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Enrique Huelva Unternbäumen (University of Brasilia)



Die Irreversibilität der Grammatikalisierung: Überlegungen aus der Sicht des Sprechers



The irreversibility of grammaticalization: Thoughts from a speaker oriented perspective
The main purpose of this paper is to outline an explanatory model for the irreversibility of grammaticalization. The model is based on a complex comprising four fundamental conditions: three necessary conditions (accessibility, substance and manipulation), and one causal condition (communicative usefulness). All these conditions must be simultaneously satisfied for a grammaticalization or antigrammaticalization process to be initiated. Only in grammaticalization processes, however, is that actually the case. Antigrammaticalization processes are nearly impossible, especially since they are unable to satisfy the three necessary conditions.


1 Einführung

Die Überlegungen, die in den folgenden Zeilen dargestellt werden sollen, präsupponieren die im Titel enthaltenen zentralen Konzepte Grammatikalisierung und Irreversibilität. Mit dieser Ausgangsentscheidung nehmen wir eine klare Position hinsichtlich der in den letzten Jahren durchgeführten Diskussion um die angeblich fehlende Einheitlichkeit bzw. Konsistenz der Phänomenbereiche ein, die diesen beiden Konzepten zugrundeliegen sollen.1 Unsere Interpretation dieser Diskussion ist, dass die Argumente, die diese Konzepte in dem gerade angesprochenen Sinne in Frage stellten, nicht haltbar sind und dass konsequenterweise Grammatikalisierung und Irreversibilität klar delimitierbaren sprachlichen Phänomenbereichen entsprechen. Insofern werden wir im Folgenden – jedenfalls nicht in expliziter Form – keine neuen Argumente liefern, die diese Position unterstützen bzw. keine neuen Argumente, die Gegenpositionen zu entkräften versuchen (vgl. u.a. Haspelmath 2002; Lehmann 2004).

In Bezug auf das zweite Konzept gehen wir außerdem davon aus, dass genügend empirische Evidenz für die Feststellung vorliegt, dass Grammatikalisierung einen Sprachwandelprozess darstellt, der extrem viel häufiger vorkommt, als Antigrammatikalisierung, d. h. als ein Prozess, der die gleichen Endpunkte und Zwischenstadien wie Grammatikalisierung hat, aber in umgekehrter Richtung verläuft.2

Wir sind also der Meinung, dass wir in der Lage sind – bzw. sogar vor der Notwendigkeit stehen –, einen Schritt weiter zu wagen, indem wir uns die Frage stellen, warum Grammatikalisierung weitestgehend irreversibel ist. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es daher, einen Beitrag zur Entwicklung der Grundzüge eines plausiblen Erklärungsmodells für das Phänomen der Irreversibilität der Grammatikalisierung zu leisten.




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Das zu entwickelnde Modell geht von Haspelmath (1999) aus.3 Haspelmath schlägt ein Erklärungsmodell vor, das hauptsächlich auf dem Konzept der (sprachlichen) Extravaganz basiert. Dieses Konzept wird zwar bei ihm nicht explizit definiert; es läßt sich jedoch inferieren, dass es sich dabei um einen pragmatisch-kommunikativen Effekt handelt, den der Sprecher mit der Verwendung von gewissen sprachlichen Elementen zu bewirken versucht (wie bewusst oder gar intentional auch immer dieser Vorgang sein mag). Dieser Effekt wird von Haspelmath durch Ausdrücke wie "imaginative, vivid, explicit, pragmatically salient, pragmatically stronger" und dergleichen charakterisiert (1999: 1056f., 1061; 2000: 792). Die extremen Unterschiede zwischen Grammatikalisierung und Antigrammatikalisierung hinsichtlich ihrer Vorkommensfrequenz führt er auf eine Asymmetrie der Extravaganz zurück: Während die Verwendung von lexikalischen Mitteln an der Stelle von funktionalen extravagante Effekte – in dem suggerierten Sinne – hervorrufen würde, würde der umgekehrte Ersatzprozess nicht zu den gleichen Konsequenzen führen.

