weiblichen Figuren als Initiatorinnen des Erzählens bzw. als fiktive Erzählerinnen der Binnenerzählungen.

Die eigentliche historische Typologisierung des "erzählten Erzählens" erfolgt in Teil II am Beispiel der deutschen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nach einer Darlegung des Einflusses der romanischen auf die deutsche Literatur unter dem Eindruck der Romantik werden "Krisenhafte Narration", "Programmatische Narration" und "Narration als Krise" unterschieden. In allen Fällen weist die Literatur hier eine textinterne Rahmung auf. Es handelt sich um so genannte "Rahmenzyklen" (172) mit der Besonderheit, dass die Rahmung häufig einen hochliterarischen Status beansprucht, während mit der "fingierten Mündlichkeit" (172) der Binnenerzählung ein breites Publikum angesprochen werden sollte (174). Die krisenhafte Narration knüpft nahtlos an die romanische Tradition als ein "Erzählen gegen die Krise" (202) an. In der programmatischen Narration dagegen wird das Erzählen "als eine von vielen möglichen Unterhaltungsformen gewählt oder mit einer spielerischen oder artifiziellen Programmatik versehen als Selbstzweck ausgeübt" (203). Bei der Narration als Krise geht es um das "Vergnügen" an "Schauergeschichten", also um die erzählerisch gewünschte Krise. Der Unterschied zwischen der ersten und der dritten Form besteht in einer Loslösung vom starren Schema der romanischen Erzählsammlungen und dem Aufkommen von Serialität, dem Bezug auf die seinerzeit jüngere Literaturgeschichte zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowie einer "Konventionalisierung der Gesprächssituation" (204) hin zu Subgattungen der Schauerliteratur. Um nur jeweils eines der vielen behandelten Werke jeder Gruppe zu nennen: Ausgehend von Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) über Ludwig Tiecks Der Wassermensch (1835) bis hin zu Tiecks Klausenburg (1837), die schon eine "serielle Struktur der Fortsetzungsgeschichte" (389) aufweist, werden alle drei Typen ausführlich untersucht. Die Analysen sind reich an Details sowie genauen Beobachtungen und erlauben dem Leser, eine Literatur kennen zu lernen, die trotz der illustren Namen ihrer Autoren für viele wahrscheinlich nicht in der ersten Reihe des Kanons steht.




