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Katja Hettich (Bochum)



Gustave Flauberts Madame Bovary und das Erbe der Romantik



Gustave Flaubert's Madame Bovary and the Heritage of Romanticism
Gustave Flaubert is considered as one of the chief writers of French Realism, and his most famous novel Madame Bovary (1857 / 2002) is often regarded as a caustic pay-off to romantic literature as written by Chateaubriand and Lamartine. Yet his relationship with romantic ideas that marked not only his youth as a reader but also his first own works (not published until his death) often appears ambiguous. This article aims to reveal Flaubert's love-hate attitude to Romanticism by analyzing intertextual references to romantic texts and topics in Madame Bovary. Although the author's polyphonic narration brutally undermines his protagonist Emma's naive subjectivism and her self-stylization as a romantic heroine, some passages still hover between parody and pastiche. In this regard the novel can't be read as a simple spoof of romanticism from the perspective of a former romantic poet who came to reason, but rather as bitterly pointing out the impropriety of romantic ideals in the reality of a world determined by ennui and human insufficiency.



1 Einleitung

"Je suis un vieux romantique enragé ou encroûté", schrieb Gustave Flaubert noch nach der Veröffentlichung der Madame Bovary im Jahre 1857 an den befreundeten Literaturkritiker Sainte-Beuve.1 Indes sehen viele in seinem berühmtesten Werk gerade die "Liquidation der Romantik" (Friedrich 1939: 119) verwirklicht.

Das Verhältnis des Autors zur Literatur der Romantik, deren Lektüre seine eigenen Jugendjahre geprägt hat, ist widersprüchlich. Flaubert gilt mit seinen Hauptwerken neben Balzac und Stendhal zwar als Meister des realistischen Romans in Frankreich. Allerdings war nicht nur seine Jugend als Leser beeinflusst von der Leidenschaft für romantische Autoren wie Hugo, Chateaubriand, Musset und Lamartine (vgl. Peyre 1979: 240f.), über den er jedoch 1853 in einem Brief an Louise Collet schreiben wird: "C'est un esprit eunuque, la couille lui manque, il n'a jamais pissé que de l'eau claire."2 Auch seine eigenen (bezeichnenderweise erst posthum veröffentlichten) frühen Werke Les Mémoires d'un fou (1838) und Novembre (1842) weisen ihn selbst noch als Erben jener "egozentrischen, weltschmerzhaften, lyrisch-pathetischen und exaltierten Bekenntnisdichtung" (Heitmann 1979: 89) aus, die er später ablehnt. Madame Bovary sollte der erste Roman sein, den Flaubert noch zu Lebzeiten 1856 zur Veröffentlichung freigibt. Das Werk spiegelt im komplexen Umgang mit dem Erbe der Romantik die Hassliebe des Autors zur Literatur seiner Jugend wider.

In diesem Aufsatz sollen intertextuelle Bezüge und der Einsatz romantischer Topoi in Madame Bovary aufgezeigt werden. Vor allem gilt es zu untersuchen, inwieweit sich anhand der narrativen Gestaltung dieses Materials Flauberts Positionierung gegenüber der Romantik manifestiert. Ihr zentraler Bezugspunkt ist die Protagonistin, die nicht nur romantische Lektüren verschlingt, sondern das Gelesene auch auf ihr Leben zu übertragen versucht. Inwieweit kann sie als 'romantische Heldin' bezeichnet werden? Flaubert legt dieses literarische Modell in seiner Hauptfigur an, zieht seine Tauglichkeit jedoch vor dem Hintergrund des realistischen Romans zugleich in Zweifel. Insofern ließe sich die These aufstellen, dass Emma Bovary in ihrer Ambivalenz zum Symbol für Flauberts Haltung gegenüber dem literarischen Erbe der Romantik wird.




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2 Intertextualität in Madame Bovary

2.1 Die Bezugstexte: Emmas Lektüren (Kapitel I.6.)

Der intertextuelle Bezug von Madame Bovary zur romantischen Literatur wird bereits in Kapitel I.6. explizit angezeigt, indem viele Autoren und Titel teils direkt genannt werden. In ihrer ersten Enttäuschung nach der Vermählung mit Charles denkt Emma wehmütig an die Lektüren ihrer Kindheit und Jugend im Kloster zurück: Paul et Virginie von Bernardin de Saint-Pierre, religiöse Schriften wie die Conférences des Denis de Frayssinous oder das Génie du christianisme von Chateaubriand, triviale Liebes- und Ritterromane, Historienromane aus der Feder Walter Scotts und historische Frauenporträts wie die Jeanne d'Arcs und Maria Stuarts. Sie schwärmt auch für die gefühlvollen Geschichten der Liebeslieder im Musikunterricht, keepsakes, deren Stiche amouröse Szenen in höfischem Milieu zeigen, und Abenteuererzählungen auf exotischem Terrain. Nach dem Tod ihrer Mutter liest sie sentimentale Gedichte Lamartines (vgl. MB: 46–51).

Das Kapitel liefert den Schlüssel für die Psychologie und das Verhalten Emmas; das weitere Romangeschehen vollzieht sich für den Leser vor dem Hintergrund dieser – literarischen – Persönlichkeitsbildung der jungen Klosterschülerin. Unfähig, Distanz zur Fiktion zu halten, saugt die unreflektierte Leserin hohe wie triviale Literatur identifikatorisch in sich auf mit nur einem Ziel: ihr Bedürfnis nach "émotions" (MB: 48) zu befriedigen. Fernab vom Vorbild realer Lebensentwürfe wird das Gelesene zur Norm für das eigene Glück; auch noch als erwachsene Frau wird Emma die in den Romanen ihrer Jugend präsentierten Konzepte von Leben und Liebe als Schablone an ihr eigenes Dasein anlegen.

Darüber hinaus dient das Kapitel als Referenzstelle, vor deren Hintergrund im weiteren Verlauf einige Anspielungen auf besagte Lesestoffe erst als solche erkennbar werden. Auch das Register, das für die Präsentation der Bezugsliteratur in Kapitel I.6. angeschlagen wird, ist für die Lesart der romantischen Verweise im gesamten Roman maßgebend. Ironie funktioniert, indem der Sprecher (in diesem Fall der Erzähler) sich mit dem Hörer (dem Leser) gegen die Objektperson (Emma) solidarisiert, ihm seine wahre Position klarmacht (vgl. Warning 1999: 155). Auch in Madame Bovary können viele Ironiesignale erst in dem Vorwissen um die grundsätzliche Haltung des Erzählers gegenüber Emmas romantischen Lektüren identifiziert werden. Diese ist keineswegs so unparteiisch, wie man es in Anbetracht der angeblichen Neutralität der Flaubertschen Erzählinstanz glauben könnte. Bereits Emmas Erinnerungen an ihre Lesegewohnheiten im Kloster selbst gibt die narrative Gestaltung eine stark ironische Note. Der Text zieht vor allem jene Art romantischer Schwärmerei, wie sie die diversen nicht genau bestimmten Romane um "amours, amants, amantes" (MB: 48) evozieren, ins Lächerliche:

[...] dames persécutées s'évanouissant dans des pavillons solitaires, postillons qu'on tue à tous les relais, chevaux qu'on crève à toutes les pages, forêts sombres, troubles de coeur, serments, sanglots, larmes et baisers, nacelles au clair de lune, rossignols dans les bouquets, messieurs braves comme des lions, doux comme des agneaux, vertueux comme on ne l'est pas, toujours bien mis, et qui pleurent comme des urnes. (MB: 48)




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Die zitierte Textstelle wird zwar eingeleitet als erlebte Rede Emmas, die sich an die Beschafferin dieser Lektüren erinnert, eine veramte Adlige, die "vous apprenait des nouvelles, faisait en ville vos commissions". In der narrativen Ausgestaltung dieser Erinnerungen schwingt jedoch die Erzählerironie mit. Der parodistische Effekt entsteht durch die plakative Auflistung typischer Klischees trivialer Mantel-und-Degen-Romane. Die auf ein paar Zeilen geraffte Zusammenfassung von Emmas sechsmonatiger Romanlektüre isoliert einzelne Themen und Motive aus ihrem Kontext und reduziert das Genre auf wenige, besonders charakteristische Textmerkmale: Akteure sind schwache Frauen und tapfere, doch sensible Helden. Thematische Ingredienzien sind Herzenswirren, Schmerz und Tugendhaftigkeit, ummantelt von adretter Kleidung. Die Beschreibung wird zusätzlich durch Hyperbeln ("braves comme des lions", "doux comme des agneaux") übersteigert, und die Pluralsetzung aller aufgeführten Elemente führt gerade die implizierte Einzigartigkeit der geschilderten Schicksale ad absurdum.

