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Teresa Pinheiro (Chemnitz)



Christiane Solte-Gresser, Karen Struve und Natascha Ueckmann (Hg.)(2005):
Von der Wirklichkeit zur Wissenschaft: Aktuelle Forschungsmethoden in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften,
Münster: LIT. (=FOLIES Vol. 1)



Von der Wirklichkeit zur Wissenschaft ist der erste Band der von Gisela Febel und Christiane Solte-Gresser neu gegründeten Reihe FOLIES – Forum Literaturen Europas. Diese Reihe wird vorgestellt als eine neue Plattform für literaturwissenschaftliche Studien, die sich aber auch für sprach- und kulturwissenschaftliche Beiträge offen zeigt, wie dem Untertitel des Bandes zu entnehmen ist.

Der vorliegende Band geht auf eine Ringvorlesung zurück, die in den Jahren 2002 bis 2004 an der Universität Bremen veranstaltet wurde. Wie der Einleitung zu entnehmen ist, verfolgt er das Ziel, einen "Forschungsbeitrag zur Vielfalt der aktuellen Theorieansätze in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften zu liefern' (9). Dieser Zielsetzung liege eine doppelte Motivation zu Grunde. Zum einen sollen die Beiträge, die in ihren Textanalysen unterschiedliche theoretische und methodische Ansätze anwenden, den Dialog zwischen den spezialisierten Forschungsbereichen fördern und damit einer "nicht transparenten Interdisziplinarität' (9) entgegenwirken. Zum anderen soll der von Johannes Anderegg (Anderegg 1977) und Kaspar H. Spinner (Spinner 1977) zwar schon 1977 formulierten, aber noch immer für virulent gehaltenen Kritik begegnet werden, die Sprach- und Literaturwissenschaften haben sich seit den 1960er Jahren derart auf theoretische und methodische Diskussionen konzentriert, dass ihnen ihr Gegenstand abhanden gekommen sei.

Freilich sollte der Anderegg-Spinner'sche Einwand im Jahre 2005 obsolet sein – denn wer könnte mit Fug und Recht "mangelnde Interdisziplinarität' und "Verlust des Gegenstands' diagnostizieren angesichts der Fülle heutiger kulturwissenschaftlich und empirisch orientierter Arbeiten zu literarischen Texten, und angesichts der heute etablierten Kulturwissenschaften selbst, die schon qua definitionem interdisziplinär angelegt sind, und denen ein breites Korpuskonzept zugrunde liegt.




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Hingegen leuchtet die erstgenannte Motivation – Förderung des Dialogs zwischen wissenschaftlichen Spezialgebieten – durchaus ein. Denn die gegenseitige Befruchtung unterschiedlicher theoretischer und methodischer Ansätze ist in den heutigen Geisteswissenschaften nach wie vor wünschenswert und somit ein aktuelles Desiderat.

Die 19 Beiträge des Bandes sind in drei Sektionen unterteilt: Literaturwissenschaft,1 Sprachwissenschaft / Fremdsprachendidaktik2 und Sozialgeschichte / Kulturwissenschaften3. Jedoch entziehen sich die Beiträge diesen Fachgrenzen, sowohl durch die Heterogenität der theoretischen Ansätze, auf die sie sich berufen, als auch durch die Vielfalt der Gegenstände, die untersucht werden. So beschäftigen sich die Beiträge quer durch alle Sektionen mit Literatur, Film, Theater oder Augenzeugenberichten und reflektieren so unterschiedliche Ansätze und Forschungsbereiche der Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften wie etwa die gender-Forschung, die Intermedialität, die Intertextualität, die Korpuslinguistik oder die qualitative Sozialforschung.

Dabei entsteht jedoch keineswegs ein unübersichtliches Sammelsurium individueller Beschäftigungen mit heterogenen Themen. Im Gegenteil: Die Zielsetzung des Bandes – Beziehungen und Abgrenzungen zwischen den gängigen methodischen und theoretischen Konzepten herzustellen – wird ernst genommen und trägt auch Früchte. Alle Beiträge positionieren ihren jeweils gewählten Ansatz in der theoretischen und methodischen Landschaft der Geisteswissenschaften und führen ihn an einem konkreten Gegenstand durch. Zudem schaffen die meisten Beiträge durch ihre kommunikative Allgemeinverständlichkeit eine gute Voraussetzung für Vergleiche, Austausch und Dialog.