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Teil III wird mit einem Kapitel eingeleitet, das eine Scharnierfunktion besitzt (466–491). Dies zeigt schon der Titel "1900–2000: Vom Feuilletonroman zur Endlosserie". Hier werden in rascher Folge die Zeitungsliteratur (468–476), das Kino (476–481) und der Hörfunk (481–491) abgehandelt, um dann im zweiten Kapitel von Teil III die Fernsehserie ausführlich zu untersuchen. Dieses argumentative Scharnier müsste eigentlich den medienhistorischen Wechsel von der Schriftliteratur zum Erzählen in den AV-Medien entfalten. Es geht um den Übergang von einem Speichermedium wie dem Buch, das dem Rezipienten eine Erzählung dauerhaft zur Verfügung stellt, zur Flüchtigkeit der Erzählungen in den Aufführungsmedien Radio, Film und Fernsehen, die dem Rezipienten im Extremfall nur einen momentanen Zugang zu einer Erzählung gestatten und damit materiell das einlösen, was bis dahin nur die orale Literatur gestattete. Fingierte Mündlichkeit ist "distanzsprachlich" in der Schrift gebunden, Nähesprachlichkeit dagegen ein Phänomen, das sich zwar nicht nur im code phonique umsetzen lässt, aber doch eben eine besonders hohe Affinität zu ihm besitzt,2 vor allem wenn zu beobachten ist, dass alle "Massenmedien" zu einer Nähesprachlichkeit streben (vgl. Lebsanft 2001: 298). Hier nivelliert Mielke zu sehr wesentliche Unterschiede. Beispielsweise schreibt sie zur Entwicklung der Zeitungsliteratur: "Die Unterscheidung von Zeitschriften- und Zeitungsabdruck wird in der Forschung zwar als relevant erachtet und daraus die Differenz des allgemeinen Fortsetzungsromans und des speziellen, täglich erscheinenden Feuilletonromans abgeleitet [Hervorhebungen CM]; für die zyklisch-serielle Narration ist diese Differenz jedoch nur insofern von Bedeutung, als damit eine medientechnologische Beschleunigung markiert wird, die für die Narrationsstruktur der seriellen Segmentierung keine wesentlichen Änderungen, sondern ganz die Tradition des segmentierten-kataphorischen Erzählens der orientalischen Berufserzähler fortführte" (471–472). Mielke erkennt also die enge Beziehung zum mündlichen Erzählen an, hält sie aber für vernachlässigenswert. In diesem Fall schlägt sich der weite Externitätsbegriff negativ nieder. So stellt Mielke fest, dass die Rezeption von Serienfolgen an deren regelmäßigen Ausstrahlungstermin gebunden sei. Aber: "Bei den zyklischen Druckwerken ist die reale Rezeption nur zufällig, nicht jedoch steuerbar zyklisch. Wann jemand ein Buch zur Hand nimmt oder die Lektüre beendet, bleibt der Person individuell überlassen [...]" (48–49). Später erkennt sie dann nämlich die Relevanz dieser unterschiedlichen Zugangsmodi für die Erzählstruktur am Beispiel von 1001 Nacht an, deren "Verschachtelungen [...] eine Anpassung an die Modalitäten der Schriftlektüre darstellen, da beim Lesen eines Buches nicht mit einer regelmäßigen Rezeption gerechnet werden kann. Der Rahmen dient so dem Memorieren des Erzählanlasses und stellt eine Vorstufe der Fiktion zur Hinführung an die Binnenerzählung dar" (548). Dies ist allerdings ein erheblicher Befund, der auf die unterschiedliche Darbietungsform einer Erzählung zurückgeht. So ist der Zeitungsroman in der Tagespresse ein weitaus flüchtigeres Phänomen als der Buch- oder Zeitschriftenroman und erlaubt sich erzähllogische Inkonsistenzen von bis dahin ungekanntem Ausmaß. Diese Veränderung in der Schriftliteratur weist also den Weg hin zur Fernsehserie, deren Folgen zwar aufgezeichnet werden können, die aber aufgrund des zum Teil gewaltigen Umfangs von Serien und ständig neu entstehender Folgen gar keine Lebenszeit für eine synoptische Analyse lassen, da sie den Lebensrhythmus des Rezipienten immer neu strukturieren.




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Das einleitende Scharnier des Teils III greift bis auf das 18. Jahrhundert aus, um den Feuilletonroman im Sinne des täglich erscheinenden Zeitungsromans zu berücksichtigen und erweitert damit erheblich den Fokus über die Vorgaben "1900–2000" des Kapiteltitels. Letztlich tut Mielke das Phänomen aber in einer Fußnote ab, wo sie zwar anerkennt, dass es sich um ein Phänomen handelt, "dessen Entstehungszusammenhänge und Erscheinungsweisen hochkomplex und vielschichtig zu nennen sind", aber dann weiter schreibt, dass die Geschichte "im vorliegenden Untersuchungszusammenhang nur eine untergeordnete Rolle spielt" (468). Hierdurch werden Eugène Sues Mystères des Paris (1842/43) allenfalls als Ideengeber für Karl von Gutzkows Die Ritter im Geiste 1850/51 genannt (473), aber dennoch als "Produkte des in Deutschland in der 1840er Jahren meistgelesenen Autors" bezeichnet (475). Der weitreichende publizistische Erfolg von Sues Feuilletonroman in aller Welt von Lateinamerika bis nach Russland hinein in die Anfänge des Kinozeitalters und der US-amerikanischen Filmproduktion der 1910er Jahre mit ihren serials wie den Mystères de New York bleiben unerwähnt. So verwundert es nicht, auch nichts über den ersten deutschen Feuilletonroman zu erfahren. In der Epoche des Jungen Deutschlands veröffentlicht 1848 und 1849 Georg Weerth seine Sozialkritik in Form des ersten deutschen Feuilletonromans mit dem Titel Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphanski in der von Karl Marx herausgegebenen Neuen Rheinischen Zeitung. Insofern also die Literatur im Spannungsfeld von Kommerzialisierung und Politisierung steht, was auch auf Sues Mystères des Paris zutrifft, die von den Zeitgenossen teilweise als Sozialutopie und als Revolutionsanleitung gelesen, gelobt und kritisiert wurden, schlägt sich Mielke auf die Seite kanonisierter Autoren zur Zeit der Romantik und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auch wenn sie hier weniger bekannte Werke behandelt. Dies ist allerdings eine aufschlussreiche Auslassung, insofern der weite Externitätsbegriff nicht in seiner politischen Dimension behandelt werden muss, indem eben dieser Begriff stillschweigend doch eher in seiner postmodernen Fassung zugrunde gelegt wird.