Das hohe Maß der Ablehnung dieser Art von Literatur und auch der klösterlichen Erziehung macht Flaubert in diesem Kapitel nicht nur durch parodistische Verzerrung deutlich. Gleich mehrfach bricht die sonst zumindest den objektiven Schein wahrende Erzählerstimme hier unverhohlen aus ihrer impassibilité aus, indem sie zum Beispiel wertend berichtet, dass "Emma se graissa donc les mains à cette poussière des vieux cabinets de lecture" (MB: 48). Noch klarer offenbart sich die Erzählermeinung, wenn es um die romances im Musikunterricht geht. Die Feststellung deren "niaiserie du style" und der "imprudences de la note" entspringen eindeutig nicht der erlebten Rede Emmas, sondern sind eine Bemerkung von der höheren Warte des Erzählers aus.

Als gängige Spielart romantischer Literatur wird auch der Reiseroman angeführt, der die Bildwelten ferner Länder, mit Vorliebe die eines poetisierten Orients (wie z.B. in Lamartines Voyage en Orient), heraufbeschwört (vgl. Peyre 1979: 139ff.).

Et vous y étiez aussi, sultans à longues pipes, pâmés sous des tonnelles, aux bras des bayadères, djiaours, sabres turcs, bonnets grecs, et vous surtout, paysages blafards des contrées dithyrambiques, qui souvent nous montrez à la fois des palmiers, des sapins, des tigres à droite, un lion à gauche, des minarets tartares à l'horizon, au premier plan des ruines romaines, puis des chameaux accroupis ; – le tout encadré d'une forêt vierge bien nettoyée, et avec un grand rayon de soleil perpendiculaire tremblotant dans l'eau, où se détachent en écorchures blanches, sur un fond d'acier gris, de loin en loin, des cygnes qui nagent. (MB: 50)

Die Beschreibung evoziert, verdichtet in ein einziges groteskes Szenario, die exotische Ikonografie der bei den Romantikern beliebten Orientromane, die sich in Emmas Erinnerung auf bizarre Weise mit romantischer Natursymbolik ("forêt vierge", "cygnes") vermischt. Immer deutlicher tritt hier die Erzählerstimme hervor, was nicht nur durch die direkte Anrede ("Et vous y étiez aussi, sultans [...]") erkennbar wird, sondern auch durch eine Lexik, die nicht der Emmas entspricht ("contrées dithyrambiques"). Der Erzähler reichert den Rückblick auf Emmas Lektüren zunehmend mit ironischen Brüchen an und betont die Künstlichkeit und Flachheit der Szenerie, die beinahe wie ein Bühnenbild oder ein Gemälde beschrieben ist ("à droite", "à gauche", "au premier plan", "encadré de").




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Kapitel I.6. ironisiert nicht nur die zitierte Literatur (hauptsächlich romantische Trivialromane), sondern vor allem ihre naive Rezeption durch Emma. Indem der Erzähler deren Perspektive damit erstmals klar in Frage stellt und sich mit dem Leser quasi gegen die Protagonistin verschwört, zieht er die Zuverlässigkeit der Hauptfigur in Zweifel und nimmt sie dem Leser als sichere Identifikationsfigur.


2.2 Vom romantischem Subjektivismus zur modernen Erzählperspektive

Es ist Flauberts den subjektiven Blickwinkel relativierende unpersönliche Erzählinstanz, die den ironisch-distanzierten Umgang mit dem Dargestellten und vor allem mit den Figuren überhaupt erst ermöglicht. Gleichzeitig impliziert die Abkehr von jenen Erzählkonventionen, welche Flauberts eigene Jugendwerke noch geprägt hatten, schon an sich die kritische Sicht auf eine bestimmte Art romantischer Literatur und ihre Rezeption. Mit Madame Bovary vollzieht Flauberts Erzählweise endgültig den Bruch mit einer der Romantik eigenen Melancholie als "sich absolut setzende[n] Subjektivität" (Warning 1991: 304) der bereits in Novembre seinen Anfang genommen hat: Nach der Trennung des Ich-Erzählers von der Geliebten übernimmt ein Bekannter des Protagonisten dessen Erzählung. Damit nähert sich der Autor erstmalig der berühmten personalen Erzählsituation an, die in Madame Bovary seinen Umgang mit romantischen Ideen und Topoi kennzeichnet: Während er der romantischen Thematik (Sehnsucht nach Liebe und Streben nach Höherem) treu bleibt, verschiebt sich jedoch der Blickwinkel vom romantischen Subjekt zu einem personalen Medium, und das ehemals absolute Ich wird analysierter Gegenstand der Erzählung. Flauberts Geniestreich der "Rücknahme des Erzählers in eine ironische Subjektivität verbunden mit einer ironischen Reduktion des erzählten Sujets" (Warning 1999: 160) geht einher mit dem subtilen Wechsel von Innen- zu Außenperspektive und umgekehrt.

Als sprechendes Beispiel für diese Art polyphonen Erzählens kann die Tischszene beim Ball von Vaubyessard herangezogen werden, in der der greise Schwiegervater des Gastgebers beim Essen beschrieben wird: "courbé sur son assiette remplie, et la serviette nouée dans le dos comme un enfant, un vieillard mangeait, laissant tomber de sa bouche des gouttes de sauce. Il avait les yeux éraillés [...]" (MB: 60). Diese Beobachtungen entpuppen sich als die der objektiven Erzählinstanz und scheinen von Emma gänzlich unbemerkt zu bleiben. Sie fügt den alten Mann ungeachtet seiner offensichtlichen Senilität in das romaneske Bild eines ausschweifenden Adeligenleben ein: "Il avait mené une vie bruyante de débauches, pleine de duels, de paris [!], de femmes enlevées, avait dévoré sa fortune et effrayé toute sa famille." (ebd.). Der Leser nimmt die Situation abwechselnd aus der unpersönlichen Erzählperspektive und in der internen Fokalisierung Emmas wahr. Dieser kontrastive Perspektivwechsel veranschaulicht Emmas Ignoranz gegenüber allem, was nicht in ihren romantisch gefilterten Blick auf die Welt passt und ist beispielhaft für die bissige Komik Flauberts gegenüber den distanzlosen Romantisierungsansätzen seiner Protagonistin:

[...] sans cesse les yeux d'Emma revenaient d'eux-mêmes sur ce vieil homme à lèvres pendantes, comme sur quelque chose d'extraordinaire et d'auguste. Il avait vécu à la Cour et couché dans le lit des reines! (ebd.).




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2.3 Parodie und Pastiche

Die Untersuchung der Flaubertschen Erzählperspektive anhand des Kapitels I.6. hat gezeigt, welche Art von romantischen Stoffen Flaubert als Bezugstexte nimmt und wie er sich von deren Inhalten distanziert. Im weiteren Romanverlauf imitiert und variiert der Autor immer wieder die Sprache, die Bildwelt und einzelne Symbole der angesprochenen romantischen Literatur. Dabei setzt er seine Anleihen an die Romantik in unterschiedlicher Weise ein. Meist lässt er sie von seinen Figuren aufgreifen, wobei hier zu unterscheiden ist zwischen der von romantischen Vorstellungen geprägten Innenperspektive Emmas und dem zielgerichteten Einsatz romantischer Versatzstücke durch die Figuren im Dialog.


2.3.1 Romantik in der Innenperspektive Emmas

Ein besonders markantes Beispiel für eine verzerrende Imitation in der Innenperspektive Emmas ist ihr Wachtraum von der geplanten Flucht mit Rodolphe:

Souvent, du haut d'une montagne, ils apercevaient tout à coup quelque cité splendide avec des dômes, des ponts, des navires, des forêts de citronniers et des cathédrales de marbre blanc, dont les clochers aigus portaient des nids de cigogne. [...] par terre des bouquets de fleurs que vous offraient des femmes habillées en corset rouge. On entendait sonner des cloches, hennir les mulets, avec le murmure des guitares et le bruit des fontaines, dont la vapeur s'envolant rafraîchissait des tas de fruits, disposés en pyramide au pied des statues pâles, qui souriaient sous les jets d'eau. (MB: 205f.)

Es handelt sich hierbei um eine ostentative Überzeichnung der zuvor in Emmas Erinnerung vorgeführten Liebes- und Abenteuerromane. Behandelt wird das romantische Reisemotiv (vgl. Peyre 1979: 141ff.), die Flucht "vers un pays nouveau" (MB: 205), in eine fremde, Glück verheißende Welt. Der komische Effekt entsteht wie bereits in I.6. durch qualitative Übertreibung typischer Elemente (mehrfache Potenzierung des Zitronenbaums als Symbol für Exotik und Lebensfreude: "forêts de citronniers"; ebenso gedoppelter Plural bei "dômes"3 und "cathédrales"). Neben der optischen Reizüberflutung beherrscht das Bild auch eine akustische mit Glockenläuten, Eselsgeschrei, Gitarrenklängen und Wasserplätschern. Vor dem geistigen Auge des Lesers entsteht eine grotesk überladene Szenerie, die im krassen Gegensatz zum realistischen Ton des Erzählrahmens steht.