Wir glauben, dass das Modell von Haspelmath in vielerlei Hinsicht grundsätzlich auf dem richtigen Weg ist. In Bezug auf einen zentralen Punkt ist es allerdings ergänzungsbedürftig. Das, was Haspelmath mit der Verwendung des Begriffs Extravaganz im Sinne hat (das Konzept ist wirklich nur sehr vage definiert), stellt mit Sicherheit eine wichtige Motivation für die Einführung von periphrastischen Mitteln zur Kodierung und zum Ausdruck grammatikalischer Information dar. Es ist mit diesem Autor auch prinzipiell übereinzustimmen, wenn er behauptet, dass diese Motivation bei dem entgegengesetzten Ersatzprozess fehle. Die breit dokumentierte hohe Frequenz dieser Einführung (Haspelmath: 2002) bedeutet allerdings auch, dass sie ein recht erfolgreiches Unternehmen ist. Das heißt, eine solche Innovation hat gute Aussichten auf Erfolg. Und was noch wichtiger ist: Diese guten Aussichten auf Erfolg konstituieren eine Erwartung des Sprechers. Denn wenn das nicht so wäre, wäre die Motivation auch schnell dahin. Wenn dies zutrifft, dann müssen wir aber klären, warum die Einführung von periphrastischen Mitteln zur Kodierung und zum Ausdruck grammatikalischer Information ein so erfolgversprechendes Unternehmen ist. Wir müssen also klären, welche Bedingungen hierfür erfüllt sein müssen, und dann untersuchen, ob Asymmetrien zwischen Grammatikalisierung und Antigrammatikalisierung hinsichtlich des Erfülltseins dieser Bedingungen vorliegen.

Zusätzlich zu der Extravaganzbedingung schlagen wir daher drei weitere Bedingungen vor, die unmittelbar die Durchführbarkeit von Grammatikalisierung und Antigrammatikalisierung betreffen, nämlich: 1) die Zugänglichkeitsbedingung, 2) die Substanzbedingung, 3) die Manipulationsbedingung. Wir werden zeigen, dass aus diesen Bedingungen sich entsprechende Asymmetrien hinsichtlich des Erfülltseins ableiten lassen, die klar begründen, warum Grammatikalisierung relativ leicht initiierbar und durchführbar ist, während Antigrammatikalisierung beinahe als ein undurchführbarer Sprachwandelprozess gelten muß.


2 Begriffliches

Die Entwicklung unseres Modells (vgl. Kap. 3) setzt einige zentrale Begriffe und Annahmen voraus, die im Folgenden spezifiziert werden sollen.




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In Anlehnung an Lehmann (vgl. u.a. 2002; 2004) soll Grammatikalisierung als ein gradueller Sprachwandelprozess verstanden werden, durch den ein sprachliches Zeichen allmählich an Autonomie verliert. Grammatikalisierung eines sprachlichen Elements heißt demnach vor allem Verfestigung, d. h. Unterwerfung unter Beschränkungen des Sprachsystems. Die Definition unter D1 ist unseren folgenden Überlegungen zugrunde zu legen.

D1: "Grammaticalization of a linguistic sign is a process in which it loses in autonomy by becoming more subject to constraints of the linguistic system" (Lehmann 2004: 3).

Der unter D1 beschriebene Sprachwandelprozess kann folgendermaßen graphisch dargestellt werden:

Die eckigen Klammern repräsentieren einen Zeitraum, der von einem früheren historischen Stadium einer Sprache (L1) zu einem späteren Stadium (L2) führt. Innerhalb dieses Zeitraums findet ein Prozess statt, der eine sprachliche Form F1 des Stadiums L1 (linker Punkt) in eine sprachliche Form F2 des Stadiums L2 (rechter Punkt) transformiert. Wichtig ist auch, dass zwischen F1 und F2 trotz der Transformation diachronische Identität bestehen bleibt (vgl. Lehmann 2004: 4-6). Die vollzogene Transformation ist derart, dass F1 autonomer ist als F2 (dies wird durch die Pfeile symbolisiert).

Die verschiedenen Einheiten bestehend aus Klammern, Punkten und Pfeilen stehen an unterschiedlichen Stellen des Kontinuums autonom – beschränkt. Dies soll auf die Tatsache hindeuten, dass D1 sich nicht nur auf die (prototypische) Entwicklung bezieht, die als Ausgangsform (F1) ein Volllexem hat, sondern auch auf jene, die eine Ausgangsform mit einem bereits relativ hohen Grammatikalitätsgrad (und konsequenterweise mit einer relativ niedrigen Autonomie) in eine andere (F2) verändert, die über einen noch höheren Grammatikalitätsgrad verfügt. Diese Bemerkung ist in unserem Zusammenhang daher wichtig, weil eine Erklärung der Irreversibilität auch für Fälle des letztgenannten Typs adäquat und plausibel sein muss.