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Mielke sieht für die deutsche Entwicklung im Jahr 1850 eine Zäsur in Form eines "Kommerzialisierungsschubs", wie es auch zu anderen Jahresdaten öfters heißt, die im Wegfall des staatlichen Werbemonopols besteht. Dieses Datum wird mit der Entwicklung bis zum Aufkommen des deutschen Privatfernsehens zu Beginn der 1980er Jahre in einen Zusammenhang gestellt (474–475). Damit einher geht der Beginn des schnelleren täglichen Publikationsrhythmus von Romanliteratur und dem "Verschwinden der Erzählfigur" im Rahmen mit der Konsequenz: "[...] die Polyperspektivik und die Stoff- und Motivfülle der Rahmenzyklen wurde mit verkürzteren Erscheinungsfrequenzen in ein dichtes, mehrsträngiges, aber lineares und monoperspektivisches [Hervorhebung JT] Erzählen transformiert" (483). Später zitiert sie dann mit Blick auf die Fernsehserie Udo Göttlich und Jörg-Uwe Nieland mit den Worten: "Die Mehrzahl der Handlungen beruht auf der Spannung der Gegensätzlichkeit und der Divergenz der Rollen. Dabei ist eine Vielperspektivität [Hervorhebung JT] in das Werk hineingelegt" (548). Solche Widersprüche ergeben sich aus dem Umstand, dass die historische Entwicklung nicht so linear verlaufen ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Vor allem die narrativen Muster sind vielfältiger, als es Mielkes historische Zusammenschau glauben machen will. So ist beispielsweise das Auftreten der Katapher bzw. des Cliffhangers, also der Abbruch eines Kapitels bzw. einer Folge an ihrem Spannungshöhepunkt kurz vor der Auflösung als Mittel der Rezipientenbindung, die Mielke immer wieder als Merkmal des zyklisch-seriellen Erzählens ohne Rahmenhandlung nennt, kein verbindliches Kennzeichen ab 1850. Dies zeigt die zugegeben nicht von ihr betrachtete Entwicklung außerhalb Deutschlands, etwa in Frankreich: Sues Mystères de Paris bestehen nämlich noch aus narrativ geschlossenen Folgen. Dagegen ist die Katapher nach 1863 bei Ponson du Terrail höchst komplex und virtuos auf den Ebenen der Mikro- und Makrostruktur vertreten und lässt sich genau typologisieren (vgl. Walter 1986). Die Kino-Serials, die auch Mielke behandelt, also die Filmserien im Kino der 1910er und 1920er Jahre, sind im Fall der französischen Vampires nicht durch den Cliffhanger geprägt.3 Die französische Fernsehserie ist ebenfalls ein Phänomen, das sich nicht einfach als Folgen mit Cliffhanger begreifen lässt wie eine jüngere, sehr differenzierte Typologie belegt (vgl. Benassi 2000).