Anders als in Kapitel I.6., dessen Komik vor allem auf die reale Bezugsliteratur abzielte, visiert Flauberts Sarkasmus hier in erster Linie die Einfalt seiner Protagonistin an. Emma ergeht sich in völlig an ihren realen Möglichkeiten vorbeigehenden Träumereien. Dabei übernimmt sie nicht nur ohnehin schon platte Klischees, sondern vereinfacht die romantische Romanwelt noch weiter zu einer Art persönlichem Schlaraffenland, in dem ihr zu ihren Füßen Frauen in roten Korsetts Blumensträuße entgegenstrecken.




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[...] ils arrivaient, un soir, dans un village de pêcheurs, où des filets bruns séchaient au vent, le long de la falaise et des cabanes. [...] ils habiteraient une maison basse, à toit plat, ombragée d'un palmier, au fond d'un golfe, au bord de la mer. Ils se promèneraient en gondole, ils se balanceraient en hamac ; et leur existence serait facile et large comme leurs vêtements de soie, toute chaude et étoilée comme les nuits douces qu'ils contemplaient. (MB: 206)

Der Traum zeigt als Kernpunkt von Emmas romantischem Sehnen den simplen Wunsch nach einer von Alltagssorgen unbeschwerten Zukunft mit einem Geliebten. Ihre willkürliche Literaturrezeption, in der sie sich nur jene Inhalte der Romantik herauspickt, die zur "consommation immédiate de son coeur" (MB: 48) beitragen, äußert sich auch in ihrer Fantasie: Das widersprüchliche Nebeneinander von Naturromantik einerseits ("village de pêcheurs", "cabanes") und luxuriösem Leben andererseits ("vêtements de soie") zeigt Emmas flache Konzeption von romantischem Sein (siehe 3.2).

Die Anlehnung an romantische Literatur in Emmas Perspektive hat also für sie die Funktion, sich selbst durch Annäherung an ihre Vorbilder zu erhöhen. Für den Leser trägt diese Innenschau zum einen zur Charakterisierung Emmas bei, zum anderen als Parodie zu seiner Unterhaltung und zur Kritik an der unreflektierten Rezeptionsweise einer bestimmten Literatur.


2.3.2 Der romantische Diskurs bei Léon und Rodolphe

Im Gegensatz zu Emmas romantisch geprägter subjektiver Innenperspektive, die, wenn auch naiv, so doch authentisch ist, steht eine zweite Variante der Imitation: In der Kommunikation Emmas mit ihren beiden 'romantischen' Liebhabern erfolgt die Reproduktion romantischer Ideen bewusst und zielgerichtet, sie dient der Stimulation einer Seelenverwandtschaft (im Falle Léons) beziehungsweise als persuasives Verführungsmedium (bei Rodolphe).

Schon die erste Begegnung zwischen Emma und Léon ironisiert systematisch romantische Klischeevorstellungen (MB: 93ff.). Das erste Mal ist von Léon in der Fokalisierung Emmas die Rede als "un jeune homme à chevelure blonde", der die neue Dorfbewohnerin nach ihrer Ankunft in Yonville still betrachtet. Die geheimnisvolle Präsenz der zunächst namenlosen Figur wird gleich im nächsten Absatz mit ihrer Situierung im banalen Alltag von Yonville durch die objektive Erzählinstanz unterlaufen: Der junge Mann ist ein Notargehilfe mit dem gewöhnlichen Namen Léon Dupuis; er langweilt sich in dem kleinen Ort und pflegt als Stammgast nach seiner "besogne" im Wirtshaus Lion d'or Suppe und Käse zu essen.




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Während der Apotheker Homais den neuen Dorfarzt über den medizinischen Alltag in der Gegend informiert, dreht sich die Konversation zwischen Emma und Léon um romantisches Sehnen, um den Überdruss am Alltag und Fernweh, um Natur, Musik, Literatur. Dabei scheinen die Äußerungen Léons zunächst ganz im Geist der Romantik, sie gleiten jedoch sukzessiv in die triviale Realität ab (vgl. Breut 1994: 56ff.). Léons pseudoromantischer Diskurs täuscht nur oberflächlich über seine eigene sehr bourgeoise Mittelmäßigkeit hinweg.

Von Anfang an sucht sich Léon vom pragmatischen Gespräch der beiden anderen Männer abzuheben und so ein stilles Einvernehmen, Intimität zwischen sich und der jungen Frau zu schaffen. Zunächst stimmt er Emma in ihrer Vorliebe "à changer de place" (MB: 93) zu. Die umgehende Einschränkung "quand on le peut" verrät indes die reale sowie gedankliche Begrenzung Léons innerhalb seiner alltäglichen Pflichten. Auf Emmas Frage, ob es in Yonville "au moins des promenades" gebe, weist er auf "un endroit que l'on nomme la Pâture" hin, wo er sonntags manchmal mit einem Buch den Sonnenuntergang betrachte. Wiederum zeigt sich Léons vorgeblich romantisches Denken in den Alltagsumständen beschränkt und der romantische Zufluchtsort – eine Futterstelle für das Vieh – trivialisiert.

Übrigens wird auch Emmas Phrasieren als hohl entlarvt. Sie springt sogleich auf das von Léon gelieferte Schlagwort des Sonnenuntergangs als dem romantischen Stereotyp schlechthin an und doppelt es noch durch einen weiteren; sie schwärme für Sonnenuntergänge "au bord de la mer, surtout". Die Tatsache, dass sie niemals tatsächlich an der Küste war, stellt auch Emmas Rede über "cette étendue sans limites, dont la contemplation vous élève l'âme et donne des idées d'infini, d'idéal" als bloße Reproduktion von Gelesenem bloß. Léon weist auf das gleiche Phänomen in Berglandschaften hin. Und wieder relativiert er die träumerische Idee eines vagen Naturspektakels, indem er seine Aussage an den konkreten Erzählungen eines Cousins "qui a voyagé en Suisse l'année dernière" (MB: 95), vermutlich während seines Jahresurlaubs, festmacht. Es folgt eine Anhäufung von romantisch besetzten Symbolen: ("poésie des lacs, le charme des cascades, l'effet gigantesque des glaciers [...] précipices"), und Léon sinniert in geradezu pantheistischer Manier über die Wirkung dieses Naturschauspiels: "enthousiasmer, disposer à la prière, à l'extase". Dann jedoch schweift er wieder in utilitaristisches Denken ab: Es sei nicht verwunderlich, dass ein Pianist gerne an einem solch imposanten Ort musiziere, "pour mieux exciter son imagination" (ebd.). Als er Emmas Frage, ob er denn musiziere, verneint, widerspricht Homais, er habe ihn von seinem Laboratorium aus doch schon wunderbar den Ange Gardien singen hören – ein christliches Alltagslied, das im lächerlichen Gegensatz steht zu der von Romantikern hoch gehaltenen deutschen oder italienischen Musik, welche Léon angeblich am meisten schätzt, "celle qui porte à rêver". Auch die Literatur dient ihm wie Emma als hedonistisches Konsumgut: abendlicher Zeitvertreib am Kaminfeuer, Identifikation mit den Helden, ihren Abenteuern und Leidenschaften. Besonders haben es ihm dementsprechend die Dichter angetan, denn sie machen "mieux pleurer" (MB: 97).