Die Untersuchung von Grammatikalisierungsprozessen ist nicht möglich ohne ein gewisses Maß an Abstraktion. Es scheint vor allem methodologisch unumgänglich zu sein, die Prozesse zu temporalisieren, also ein Vorher in der Form eines L1-F1 und ein Nachher in der Form eines L2-F2 zu determinieren und diese dann miteinander zu vergleichen. Die verschiedenen Längen der Einheiten in der Abbildung (1) sollen darauf aufmerksam machen, dass wir stets unterschiedliche, alternative Möglichkeiten der Temporalisierung eines komplexen Grammatikalisierungsprozesses haben. Wir können beispielsweise als F1 das deiktische Pronomen der dritten Person des Lateins ille und als F2 das (diachronisch identische) Personalpronomen il des Französischen wählen. Als F2 könnten wir aber auch das neutrale anaphorische Pronomen des Vulgärlatein ille wählen. Und was in der einen Temporalisierungsmöglichkeit als F2 fungiert, kann in der anderen genauso gut als F1 fungieren. Wer sich z.B. für aktuelle Sprachwandeltendenzen des (umgangssprachlichen) Französischen interessiert, könnte il in seiner "Standardverwendung" (F1) mit il in Sätzen vergleichen, in denen ein explizit realisiertes Subjekt vorhanden ist (F2), wie etwa in Rechtsversetzungen (lui, il n’a pas d’argent).

Per Analogie zu D1 können wir Antigrammatikalisierung wie folgt definieren:




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D2: Antigrammatikalisierung ist ein gradueller Sprachwandelprozess, in dem ein sprachliches Zeichen allmählich an Autonomie gewinnt und sich nach und nach von Beschränkungen durch das Sprachsystem loslöst.

Die Abbildung (2) stellt den in D2 beschriebenen Prozess graphisch dar:

Nun ist aber wichtig hervorzuheben, dass, damit ein Sprachwandelprozess als ein Fall von Antigrammatikalisierung gelten kann, dieser Prozess die gleichen Bedingungen erfüllen muss, die für Grammatikalisierungsprozesse gelten. Dabei sind insbesondere folgende zu nennen: 1) Der Transformationsprozess von F1 zu F2 muss graduell sein; 2) er muss die für Grammatikalisierung typischen Zwischenstadien umfassen und 3) er darf nicht eine völlig neue, unterschiedliche Konstruktion entstehen lassen (vgl. dazu Lehmann 2004: 15-23; Haspelmath 2002: 10-15). Hieraus folgt, dass wir durchaus Sprachwandelprozesse haben können, die eine Degrammatikalisierung, also eine Transformation des Typs beschränkt > autonom, aufweisen und dennoch nicht als das Umgekehrte von Grammatikalisierung geltend gemacht werden können. Die so genannte delokutive Wortbildung aus Affixen, die von einigen Autoren als ein Beispiel für Antigrammatikalisierung präsentiert wird, erfüllt die erwähnten Bedingungen nicht und kann folglich nicht als ein solches gelten. Die Bildung des portugiesischen Substantivs ismo (Doktrin; Leva o tempo a falar em futurismo, modernismo, dadaísmo e outros ismos. Vgl. Novo Aurélio) aus dem Suffix –ismo ist ein Fall von Degrammatikalisierung, denn es handelt sich ja um eine klare Entwicklung von der Grammatik zum Lexikon bzw. von einer beschränkten (Suffix) zu einer autonomen Form (Substantiv). Diese Entwicklung ist aber nicht graduell, sondern abrupt (Bedingung 1). Sie zeigt keine der für Grammatikalisierung typischen Zwischenstadien (in denen –ismo z. B. als klitische Form fungiert) (Bedingung 2) und schließlich ist auch klar, dass beide Formen nicht in der gleichen Konstruktion vorkommen (Bedingung 3). Insofern haben wir es mit einem Fall von Degrammatikalisierung, aber nicht von Antigrammatikalisierung zu tun.4

Irreversibilität heißt konkret, dass:

D3: Sprachwandeltypen, die unter D1 subsumiert werden können, (extrem) viel häufiger als jene sind, die unter D2 subsumierbar sind.