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Ähnlich komplex dürfte sich bei näherer Betrachtung aber auch die deutsche Entwicklung in narratologischer Hinsicht erweisen. Doch wendet sich die Autorin hier der Dichotomie von Höhenkamm- und Populärkultur zu und zeigt mit gewichtigen Referenzen wie der Fernsehgeschichte von Knut Hickethier, dass sich durch den Bildungsanspruch der deutschen Radioverantwortlichen mit klingenden Namen wie Adolf Grimme auch im Fernsehen die Soap Opera erst auf dem Umweg über die Ausstrahlung der US-Serie Dallas in Serien GZSZ nach deutscher Eigenart etablieren konnte. In einem anderen Punkt erfährt die Untersuchung noch eine weitere Akzentverschiebung: Das Erzählen gegen die Krise, also die eingangs erwähnte "Vortragsstruktur" wird als "Todesmotiv" (595–654) besprochen und als Ersatz einer "Sepulkralkultur" (649) verstanden, die in der Gegenwart ihr Gewicht verloren hat und sich in den Chats und Fanseiten des Internets artikuliert (vgl. Packard 2004). Dies ist eine sehr interessante Perspektive auf die Serie und ihre textinterne Rahmenlosigkeit, woraus Mielke auch noch andere wichtige Eigenarten herausarbeitet wie die Dialoglastigkeit, weil die Serienfiguren auch für den Zuschauer zum Verständnis an vergangenes Geschehen erinnern müssen, also Rahmenerzähler und Akteure in einem sind, oder der Cliffhanger in Form des freeze frame, des Standbilds, woran Mielke im Sinne des Cliffhangers als "kataphorisches memento mori" die Diskussion über die Beziehung zwischen Tod und Fotographie durch Roland Barthes, Joachim Paech und Lucia Santaella anknüpft (643). Nur sind eben nicht alle diese Merkmale ausschließlich kennzeichnend für die jüngste Entwicklung. Denn schon Alexandre Dumas wusste durch ein kurzes kontaktstiftendes "mmmh!" in Dialogen Zeilen zu schinden, um sein Autorenhonorar, das nach der Anzahl der Zeilen gezahlt wurde, zu erhöhen.

Die Stärke des Bandes besteht in der Berücksichtigung von vielfältiger Fachliteratur und den genauen Analysen einzelner Texte und Serien. Insofern ist dem theoretischen Ansatz der Rahmenanalyse zu verdanken, dass er es erlaubt, eine Reihe von Untersuchungen an einem einzigen Ort zu versammeln, die in dieser Zahl und in diesem Umfang einzigartig sind. Und es muss auch in Rechnung gestellt werden, dass diese 'Archäologie des seriellen Erzählens' eine wirkliche Pionierarbeit ist. Sie wird sicherlich für lange Zeit ein Referenzwerk sein. Denn sie zeigt vielleicht gerade wegen der Inkompatibilitäten einzelner Aussagen zueinander die Komplexität des Phänomens auf. Viele mögliche weitere Forschungsbereiche werden behandelt, ohne dass sie aufgrund der Menge an Material durchgängig in den Mittelpunkt gestellt werden könnten, so der Hinweis auf die Beziehung zwischen Barock, Romantik und zyklisch-serieller Narration (652) oder die Rolle weiblicher Erzählfiguren und weiblicher Leserschaft von den romanischen Prototypen bis zur Soap Opera. Zu ergänzen wären auch die Rolle der Großstadt, die von den Mystères de Paris bis zu den Streets of San Francisco sogar namensgebend sind oder die Frage nach der Definition von Identität und Wiederholung einer Erzählung, von offener und geschlossener dramatischer Form, die Stellung des Autors und die Nähe zur seriellen Produktion von Konsumgütern, alles Aspekte, die beispielsweise in der italienischen Medientheorie behandelt worden sind (vgl. Casetti 1984). Daher bleibt auch die Frage, inwiefern ein solcher Gegenstand in einer einzigen Nationalphilologie abgehandelt werden kann, die Mielke aber bereits selbst durch ihren Versuch beantwortet, Forschungsergebnisse außerhalb der Germanistik zu berücksichtigen.