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Rigoroser und berechnender als Léon instrumentalisiert Emmas anderer Liebhaber Rodolphe romantische Begrifflichkeiten für seine Zwecke. Im berühmten Kapitel des Landwirtschaftsfestes denunziert Flauberts Parallelmontage die Verlogenheit sowohl der politischen Reden der comices agricoles als auch des Verführers Rodolphe (MB: 143ff.). Nachdem Rodolphe bereits bei ihrer ersten Begegnung den Plan gefasst hatte, Emma zu seiner Geliebten zu machen, ergreift er die Gelegenheit des Dorffestes, um das erste Mal mit seinem Opfer allein zu sein. Während der Regierungsrat Lieuvain in seiner Rhetorik ganz den Erwartungen seiner Zuhörer entsprechend die Tüchtigkeit und den Patriotismus der Landbevölkerung glorifiziert, bedient auch Rodolphe Klischees, über die er Emma Seelenverwandtschaft vorgaukelt. Er beschwert sich über die "médiocrité provinciale", in der sich "des âmes sans cesse tourmentées" in ihrem Streben nach "le rêve et l'action, les passions les plus pures, les jouissances les plus furieuses" verlören. Seine niedere Absicht, nämlich die Arztfrau zum Ehebruch mit ihm zu verführen, bemäntelt er durch romantische Phrasen: "Le devoir, c'est de sentir ce qui est grand, de chérir ce qui est beau, et non pas accepter toutes les conventions de la société" (MB: 155). Er spricht von seiner "tristesse", gar Todessehnsucht "à la vue d'un cimetière au clair de lune" (MB: 150), schwärmt von Hingabe und Gefühlstiefe, "les passions [...] la source de l'héroïsme, de l'enthousiasme, de la poésie, de la musique, des arts" − und trifft so mit wenigen Schlagwörtern genau den romantischen Nerv Emmas.

Rodolphes Liebesvortrag ist ebenso überlegt und auf seine Wirkung hin choreographiert wie die Rede Lieuvains: Wie einen Dramentext unterstreichen nicht nur zahlreiche Interjektionen ("Ah!"; "Eh parbleu!"; "Eh non!" "Oh!") das Gesagte, er gestaltet seine Rolle auch darstellerisch: "Rodolphe ajouta la pantomime à sa phrase." (MB: 155). Wie Lieuvain nur vorgibt, der Natur zu huldigen, und doch lediglich ihren Nutzen im Sinn hat, so sind auch Rodolphes Ausführungen über die Liebe nur zweckgerichtet und ohne Substanz.


2.3.3 Zwischen Parodie und Pastiche

Zur parodistischen Gestaltung romantischer Themen in erlebter und in direkter Rede kommen als dritte Komponente der Imitation Textpassagen hinzu, bei denen nicht klar auszumachen ist, ob der romantische Erzählton nur aus der 'Ansteckung' der Erzählersprache durch die Figurensprache (vgl. Stanzel 1995: 248ff.) mit dem Ziel der Ironisierung resultiert oder ob es sich um ein Pastiche ohne die Intention einer komischen Wirkung handelt. Als Beispiel für eine solche ambivalente Passage führt Martin-Berthet die Szene der Kahnfahrt Emmas und Léons in Kapitel III.3. an:

Une fois, la lune parut; alors ils ne manquèrent pas à faire des phrases, trouvant l'astre mélancolique et plein de poésie; même elle se mit à chanter :
Un soir, t'en souvient-il? Nous voguions, etc. (MB: 265)

Durch die Erzählerintervention ("ils ne manquèrent pas") wird das direkte Zitat aus Le Lac, einem der berühmtesten Gedichte Lamartines im Kontext des stereotypen Verhaltens des Paares im Vorfeld ironisiert. Wenn in der anschließenden Situationsbeschreibung weiterhin Lamartinesche Wendungen aufgegriffen werden, gibt es jedoch weder Anzeichen einer internen Fokalisierung noch einer ironischen Brechung durch den Erzähler; die parodistische Nachahmung geht in ein ernsthaftes Pastiche über – eine Ambivalenz des Textes, die die zwiespältige Haltung Flauberts gegenüber der Romantik klar widerspiegelt (vgl. Martin-Berthet 1987: 589f.).




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Sa voix harmonieuse et faible se perdait sur les flots; et le vent emportait les roulades que Léon écoutait passer, comme des battements d'ailes, autour de lui. (ebd.)

Auch Lloyd konstatiert in Madame Bovary Passagen, die ohne klare parodistische Absicht den Rhythmus und die Metaphorik Chateaubriands imitieren, "passages poised on a knife-edge between rejection and pastiche d'admiration." (Lloyd 1990: 88).

Abgesehen von größeren parodistischen Passagen durchziehen den Roman auch subtilere Anspielungen, bei denen einzelne romantische Schlagwörter wieder aufgenommen und ihre Uneigentlichkeit oft nur mit Bezug auf den Lektüre-Hintergrund Emmas erkannt werden kann. Dabei handelt es sich häufig um repräsentative romantische Gemeinplätze wie Flaubert sie später in seinem Dictionnaire des idées reçues katalogisieren wird: "mer. – N'a pas de fond. Image de l'infini. Donne de grandes pensées." (Flaubert 1978: 118), "ruines. – Font rêver et donnent de la poésie à un paysage." (ebd.: 141). Es finden sich zudem weniger augenfällige Details aus Emmas spezifischer Wahrnehmung der romantischen Lektüren, die der Leser in I.6. kennen gelernt hat, wieder. Beispielsweise erinnert sich Emma an die Illustration eines keepsakes "où un lévrier sautait devant l'attelage" (MB: 50). Emma selbst wird ebenfalls eine Windhündin geschenkt bekommen, die jedoch bei der Übersiedlung der Bovarys von Tostes nach Yonville bezeichnenderweise Reißaus nimmt und nicht zurückkehrt (MB: 92).

Emmas Phantasien, die für sich genommen bereits überzeichnet wirken, karikiert Flaubert zusätzlich, indem er sie durch die Wiederaufnahme einzelner Schlagwörter mit dem realistischen Erzählzusammenhang kontrastiert. Beispielsweise heißt es in I.6., Emma "aurait voulu vivre dans quelque vieux manoir, [...] regarder venir du fond de la campagne un cavalier à plume blanche qui galope sur un cheval noir." (MB: 49). Tatsächlich war auch Charles, den Emma bei ihren ersten Begegnungen als Retter aus der Einöde des väterlichen Haushalts betrachtet hatte, auf seinem Pferd angaloppiert. Dem Leser ist jedoch durch die Beschreibung des nächtlichen Ritts zum Haus des verletzten M. Rouault bewusst, dass Charles sehr verschieden von jenem romanesken Reiter ist. Unterwegs nickt der Landarzt, "endormi par la chaleur du sommeil" (MB: 25), mehrmals ein, bevor er wenig heroisch bei den Rouaults eintrifft: "Le cheval glissait sur l'herbe mouillée" (MB: 26).

In Madame Bovary werden romantische Topoi also ständig mehr oder weniger deutlich durch ihre Einbettung in die realistische Erzählung unterminiert und Emmas Ideale auf diese Weise zynisch mit ihrer Lebensrealität konfrontiert. Diese parodistische Kontrastierung funktioniert vor allem durch die virtuose Verquickung von style indirect libre bzw. Innenperspektive, die dem Leser den subjektiven Standpunkt der Personen vermitteln, und teils sachlich-unpersönlichem, teils ironischem Erzählmodus. Die innovative Erzähltechnik macht es auch möglich, zugleich durch Innenperspektive und objektiven Erzählerblickwinkel eine differenzierte Sicht auf die Figuren zu gewinnen, die vor allem ein komplexes, weil widersprüchliches Bild der Protagonistin Emma zeigt.




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3 Emma Bovary − die Demontage der romantischen Heldin

3.1 Der bovarysme als romantisches Leiden

Wie der realistische Erzählrahmen Emmas romantische Wertvorstellungen entwertet, so demontiert er auch die Protagonistin selbst bzw. ihren Status als romantische Heldin. Zunächst lässt sich allerdings feststellen, dass Emma durchaus "eine ganze Reihe von 'Voraussetzungen' für den romantischen Heldentyp" (Dethloff 1976: 106) erfüllt.

Bereits Emmas physische Konstitution entspricht in Zügen der, wie sie sie von den romantischen Heldinnen ihrer Romane kennt ("dames [...] s'évanouissant", "existences pâles"): Rodolphe ist beeindruckt von ihrem "teint pâle" (MB: 143) und sie klagt Charles gegenüber bereits vor ihrer Vermählung über "des étourdissements" (MB: 34). Ihre Empfindsamkeit steigert sich in mehreren Phasen ihrer Ehe bis hin zu Symptomen einer Depression, so in der letzten Zeit in Tostes, bevor Charles ihrer Gesundheit zuliebe den Umzug nach Yonville beschließt (vgl. MB: I.9.). Auf Rodolphes Abschiedsbrief reagiert sie mit einem Nervenzusammenbruch, von dem sie sich monatelang nicht erholt. Schließlich setzt die verzweifelte Emma ihrem Leben wie viele romantische Helden vor ihr (z.B. Goethes Werther und Chateaubriands Atala) selbst ein Ende.