Einige Artikel liefern einen wissenschaftshistorischen Überblick der zu erprobenden Methode, der Theorie oder des Teilfachs, auf das sich die methodisch-theoretische Reflexion bezieht. So stellt etwa Margot Brink ihrer Reflexion zum Erkenntnispotential der Konzepte der Institution Kunst (Peter Bürger), des literarischen Feldes (Pierre Bourdieu) und der Kuluturpoetik (Stephen Greenblatt) einen Abriss der Literatursoziologie seit den 1970er Jahren voran, der von der Frage geleitet wird, warum Literatursoziologie "zumindest terminologisch weitestgehend passé' (41) zu sein scheint. Ebenso eröffnet Elisabeth Arend ihre Reflexion des intertextuellen Ansatzes am Beispiel von Marguerite Yourcenars Anna, soror… mit einer "Geschichte der Erforschung literarischer Beziehungen' (79), die das heutige, vom Poststrukturalismus geprägte Verständnis von Intertextualität wissenschaftshistorisch nachvollziehbar macht. In der sprachwissenschaftlichen Sektion beginnt Wolfgang Wilgen seine Reflexion zur Methodenanwendung in der Sprachkontaktforschung mit einem Exkurs in die Geschichte der Kontaktlinguistik, der deutlich macht, warum die Kontaktlinguistik zur "Bühne eines Methodenkonflikts [wurde], dessen Ausgang noch offen ist' (133).




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Anatol Stefanowitsch wiederum zeichnet in seinem Beitrag zur quantitativen Korpuslinguistik die Entwicklung der Korpuslinguistik innerhalb der Sprachwissenschaft nach. Dagmar Abendroth-Timmer schließlich verortet die Aktionsforschung innerhalb der klassisch-empirischen Sozialforschung, bevor sie ihre Reflexion zur Aktionsforschung als Forschungsparadigma der Fremdsprachendidaktik entwickelt.

So stellt der Band sehr eingängig theoretische und methodische Ansätze in geisteswissenschaftlichen Studien dar, jedoch nicht nur das: Er beschäftigt sich auch mit ihrer Abwesenheit als eine mögliche – durchaus methodisch und theoretisch fundierte – Position. So lehnt sich etwa Klaus Schüle an Peter Sloterdijks Kritik des homo academicus an (Sloterdijk / Heinrichs 2001), um zu begründen, dass in seinem Beitrag über neuere Forschungsmethoden zur Erfassung von Stadtbewusstsein keine "methodische Konzeptdebatte geführt werden' müsse (273). Ulf Schulenberg wiederum widmet sich in seinem Aufsatz "Against Theory?' dem Neopragmatismus Stanley Fishs. Zwischen diese beiden Beiträge wurden sicher nicht zufällig die methodischen und theoretischen Überlegungen von Helga Bories-Sawala platziert, die die Problematik der Validität von Augenzeugenberichten für die – am referentiellen Wert von Quellen interessierte – Geschichtswissenschaft behandelt. Diese Gruppierung passt in das verbreitete Bild der Geschichte als einer theoriescheuen Disziplin, das die Autorin selbst bestätigt: "Unter den Sozialwissenschaften wiederum gibt es theorieverliebtere Disziplinen als die Geschichte' (292).

Man mag die Antwort auf die Frage offen lassen, ob das hoch gesteckte Ziel, einen Beitrag zur Vielfalt theoretischer Ansätze in den Geisteswissenschaften zu liefern, in allen Teilen des Sammelbandes erreicht wird. In jedem Fall präsentiert Von der Wirklichkeit zur Wissenschaft eine sehr interessante Bestandsaufnahme der Bremer geisteswissenschaftlichen Forschung und vermag dabei eine anregende Reflexion zu Theorien und Methoden in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften in Gang zu setzen. Dieser rote Faden sowie die Bemühung der Autoren, einer interdisziplinären Leserschaft fachliche Sachverhalte zu vermitteln, machen die Lektüre lohnend. Darüber ist man sogar geneigt, sich der Mühsal eines allzu kleinen Satzspiegels und einiger nicht immer sorgfältig lektorierter Passagen auszusetzen.


Anmerkungen

1 Mit Beiträgen von Sabine Schlickers, Margot Brink, Christane Solte-Gresser, Elisabeth Arend, Sabine Broeck und Dagmar Reichardt.

2 Mit Beiträgen von Wolfgang Wildgen, Anatol Stefanowitsch, Kerstin Fischer/Ruth Wilde, Isabelle Mordellet-Roggenbuck und Dagmar Abendroth-Timmer.

3 Mit Beiträgen von Dirk Hoerder, Natascha Ueckmann, Wolfgang Stephen Kissel, Klaus Schüle, Helga Bories-Sawala, Ulf Schulenberg, Jochen Bonz und Insa Härtel.





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Bibliographie

Anderegg , Johannes (1977): "Wissenschaft und Wirklichkeit" In: Ders. (Hg.): Wissenschaft und Wirklichkeit. Zur Lage und Aufgabe der Wissenschaften, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 9–28.

Spinner, Kaspar H. (1977): "Wissenschaftsgläubigkeit und Wirklichkeitsverlust in der Sprach- und Literaturwissenschaft" In: Anderegg, Johannes (Hg.): Wissenschaft und Wirklichkeit. Zur Lage und Aufgabe der Wissenschaften, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 115–133

Sloterdijk, Peter / Heinrichs, Hans-Jürgen (2001): Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen , Frankfurt a.M.: Suhrkamp.