Wichtig ist dabei, dass sich diese Behauptung auf diachronische Sprachwandeltypen und nicht auf historisch konkrete Wandelprozesse bezieht.5 Es geht also nicht um die (relative) Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Form F2, die durch einen Grammatikalisierungsprozess aus F1 entstanden ist, sich erneut zu F1 (zurück)entwickelt (vgl. Haspelmath 2002: 10; Lehmann 2004: 15). Es geht also nicht etwa darum, ob die Form F1 el (caballo) wieder zu ihrer genauen, diachronisch identischen Ausgangsform F2 ille (equus) wird, aber auch nicht unbedingt darum, ob aus el erneut ein anderes (wie auch immer formverändertes) distales Demonstrativum der dritten Person entstehen kann. Was stattdessen behauptet wird, ist, dass Sprachwandeltypen wie etwa Demonstrativum > definiter Artikel, Substantiv > Präposition (mit ihren jeweils typischen Zwischenstadien), etc., die unter D1 subsumierbar sind, extrem viel häufiger vorkommen als richtungskonträre Typen.

Zusätzlich zu den Definitionen unter D1, D2 und D3 sind für unseren Erklärungsvorschlag zwei Annahmen bezüglich der Natur von D1 und D2 grundlegend:




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A1: D1 und D2 sind gebrauchsbasierte (usage based) Prozesse.

A2: D1 und D2 sind kognitionsbasierte Prozesse.

Eine Veränderung des Grammatikalitätsgrades einer linguistischen Form, also eine Bewegung entlang der Autonomieachse (vgl. Abbildungen 1 und 2), konstituiert in erster Linie ein linguistisches Phänomen. Dennoch können Sprachwandelprozesse, die unter D1 oder D2 subsumierbar sind, aus zweierlei Gründen nicht als absolut unabhängige, rein linguistische Phänomene betrachtet werden.

Erstens liegt der Ursprung, der erste Moment der Entstehung von Prozessen des Typs D1 und D2, sowie ihre Fortentwicklung in den kommunikativen Handlungen von Einzelsprechern. A1 versucht, diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen. Grammatikalisierungs- und Antigrammatikalisierungsprozesse werden in konkreten "usage events" (Kemmer/Barlow 2000), in konkreten Produktions- und Verstehensprozessen initiiert und fortgeführt. Diese allgemeine Feststellung, die hinsichtlich der Ursache von Sprachwandelprozessen bereits von Hermann Paul (1920 [1888]) getroffen wurde, kann im Fall von Prozessen des Typs D1 und D2 weiter konkretisiert werden. Der konkrete Auslöser dieser Prozesse ist die Verwendung einer sprachlichen Form F1 in einer Funktion, die einen für F1 untypischen Grammatikalisierungsgrad voraussetzt. Ein Grammatikalisierungsprozess wird dementsprechend dadurch initiiert, dass eine sprachliche Form F1 in einer bestimmten Sprechsituation in einer Funktion verwendet wird, in der typischerweise Formen verwendet werden, die über einen höheren Grammatikalisierungsgrad als F1 verfügen. Analog dazu wird ein Antigrammatikalisierungsprozess dadurch initiiert, dass eine sprachliche Form F1 in einer bestimmten Sprechsituation in einer Funktion verwendet wird, in der typischerweise Formen verwendet werden, die über einen niedrigeren Grammatikalisierungsgrad als F1 verfügen.

Im Fall der Grammatikalisierung nennt uns Haspelmath (1999) die zentrale Motivation für die Verwendung von F1 in einer Funktion, die einen für F1 untypischen Grammatikalisierungsgrad voraussetzt: Der Sprecher beabsichtigt durch diese Verwendung, einen bestimmten kommunikativen Effekt beim Hörer zu erzielen, den Haspelmath Extravaganz (in dem oben erwähnten Sinne) nennt. Eine solche Motivation fehle für die Antigrammatikalisierung.

Selbstverständlich ist das, was vom Sprecher durch die Verwendung von F1 in einer solchen untypischen Funktion beabsichtigt wird, nur dies: Das Erzielen eines bestimmten kommunikativen Effekts beim Hörer und nicht das Eintreten eines Grammatikalisierungsprozesses, der irgendwann die Struktur seiner Sprache verändert. Das letzte ist vielmehr als eine mögliche, aber unbeabsichtigte Folge dieser Verwendung zu betrachten, als das also, was Keller (1994: 95ff.) ein Phänomen der "unsichtbaren Hand" nennt.