Nicht nur durch ihren tragischen Freitod nimmt Emma Bovary eine Sonderstellung innerhalb ihres Umfeldes ein (vgl. Dethloff 1976: 107). Im Gegensatz zum übrigen Personal des Romans ist sie als einzige tatsächlich von jener unstillbaren Sehnsucht nach einer "volupté plus haut" (MB: 290) erfüllt, die als sinnbildhafte Suche nach der blauen Blume als Wesensmerkmal der Romantiker gilt. Während Charles nach der Vermählung allein die Präsenz der jungen Frau und der gemeinsame Alltag im bescheidenen Heim zur "continuité de son bonheur" genügen, ist Emma beständig durchdrungen von einer "insaissisable malaise" (MB: 52). In der Mediokrität des Provinzlebens vermisst sie eben jenes "bonheur", das sie sich als Mädchen von der Ehe versprochen hatte, und sie fragt sich "ce que l'on entendait au juste dans la vie par les mots de félicité, de passion et d'ivresse, qui lui avaient paru si beaux dans les livres" (MB: 46). Emma strebt nach einer höheren, poetischeren Welt und vor allem nach dem Ideal romantischer Liebe, wie sie sie aus Romanen kennt. Der Versuch, das Vorbild ihrer Lektüren in ihrem Alltag in der normannischen province nachzuleben, ist jedoch zum Scheitern verurteilt. Emmas Weltschmerz, ihr bovarysme4, die Flucht in eine romantische Traumwelt, mit der sie "cette insuffisance de la vie, cette pourriture instantanée des choses" (MB: 290) zu überwinden versucht, entsprechen durchaus einer romantischen Konstitution.




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3.2 Emma – eine moderne Antiheldin

Obwohl ihre melancholisch-sentimentale Haltung und ihr Streben nach Höherem Emma auf den ersten Blick die Züge einer romantischen Heldin verleihen, entpuppt sich ihr romantisches Selbstverständnis bei näherer Betrachtung als fadenscheinig. Ihr Charakter offenbart Züge, die Emmas Status als romantische Heldin nicht nur in Frage stellen und sie recht gewöhnlich erscheinen lassen, sondern die Figur sogar zu einer Antiheldin degradieren. Jules de Gaultier definiert den von ihm kreierten Neologismus des 'bovarysme' als eine psychologische Schwäche, in der der Betroffene sich als etwas Höheres betrachtet, als er eigentlich ist (vgl. Breut 1994: 21). Dethloff sieht die innere Fatalität Emmas sogar gerade darin begründet, dass sie "den 'Status' der romantischen Ausnahmefigur beanspruchen will, ohne die dafür erforderlichen intellektuellen und psychischen Voraussetzungen erfüllen zu können" (Dethloff 1976: 108). Entspringt ihr Leiden an der Banalität des Lebens auch tatsächlich einer unerfüllbaren romantischen Sehnsucht, so steckt sie, wie Auerbach feststellt, doch zu tief in der von Flaubert verurteilten bêtise humaine (vgl. Auerbach 1994: 457), auch habe sie, so Heitmann, "zu wenig Format" (Heitmann 1979: 90) als dass der Leser mit ihr mitfühlen könnte wie mit romantischen Heldinnen vor Madame Bovary. Eine Einordnung Emmas als 'komische Figur' verbietet sich zwar aufgrund ihres tragischen, weil unausweichlichen Schicksals, laut Auerbach schließt ihre Geschichte aber "den Gedanken an echte Tragik" und damit an vollständiges Mitgefühl für die Protagonistin doch aus (vgl. Auerbach 1994: 457).

Schnell tritt zum Beispiel Emmas Naivität zu Tage – in der Art, wie sie sich an ihre Kindheit im Kloster erinnert, wie ihr Blickwinkel stets mit der objektiven Erzählerposition divergiert und nicht zuletzt in der Wahl ihrer Männer. Ihre Menschenkenntnis reicht nicht aus, um noch vor der Vermählung zu erkennen, dass Charles im Grunde ein einfach gestrickter Mann ist, der wenig mit den Vorstellungen von ihrem Traummann gemein hat. Völlig blauäugig glaubt sie den Liebesschwüren Rodolphes, und sie lässt sich auch von Léon, dessen eigene Mittelmäßigkeit bereits während ihrer ersten Unterhaltung klar wird, blenden. Ihre Ignoranz allem gegenüber, was nicht in ihre 'romantische' Weltsicht passt, umfasst auch eine völlig unkritische Selbsteinschätzung. Emmas Egozentrik entspricht nicht der Subjektivität des Romantikers, der sich zwar in seine innere Welt zurückzieht, jedoch zugleich an seiner Bedeutungslosigkeit leidet. Emma hingegen macht sich die eigene innere Unzulänglichkeit nicht bewusst – ein Wesenszug ihres Bovarysmus ist es ja im Gegenteil, sich in hohem Maße selbst zu überschätzen. Zudem sucht Emma ihre Selbstverwirklichung gerade nicht in der Innerlichkeit, sondern sie verspricht sie sich von anderen – von Männern – und von oberflächlichen Symbolen des materiellen Besitzes.

Ihr Leben lang bleibt Emma Konsumentin, und mit dieser Haltung gegenüber der Welt zieht sie alle hohen Ideale ins Niedrige. "Il fallait qu'elle pût retirer des choses une sorte de profit personnel; et elle rejetait comme inutile tout ce qui ne contribuait pas à la consommation immédiate de son coeur" (MB: 48). Aus der spirituellen Umgebung des Klosters, in dem sie aufwächst, zieht sie sinnliche Stimulation; "elle s'assoupit doucement à la langueur mystique qui s'exhale des parfums de l'autel, de la fraîcheur des bénitiers et du rayonnement des cierges" (MB: 47). Emma verfolgt nicht die Messe, sondern ergötzt sich an den edlen Verzierungen ihres Gebetbuches, und sie erfindet sogar kleine Sünden, um sich in der Beichte länger an ihrer eigenen Demut zu weiden – eine Demut, die keine wirkliche ist, da Disziplin eigentlich "antipathique à sa constitution" (MB: 51) ist und sie auch später als Ehebrecherin keinerlei Reue zeigt.




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Emma ist Materialistin, sie bewertet alles nach seinem utilitaristischen Wert, entscheidender Maßstab ist jedoch stets ihre persönliche Lust. "Cet esprit, positif au milieu de ses enthousiasmes, qui avait aimé l'église pour ses fleurs, la musique pour ses paroles des romances, et la littérature pour ses excitations passionnelles". Ihre Weltauffassung folgt nicht romantischer Mystik, sie ist im Gegenteil positivistisch, "incapable [...] de comprendre ce qu'elle n'éprouvait pas, comme de croire à tout ce qui ne se manifestait point par des formes convenues" (MB: 55). In Wahrheit ist das Mädchen vom Lande zu bodenständig, um in der Realität die Ideale der Romantik nachzuvollziehen, die sie in den Romanen liebt; "elle connaissait trop la campagne" (MB: 48). Michèle Breut diagnostiziert bei Emma "une forme saine mais vulgaire d'épicurisme qui l'empêche de goûter la tristesse, l'ennui et le sentiment du néant que savourent les vrais romantiques" (Breut 1994: 39). Sie 'genießt' die romantische Melancholie nicht als unauflöslichen Widerspruch von Endlichem und Unendlichem in sich selbst sondern sucht ihre Unzufriedenheit durch irdisches Glück (leidenschaftliche Liebe und Luxus) zu überwinden.

Bezeichnend für den Widerspruch zwischen romantischem Selbstbild und der Realität ist Emmas Verhältnis zur Natur, wie es in Kapitel I.7. dargestellt wird. Die wilde Natur, die wahre Romantiker in Ekstase versetzt, verspricht in Emmas Phantasie auch ihr Ausbruch aus ihrer Langeweile: "Elle n'aimait la mer qu'à cause de ses tempêtes, et la verdure seulement lorsqu'elle était clairsemée parmi les ruines." (MB: 48). Bei ihrem Spaziergang durch eine reale Landschaft, deren Beschreibung semantisch durchaus an romantisches Naturideal denken lässt ("pavillon abandonné", "roseaux à feuilles coupantes"), regt die Umgebung sie jedoch nicht zu romantischem Nachsinnen über metaphysische Probleme wie die universelle Vergänglichkeit menschlichen Lebens an. Sie ist gedanklich auf ihre eigene relativ belanglose Existenz beschränkt und kommt lediglich zu der trivialen Frage: "Pourquoi, mon Dieu, me suis-je mariée?" Als dann auch noch ein Sturm aufkommt und die salzige Meeresbrise über das Land weht – ein Ausbruch der Natur, der romantischen Helden wie denen Chateaubriands Beglückung bedeutet hätte (vgl. Breut 1994: 43) − fühlt sich Flauberts Protagonistin sogleich unwohl: "Emma serrait son châle contre ses épaules et se levait." (MB: 57) Auch das Lichterspiel der untergehenden Sonne macht ihr Angst, und sie kehrt schnellstmöglich ins Dorf zurück, "s'affaisait dans un fauteuil et de toute la soirée ne parlait pas." (MB: 57). Ihre Reaktionen machen deutlich, dass es sich bei der romantischen Beschreibung des aufkommenden Sturms nicht um die Fokalisierung Emmas, sondern um die des Erzählers handelt.