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Der eigentliche Text ist mit 670 Seiten sehr umfangreich. Wer sich vornimmt, das Buch in einem Zug von vorn bis hinten durchzulesen, wird auf viele Wiederholungen stoßen. Sie sind auch dem Versuch geschuldet, den Zwischenstand der jeweiligen Arbeitsergebnisse an die Vorgaben des Erzählens gegen die Krise und die frühen Formen der zyklisch-seriellen Narration zurückzubinden. Diese Wiederholungen sind kein Nachteil, geben sie dem Leser doch die Möglichkeit, sich den Teilen, die ihn besonders interessieren, direkt zuzuwenden, ohne sich von Anfang an einarbeiten zu müssen. Deshalb ist es umso unverständlicher, warum diese umfangreiche Studie nicht über die 'externe Rahmung' eines Sach- und Namensregisters verfügt, die außerdem wichtige grundsätzliche Überlegungen, die keineswegs nur in den Eingangskapiteln oder den Resümees zu finden sind, leichter zugänglich gemacht und noch mehr Anreiz zum Querlesen gegeben hätte. Denn dieses Interesse haben die vielen spannenden Beobachtungen wirklich verdient.

 

Bibliographie

Benassi, Stéphane (2000): Séries et feuilletons T.V.: Pour une typologie des fictions télévisuelles. Lüttich: CEFAL.

Casetti, Francesco (Hg.) (1984): L'immagine al plurale: Serialità e ripetizione nel cinema e nella televisione. Venedig: Marsilio.

Förster, Annette (1999): "Schwärmerei für ein Schatten: Musidora und das Nachleben von Irma Vep", in: montage/av 8.2, 51–76.

Genette, Gérard (1972): Figures: Essais. Bd. 3. Paris: Ed. du Seuil.

Hofstadter, Douglas R. (1995): Gödel, Escher, Bach: Ein Endloses Geflochtenes Band. Stuttgart: Klett-Cotta.

Koch, Peter / Oesterreicher, Wulf (1985): "Sprache der Nähe – Sprache der Distanz: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte", in: Romanistisches Jahrbuch 36, 16–43.




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Lebsanft, Franz (2001): "Sprache und Massenkommunikation", in: Holtus, Günter / Metzeltin, Michael / Schmitt, Christian (Hg.): Lexikon der Romanistischen Linguistik. Bd. I,2. Tübingen: Niemeyer, 292–304.

Packard, Stephen (2004): "Homerische Intentionen: Notizen über Continuity in populären Serien", in: Scheffer, Bernd / Jahraus, Oliver (Hg.): Wie im Film: Zur Analyse populärer Medienereignisse. Bielefeld: Aisthesis, 165–199.

Pfister, Manfred (1977): Das Drama. München: Fink.

Sainte-Beuve, Charles-Augustin de (1839): "De la littérature industrielle", in: La Revue des Deux Mondes XIX (4ième série), 675–691.

Türschmann, Jörg (2006): "Der Fall der Mystères de Paris: Literatur- und Sozialkritik als Moraldiskussion in der politischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts", in: Ertler, Klaus-Dieter / Himmelsbach, Siegbert (Hg.): Pensées – Pensieri – Pensamientos: Dargestellte Gedankenwelten in den Literaturen der Romania. Festschrift für Werner Helmich zum 65. Geburtstag. Wien: LIT, 377–394.

Walter, Klaus Peter (1986): Die 'Rocambole'-Romane von Ponson du Terrail: Studien zur Geschichte des französischen Feuilletonromans. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang.


Anmerkungen

1 Vgl. insbesondere Genette (1972); auch der bekannte Band von Manfred Pfister (1977) zum Drama bleibt ausgespart.

2 Mielke bezieht sich für den Aspekt der Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit auf Peter Koch und Wulf Oesterreicher. Vgl. dazu auch Koch / Oesterreicher (1985).

3 Vgl. zum Einfluss von Les Vampires Förster (1999). Dort wird allerdings kein Hinweis auf den Abschluss der Episoden gegeben. Dagegen könnte das Auftreten einer weiblichen Hauptfigur in die Tradition zyklisch-serieller Narration und ihrer Heldinnen, die auch Mielke mehrfach erwähnt, gestellt werden.