Und genauso selbstverständlich ist es auch, dass eine einzelne Wahlhandlung eines Sprechers zwar die Ursache der Initiierung eines Grammatikalisierungs- oder Antigrammatikalisierungsprozesses sein kann, aber allein bei weitem nicht ausreicht, um die Fortführung dieser Prozesse zu garantieren.

Auch wenn wahrscheinlich noch nicht von einer communis opinio die Rede sein kann, so hat sich doch in den letzten Jahren mehr und mehr die Auffassung etabliert, dass Grammatikalisierungsprozesse über wichtige kognitive Dimensionen verfügen (vgl. allgemein dazu Bybee 2005a; 2005b). A2 versucht, dieser Auffassung in Bezug auf die Frage nach der Irreversibilität Rechnung zu tragen.




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Zu dieser Auffassung gelangt man vor allem durch die Beobachtung, dass Grammatikalisierungsprozesse wesentliche Transformationen der konzeptuellen Basis der betroffenen linguistischen Elemente umfassen. Diese Transformationen sind ihrerseits nur als das Ergebnis des Wirkens von bestimmten (allgemeinen) kognitiven Mechanismen und Prozessen erklärbar (vgl. u.a. Bybee 2005a; 2005b; Bybee / Scheibman 1999; Heine / Claudi / Hünemeyer 1991; Traugott / König 1991).

Dieser Auffassung zufolge ist die Verwendung einer Form F1 in einer Funktion, die einen für F1 untypischen Grammatikalisierungsgrad voraussetzt, nur dann möglich, wenn es gelingt, durch die Anwendung kognitiver Mechanismen die konzeptuelle Basis von F1 derart zu transformieren, dass sie der neuen Funktion angepasst werden kann. Was unter diesen Transformationen genau zu verstehen ist, wird klarer, wenn wir an die semantisch-konzeptuellen Parameter des komplexen Konzepts der Autonomie (vgl. Lehmann 2002: 114 ff.) bzw. an die kognitiven Korrelate dieses linguistischen Konzepts (vgl. Lehmann 2004: 25-27) denken. Im folgenden Kapitel soll dieser Sachverhalt genauer dargestellt werden.

Das Gelingen von solchen Transformationen hängt vom Erfülltsein der drei oben bereits erwähnten Bedingungen – Zugänglichkeitsbedingung, Substanzbedingung und Manipulationsbedingung – ab. Da alle drei die Durchführbarkeit von Transformationen mitbestimmen, sollen sie Durchführbarkeitsbedingungen genannt werden.

Während aus A2 Durchführbarkeitsbedingungen abgeleitet werden können, betrifft die Bedingung, die aus A1 abgeleitet werden kann, den kommunikativen Nutzen der Verwendung einer sprachlichen Form F1 in einer Funktion, die einen für diese Form untypischen Grammatikalisierungsgrad voraussetzt. Im Fall der Grammatikalisierung kann diese Bedingung als erfüllt gelten (jedenfalls, wenn man die Argumentation von Haspelmath (1999; 2000) annimmt): Wenn eine sprachliche Form F1 in einer bestimmten Sprechsituation in einer Funktion verwendet wird, in der typischerweise Formen verwendet werden, die über einen höheren Grammatikalisierungsgrad als F1 verfügen, kann der Sprecher den kommunikativen Effekt der Extravaganz hervorrufen. Darin liegt der kommunikative Nutzen dieser Verwendung. Demgegenüber ist es nach Haspelmath höchst fraglich, ob im Fall der Antigrammatikalisierung ein vergleichbarer kommunikativer Nutzen identifiziert werden könnte.


3 Durchführbarkeit und kommunikativer Nutzen

Wir sind nun in der Lage, unsere Fragestellung genauer zu formulieren. Was erklärt werden muss, ist D3, der Sachverhalt also, dass Sprachwandeltypen, die unter D1 subsumiert werden können, (extrem) viel häufiger als jene sind, die unter D2 subsumierbar sind.

Im Folgenden soll gezeigt werden, dass diese Asymmetrien hinsichtlich der Vorkommensfrequenz bereits auf Differenzen bezüglich der Bedingungen für die Möglichkeit der Initiierung von Prozessen des Typs D1 und D2 zurückführbar sind. Aus diesem Grund erübrigt sich dann auch eine Suche nach Gründen für diese Frequenzdifferenzen in der Fortführung von diesen Prozessen bzw. in möglichen Bedingungen für diese Fortführung.