Es ist nicht nur Emmas Scheitern, das sie zur Antiheldin und eine wirkliche Identifikation mit ihr unmöglich macht. Auch Cervantes' Don Quijote scheitert zwar an der Unvereinbarkeit seiner aus Romanen entnommenen Träumen mit der Wirklichkeit, erreicht jedoch selbst noch als Musterbeispiel des literarischen Antihelden durch seinen ungebeugten Idealismus und die innere Stimmigkeit seines Selbstentwurfes einen gewissen Heldenstatus und die Sympathie des Lesers. Emmas Streben nach ihren Romanwelten wirkt hingegen narzisstisch und anmaßend. Anders als Don Quijote ist sie nicht von einer tiefen inneren Überzeugung getrieben, ihr romantisches Streben ist in gewisser Weise unehrlich und lediglich Teil der sorgsam aufgebauten Lebenslüge Emmas, von der Flaubert selbst sagt, sie sei "une nature quelque peu perverse, une femme de fausse poésie et de faux sentiments".5




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3.3 Romantik auf der Metaebene: Emma als romantische Rezipientin

3.3.1 Emmas Lebenslüge

Emma Bovary ist naturgemäß keine romantische Heldin, zumal es diese literarische Kunstfigur im Realismus nicht mehr geben kann. Stattdessen spiegelt sie die Romantik bereits auf einer Metaebene: Sie nimmt innerhalb des Romans die Position einer realen Romanleserin ein, die die romantischen Konzeptionen der Kunst ins reale Leben zu übertragen sucht.

Lisa Gerrard stellt die These auf, dass Emmas Dilemma darin bestehe, dass sie über die Disposition eines romantischen Künstlers verfüge, diese jedoch durch den typisch weiblichen Bildungsweg des 19. Jahrhunderts, von Flaubert im Roman ironisch als "belle éducation" bezeichnet, nicht ernsthaft gefördert werde. Für ihre romantischen Visionen finde Emma also kein anderes Ventil als ihr eigenes Leben – "she makes herself a work of art." (Gerrard 1982: 22). Ob Emmas tatsächliche intellektuelle und künstlerische Kapazitäten nur durch ihre Erziehung verkümmert sind, mag mit Hinblick auf ihre eben demonstrierten charakterlichen Defizite dahingestellt bleiben. Fest steht aber, dass Emmas Bovarysmus tatsächlich mit der Kreation ihres eigenen Ichs als totaler Kunstfigur einhergeht, auf deren Gestaltung sie ihre gesamte Schaffenskraft verwendet. Sie scheint niemals authentisch, sondern immer nur gemäß ihrer Leitbilder zu handeln. Als Jugendliche gibt sie sich einige Jahre genussvoll der Rolle der demütigen Klosterschülerin hin, erstrebt aber, von ihren Lektüren inspiriert, bald ein weltliches Leben in feinen Gesellschaftskreisen. Mit dem Abend auf Schloss Vaubyessard endlich auf der aristokratischen Bühne, die sie in den Romanen studiert hat, angekommen, "Emma fit sa toilette avec la conscience méticuleuse d'une actrice à son début." (MB: 60) Nach dem Ball endgültig davon überzeugt, dass die Liebe nur in "une température particulière" (MB: 70) gedeihen könne, nämlich in feudalem Luxus, beginnt Emma, sich das entsprechende Umfeld für ihre Inszenierung zu schaffen: Ihre neue Hausgehilfin Félicité weist sie in den Part der königlichen Zofe ein, die höfische Umgangsformen pflegt und ihre Herrin in der dritten Person anredet (vgl. MB: 70f.). Sie kauft sich Schreibutensilien, für die sie keine Verwendung hat, edle Einrichtungsgegenstände, Parfum und elegante Kleidung. Der skrupellose Geschäftsmann Lheureux wird der Lieferant für die Ausstattung, mit der Emma ihr Dasein als bürgerliche Hausfrau kompensieren will. Ihre Identitätskrise geht so weit, dass sich Emma nicht nur vor ihrer gesamten Umwelt in ein bestimmtes Licht rücken will; selbst wenn sie alleine ist, spielt sie ihr Rollenspiel als 'Dame' und inszeniert sich im edlen Schlafrock verträumt in einem Buch blätternd vor ihrem Spiegel (vgl. MB: 71).

Eklatantes Beispiel für die Entfremdung von ihrer wahren Gefühlswelt ist die Reaktion auf den frühen Tod der Mutter: Emma ist




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intérieurement satisfaite de se sentir arrivée du premier coup à ce rare idéal des existences pâles, où ne parviennent jamais les coeurs médiocres. Elle se laissa donc glisser dans les méandres lamartiniens [...] Elle s'en ennuya, n'en voulut point convenir, continua par habitude, ensuite par vanité, et fut enfin surprise de se sentir apaisée, et sans plus de tristesse au coeur que de rides sur son front (MB: 50f.).

Als die aufregende Affäre mit Rodolphe nach einigen Monaten in eheähnlichen Alltag übergeht und ein Brief ihres Vaters in Emma mit einem Mal familiäre Gefühle weckt, stürzt sie, die sie sonst keinerlei Interesse für ihre Tochter Berthe zeigt, sich in der Rolle als liebende Mutter in einen "excès de tendresse" (MB: 183).

Ihre größte Rolle adaptiert Emma jedoch aus der romantischen Literatur: die hingebungsvolle Geliebte. Für diese Inszenierung benötigt Emma einen männlichen Gegenpart, für den Charles sich schnell disqualifiziert, nicht gewillt oder nicht fähig, ihr Spiel mitzuspielen und damit sich selbst und auch Emma in jene romantischen Sphären zu erheben, die seine Frau erstrebt. Ihre Versuche, zu Beginn ihrer Ehe "d'après des théories" bei Mondschein mit verliebten Versen und melancholischen Liedern Leidenschaft zu entfachen, sind vergebens (MB: 55).


3.3.2 Emmas Bühnenpartner: Léon und Rodolphe

In Yonville findet Emma einen potentiellen 'romantischen Helden': Léon Dupuis, der in vieler Hinsicht das männliche Gegenstück zu ihr selbst ist. Er sucht wie sie in Romanen Zuflucht vor der dörflichen Langeweile und träumt von einem besseren, aufregenderem Leben. Während ihrer Affäre in Rouen geht auch er eine Zeitlang in ihrem romantischen Rollenspiel auf; er schreibt ihr leidenschaftliche Liebesbriefe, wartet sehnsüchtig auf die ihren und vernachlässigt seine Arbeit, um mit ihr zusammen zu sein (vgl. MB: 266). Emma und Léon dienen einander gleichzeitig zur Selbstbespiegelung und als gegenseitige Projektionsflächen für ihre Sehnsüchte. Sie agieren als Partner und Stichwortgeber auf ihrer selbst erschaffenen Lebensbühne; sie akzeptieren und bestätigen einander genau in der Rolle, in der sie sich selbst gerne sehen wollen, nämlich als einzige Romantiker inmitten von "les héros communs et les sentiments tempérés, comme il y a dans la nature" (MB: 97). Ihnen gemein ist, dass sie fiktive Rollenmodelle aus Büchern übernehmen. Während ihrer rein platonischen Zusammentreffen in Yonville entwickelt sich zwischen Emma und Léon "une sorte d'association, un commerce continuel de livres et de romances" (MB: 112). In dieser Symbiose können sie sich zumindest für eine Weile der Illusion hingeben, ihr Glück gefunden zu haben: den ersehnten Liebespartner, und auch eine Seinsweise ihrer selbst, die ihrem Ich-Ideal nahe kommt.

Vor seinem Umzug nach Paris dient Léon die Verbindung zur verhältnismäßig kultivierten Arztfrau, die Klavier spielt und mit der er sich über Bücher unterhalten kann, dazu, sich selbst von den übrigen Dorfbewohnern mit ihrem Unverständnis für die "délicatesses de l'esprit" (MB: 109) abzugrenzen. Bereits nach dem ersten gemeinsamen Abendessen mit dem Ehepaar Bovary im Lion d'or wird Léons Einschätzung Emmas als "une dame" durch Flauberts italiques betont (MB: 99). Léons Wahrnehmung folgt also genau der Strategie ihrer oberflächlichen Selbstdarstellung: Im Haus der Amme "il lui semblait étrange de voir cette belle dame en robe de nankin, tout au milieu de cette misère" (MB: 106). Auch während ihrer Liaison in Rouen kann Léon – wie Emma – Ideelles nicht von materiellen Symbolen trennen. Außerdem wird klar, dass seine Leidenschaft nicht Emma als Person, sondern ihrer Rolle als Mätresse gilt, die aus ihm den abenteuerlustigen Weltmann macht, dessen Part er in Paris als "pauvre clerc", "le plus convenable des étudiants" (MB: 241) nicht gewachsen war.




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Il admirait l'exaltation de son âme et les dentelles de sa jupe. D'ailleurs, n'était-ce pas une femme du monde, et une femme mariée! une vraie maîtresse enfin? [...] Elle était l'amoureuse de tous les romans, l'héroïne de tous les drames, le vague elle de tous les volumes de vers. (MB: 273)

Umgekehrt springt auch Emma auf Léons Selbstinszenierung an und versucht, ihre eigene Person durch die Zuneigung des jungen Mannes, der ihr zunächst wie die Inkarnation des romantischen Liebhabers erscheint, zu erhöhen. Beim Spaziergang bemerkt Emma "l'épaule du jeune homme, dont la redingote avait un collet de velours noir. Ses cheveux châtains [...] plats et bien peignés [...] ses ongles, qui étaient plus longs qu'on ne les portait à Yonville." (MB: 107). Der Erzählerkommentar verrät, wie bewusst Léon sich durch sein Erscheinungsbild und die für ländliche Verhältnisse ungewöhnlich langen Fingernägel etwas Städtisch-Dandyhaftes verleihen will: "C'était une des grandes occupations du clerc que de les entretenir" (ebd.).

Beim gemeinsamen Besuch von Berthe im Haus der Amme scheint sich in der Tat etwas besonderes, ein romantisches Band zwischen Emma und Léon zu entwickeln: "une même langueur [...] comme une murmure de l'âme, profond, continu" (MB: 108). Im Nachhinein wird dieser Moment jedoch entzaubert: Als Léon sich nach ihrem Treffen in den Wald zurückzieht und er unter den Tannen liegend in den Himmel blickt, sind es nicht etwa romantische Gefühle für Emma, die seine Gedanken beflügeln: "Comme je m'ennuie! se disait-il, comme je m'ennuie!" Was im Ansatz als romantische Verbindung gesehen werden könnte, stellt sich als reine Zweckbeziehung heraus.

Auch Rodolphe Boulanger spielt für Emma die Rolle des romantischen Liebhabers. Im Gegensatz zu Léon betreibt er seine Selbstinszenierung jedoch nur als Mittel zum Zweck; er verstellt sich völlig berechnend mit dem einzigen Ziel, die leichtgläubige Emma zum Ehebruch zu verleiten. Von Anfang an ist er sich seines Sieges so gewiss, dass ihm als einzige Schwierigkeit bereits vor der Verführung die Frage in den Sinn kommt, wie er Emma später loswerden kann. Noch wirkungsvoller als der Buchhalter Léon weiß der mondäne Rodolphe Emmas romantische Phantasien nicht nur in Worten souverän zu befriedigen, er ist darüber hinaus auch wohlhabender Schlossbesitzer – ein Umstand, der in Emmas Weltsicht mit Freiheit und Glück einhergeht:

– Il me semble pourtant, dit Emma, que vous n'êtes guère à plaindre.
– Ah! vous trouvez? fit Rodolphe.
– Car enfin..., reprit-elle, vous êtes libre.
Elle hésita: – Riche." (MB: 150).




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Von der Verbindung mit Rodolphe verspricht sich Emma Rettung aus der Eingeschränktheit ihrer eigenen sozialen Realität. Wie austauschbar er dabei als reines Rollenschema ist, legt auch die Tatsache nahe, dass er in ihren Träumen nie als Individuum vorkommt. Auch Rodolphe treiben niedere Motive: körperliche Anziehung sowie die schmeichelnde Gewissheit, von der unglücklichen Arztfrau wie ein Held verehrt zu werden. Ebenfalls im Unterschied zu Léon verfügt der Lebemann über Erfahrung und Menschenkenntnis und weiß Emmas Lage an der Seite des langweiligen Landarztes auf den ersten Blick einzuschätzen: "Et on s'ennuie! on voudrait habiter la ville, danser la polka tous les soirs! [...] Ça bâille après l'amour, comme une carpe après l'eau sur une table de cuisine." (MB: 142). Der herabwürdigende und auch etwas schiefe Vergleich mit einem toten Fisch sowie die Kennzeichnung Emmas mit dem unpersönlichen Personalpronomen ("cela vous adorerait") zeigen seine verächtliche Grundhaltung gegenüber der Frau und auch eine allgemeine Rohheit, die ganz im Gegensatz zu seiner Selbstinszenierung als sensibler Romantiker steht. Stand Léon für die kleinbürgerliche Banalisierung romantischer Ideale, so steht Rodolphe für deren Pervertierung.


3.4 Letzte Vernichtung der romantischen Illusion: Emmas Tod

Höhepunkt der Selbstinszenierung Emmas und zugleich ihrer Dekonstruktion ist ihre Todesszene, in der "sich der 'realistische' Grundtenor des Romans [...] zu einer eindrucksvollen, antiromantischen Demonstration" (Dethloff 1976: 110) verdichtet. Wiederum entspricht die Protagonistin einem Topos der romantischen Literatur: dem Suizid (vgl. Peyre 1979: 113f.). Doch sind es letzten Endes weder allgemeiner Weltschmerz noch enttäuschte Liebe, die sie in die Verzweiflungstat treiben, auch wenn sie sich selbst ein anderes, ein romantisches Selbstbild vorgaukelt: "elle ne se rappellait point la cause de son horrible état, c'est-à-dire la question d'argent. Elle ne souffrait que de son amour" (MB: 318). Der wahre Auslöser für ihren Gang zu Homais' Giftschrank ist trivial, selbst wenn sie sich vormacht, ihn "dans un transport d'héroïsme qui la rendait presque joyeuse" (MB: 318) anzutreten: Es ist der endgültige finanzielle Ruin und ein Lügengeflecht, aus dem sie sich selbst durch Betteln bei Léon, M. Guillaumin und Rodolphe nicht mehr zu retten vermag.

Bereits die Einnahme des Giftes verweist auf den sehr physischen Sterbeprozess, der folgen wird: "elle se mit à manger" (MB: 319). Im Bett auf die Wirkung des Giftes wartend, gibt sie sich der Illusion eines friedlichen und erlösenden Entschlafens hin: "je vais dormir, et tout sera fini!" (MB: 320). Diese Vorstellung entnimmt Emma vermutlich den Beschreibungen romantischer Heldinnentode, bei denen der weltliche Todeskampf zugunsten einer spirituellen Agonie weitgehend ausgeklammert wird. Zwar erwähnt auch Chateaubriand, dass seine Atala an den "symptômes effrayants" (Chateaubriand 1973: 116) ihrer Vergiftung, Lähmungserscheinungen und Schmerzen, leidet. In der Erzählung wird ihre Sterbeszene jedoch weitgehend von ihren tapferen und frommen Dialogen mit einem Geistlichen und ihrem Geliebten Chactas dominiert. Nach einer letzten Liebeserklärung und der Bekehrung des Indianers Chactas zum Christentum, wird Atala begleitet von "les paroles des anges" und "des harpes célestes" von Gott selbst ins Ewige Leben geholt (Chateaubriand 1973: 125f.).




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Ein solch erhabenes Ableben ist Emma bei Flaubert nicht vergönnt. Der phrasenhafte Beginn ihres Abschiedsbriefes ("Qu'on accuse personne...") bekundet den Versuch einer letzten Selbstinszenierung, die scheitert. Die bereits naturalistisch detaillierte Beschreibung der Vergiftung ist grausam: Der "goût d'encre" des Arsens verursacht schon bald Übelkeit und Emma erbricht sich. Während sie selbst angeekelt von so viel Körperlichkeit ist, bekundet ihr Gatte ärztliche Neugier: "Charles observa qu'il y avait au fond de la cuvette une sorte de gravier blanc, attaché aux parois de la porcelaine. – C'est extraordinaire! c'est singulier! répéta-t-il." (MB: 320f.) Emmas Todeskampf zieht sich über Stunden hin, sie schwitzt und spuckt Blut, ihr mit braunen Flecken übersäter Körper windet sich in schmerzvollen Krämpfen. Als die Symptome zwischenzeitlich nachlassen, kommt es zu einem fast romantischen Dialog mit Charles, in dem sie ihn demütig tröstet ("Bientôt je ne te tourmenterai plus!" (MB: 322) und milde feststellt: "tu es bon, toi" (ebd.). Sie kann jedoch die Pose der tapferen Märtyrerin nicht durchhalten, "elle se mettait à crier, horriblement. Elle maudissait le poison [...]" (MB: 324). Das Sakrament der Letzten Ölung scheint zwar kurzfristig eine positive Wirkung auf die Sterbende zu haben, "comme si le sacrement l'eût guérie" (MB: 329), die Zeremonie wird jedoch durch die Einmischung der ironischen Erzählinstanz als Farce entlarvt:

Ensuite, il récita le Misereatur et l'Indulgentiam, trempa son pouce droit dans l'huile et commença les onctions: d'abord sur les yeux, qui avaient tant convoité toutes les somptuosités terrestres ; puis sur les narines, friandes de brises tièdes et de senteurs amoureuses ; puis sur la bouche, qui s'était ouverte pour le mensonge, qui avait gémi d'orgueil et crié dans la luxure [...] (MB: 328)

Emma verlangt selbst auf ihrem Sterbebett noch nach einem Spiegel, in dem sie sich selbst betrachtet "jusqu'au moment où de grosses larmes lui découlèrent des yeux" (MB: 329), wie um sich noch einmal an dieser letzten Illusion einer romantisch-tragischen Sterbebettszene zu ergötzen.

Emmas Ableben wird jedoch im Gegensatz zu dem ihrer romantischen Idole nicht von himmlischen Wesen begleitet, stattdessen erklingt das frivole Lied des irren Blinden, der von Nanette und ihrem hochgewehten Röckchen singt, während Emma hysterisch lachend und in einem letzten Aufbäumen stirbt.

Selbst nach Emmas Tod erstickt die realistische Erzählung jede mögliche romantische Verklärung der Situation im Keim. Bei Chateaubriand ist das Bild der toten Atala voll Schönheit: "On voyait dans ses cheveux une fleur de magnolia fanée [...]. Ses lèvres, comme un bouton de rose cueilli depuis deux matins, sembloient languir et sourire." (Chateaubriand 1973: 129f.). Als dagegen Félicité ihre tote Herrin Madame Bovary beklagt und betont, "comme elle est mignonne encore" (MB: 335), als ob sie sich jeden Moment wieder erheben könne, holt Flaubert den Leser abrupt auf den Boden der Tatsachen zurück: "alors un flot de liquide noir sortit, comme un vomissement, de sa bouche." Ein letztes Mal erfährt der Leser durch Emma den grotesken Absturz in die gewöhnliche, wenn nicht gar abstoßende Realität menschlichen Daseins.




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4 Fazit

Im Bild der toten Emma Bovary, aus deren Mund sich eine schwarze Flüssigkeit ergießt, verdichtet sich noch einmal Flauberts Umgang mit dem Erbe der romantischen Literatur: Es zeigt die metaphorische Tinte, die Emma mit Vorstellungen vergiftet, an deren Unvereinbarkeit mit der Realität sie letztendlich zugrunde geht.

Madame Bovary ist durchzogen von Anspielungen auf Texte und Topoi der Romantik, die im Rückblick auf Emmas Jugendlektüren in Kapitel I.6. zum Teil auch explizit angeführt werden. Die Flaubertsche Erzähltechnik ironisiert die Inhalte jener Literatur durch Kontrastierung der Perspektiven von unpersönlichem Erzähler und Figuren. Romantische Ideen erscheinen in der naiven Innenperspektive Emmas und als hypokritisches Vehikel der Selbstinszenierung sinnentleert. Die "sorgfältig angelegte Perspektivenunbestimmtheit" (Warning 1999: 167) führt jedoch auch dazu, dass vor allem bei stilistischen Anlehnungen an die Romantik verspottende Parodie nicht immer klar von anerkennendem Pastiche zu unterscheiden ist, was auf Flauberts eigene Unentschlossenheit gegenüber den in seiner Jugend verehrten und später kritisierten Romantikern schließen lässt.

Auch im Charakter der Hauptfigur wird diese Ambivalenz deutlich. Emma könnte als Ausnahmefigur mit ihren romantischen Aspirationen einerseits ein mögliches Gegenmodell bilden zur bourgeoisen bêtise humaine und zur Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigkeit, wie sie der Apotheker Homais vertritt. Andererseits wird in ihrer Person nicht nur eine fehlverstandene Romantik der oberflächlichen Sentimentalität und ignoranten Ich-Zentrierung verspottet; die realistische Erzählung entlarvt rückhaltlos die Illusion einer romantischen Heldin als ein rein literarisches Konstrukt. In Emmas Niedergang manifestiert sich die Untauglichkeit romantischer Ideale in der schonungslosen Realität einer Welt, die bestimmt ist von ennui und menschlicher Unzulänglichkeit. Flauberts Roman liest sich also nicht zwangsläufig als "Satire auf die Romantik aus der Perspektive eines davon geheilten Dichters, sondern als 'Erweis des unausweichlichen Fehlschlags der romantischen Suche, wie überhaupt jeder Suche des Menschen nach Glück und Liebe' (Jean Bruneau)" (Heitmann 1979: 93). In dieser Lesart zeigt Madame Bovary die zutiefst pessimistische Weltsicht eines desillusionierten Romantikers als zynische Abrechnung mit den eigenen romantischen Sehnsüchten: Die Vernichtung seiner Romanheldin gleicht einem Exorzismus.


Bibliografie

Auerbach, Erich (1994): Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen / Basel: Francke, 450–459.

Breut, Michèle (1994): Le haut & le bas: Essai sur le grotesque dans "Madame Bovary" de Gustave Flaubert. Amsterdam, Atlanta: Rodopi.

Chateaubriand, François-René de (1973): Atala. Genève: Librairie Droz S.A. [1801]




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Dethloff, Uwe (1976): Das Romanwerk Gustave Flauberts: Die Entwicklung der Personendarstellung von "Novembre" bis "L'Education Sentimentale" (1869). München: Wilhelm Fink.

Flaubert, Gustave (1978): Dictionnaire des idées reçues. Paris: Aubier. [posthum 1913]

Flaubert, Gustave (2002): Madame Bovary: Moeurs de province. Paris: Maxi-Livres. [1857] (=MB)

Friedrich, Hugo (1939): Drei Klassiker des französischen Romans: Stendhal, Balzac, Flaubert. Leipzig: Bibliographisches Institut AG.

Gerrard, Lisa (1979): The romantic woman in nineteenth-century fiction: A comparative study of "Madame Bovary", "La Regenta", "The mill on the floss" and "The awakening". Berkeley: University of California. [University Microfilms International 1982]

Heitmann, Klaus (1979): Der französische Realismus von Stendhal bis Flaubert. Wiesbaden: Athenaion.

Lloyd, Rosemary (1990): Madame Bovary. London: Unwin Hyman.

Martin-Berthet, Françoise (1987): "La réception de la parodie du romantisme dans Madame Bovary et L'Education sentimentale", in: Landy-Houillon, Isabelle / Menard, Maurice (Hg.): Burlesque et forme parodiques dans la littérature et les arts. Seattle / Tübingen: Leiner, 587–597.

Peyre, Henri M. (1979): Qu'est-ce que le romantisme? Paris: Presses Universitaires de France.

Stanzel, Franz K. (1995): Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

Warning, Rainer (1991): "Romantische Tiefenperspektivik und moderner Perspektivismus. Chateaubriand – Flaubert – Proust", in: Maurer, Karl / Wehle, Winfried (Hg.): Romantik: Aufbruch zur Moderne. München: Fink, 295–325.

Warning, Rainer (1999): Die Phantasie der Realisten. München: Fink.


Anmerkungen

1 Flaubert, Correspondance, 5.5.1857
(http://perso.wanadoo.fr/jb.guinot/pages/autoportrait.html, 2.1.2007).

2 Flaubert, Correspondance, 6.6.1853
(http://www.univ-rouen.fr/flaubert/03corres/conard/lettres/53e.html, 2.1.2007).

3 DÔME – Nom donné à l'église principale de certaines villes d'Italie et d'Allemagne. (Rey-Debove, Josette / Rey, Alain (Hg.) (1993): Le Petit Robert, 755f.). Vermutlich hat Emma das Wort aus Büchern über klassische Länder der Romantik übernommen.

4 BOVARYSME – Évasion dans l'imaginaire par insatisfaction; pouvoir "qu'a l'homme de se concevoir autre qu'il n'est" (J. de Gaultier). (ebd., 287).

5 Flaubert, Correspondance, 30.3.1857
(http://www.univ-rouen.fr/flaubert/03corres/conard/lettres/57a.html, 2.1.2007).