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Konkret wird behauptet, dass die vier oben erwähnten Bedingungen im Fall der Verwendung einer Form F1 in einer Funktion, in der typischerweise Formen verwendet werden, die über einen höheren Grammatikalisierungsgrad als F1 verfügen, erfüllt sind. Demgegenüber sind diese Bedingungen in dem umgekehrten Fall der Verwendung einer Form F1 in einer Funktion, in der typischerweise Formen verwendet werden, die über einen niedrigeren Grammatikalisierungsgrad als F1 verfügen, als nicht erfüllt zu betrachten.

Wie oben bereits suggeriert, sehen wir aus logischen Gründen diese Bedingungen allerdings nicht als gleichrangig an. Die Durchführbarkeitsbedingungen sind gegenüber der Bedingung des kommunikativen Nutzens vorrangig. Die Verwendung einer sprachlichen Form mit einem für sie untypischen Grammatikalisierungsgrad setzt eine Transformation ihrer konzeptuellen Basis voraus. Wenn die Durchführbarkeit dieser Transformation von vornherein ausgeschlossen ist, stellt sich die Frage nach dem möglichen kommunikativen Nutzen erst gar nicht.

Die notwendige Transformation der konzeptuellen Basis wird während der normalen Sprachproduktion vollzogen. In einer bestimmten Sprechsituation verwendet der Sprecher eine Form F1 in einer Funktion, die eine Veränderung ihres Grammatikalisierungsgrads verlangt.6 Diese Transformation darf nicht allzu aufwändig sein. Sie darf den normalen Fortgang der Kommunikation nicht beeinträchtigen. Weder die Sprachproduktion noch die Verstehensprozesse seitens des Hörers dürfen derart überbelastet werden, dass ihre normale Durchführbarkeit gefährdet wird.

Die erste Bedingung, die erfüllt sein muss, um eine möglichst unaufwändige Transformation der konzeptuellen Basis eines sprachlichen Elements zu ermöglichen, ist die Zugänglichkeitsbedingung. Diese Bedingung besagt, dass das, was transformiert werden soll, der Kognition auch zugänglich sein muss.

Die Leitidee, die dieser Bedingung zugrunde liegt, stellt kein Novum dar, sondern wurde bereits von einigen Autoren als ein Kandidat für die Erklärung des Phänomens der Irreversibilität vorgeschlagen (vgl. etwa Lehmann 1985: 314; 2004: 25-26). Lehmann (2004: 25) stellt Folgendes fest:

Loss of autonomy of the sign corresponds to loss of freedom of the speaker to manipulate it. Where degrees of freedom shrink, automatization comes in. Automatization is a psychological correlate to grammaticalization as a structural notion."

Je höher der Grammatikalisierungsgrad einer sprachlichen Form, desto automatischer ist ihre Prozessierung und desto unzugänglicher wird ihre konzeptuelle Basis für kognitive Manipulationen (vgl. dazu Givón 1989: 237-267). Die konzeptuelle Basis lexikalischer Elemente ist dem Bewusstsein weitgehend zugänglich und kann daher durch die Anwendung kognitiver Mechanismen transformiert werden. Demgegenüber ist die konzeptuelle Basis von Elementen mit einem hohen Grammatikalitätsgrad – die sogenannten funktionalen Elemente – dem Bewusstsein während der normalen Sprachverarbeitung sehr schwer zugänglich und folglich auch nicht kognitiv transformierbar.




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Der Zugänglichkeitsgrad ist allerdings nicht nur durch die Form der Prozessierung bedingt, sondern auch durch die eigene Natur der konzeptuellen Basis einer sprachlichen Form. Die konzeptuelle Basis von lexikalischen Elementen besteht prototypisch aus spezifischen konzeptuellen Inhalten, die unschwer anschaulich gemacht werden können. Sie generiert (reiche, spezifische) mentale Bilder und ist in diesem Sinne dem Bewusstsein unmittelbar zugänglich.7 Dagegen besteht die konzeptuelle Basis funktionaler Elemente aus hoch abstrakten konzeptuellen Strukturen und Relationen (Talmy 2002), die dazu dienen, konzeptuelle Inhalte zu "konstruieren" und miteinander zu relationieren (Langacker 1987; 1991), die sehr schwer anschaulich sind. Elemente wie etwa ‘aber’, oder ‘dass’ sind durch konkrete mentale Bilder nicht erfassbar und in diesem Sinne dem Bewusstsein nicht zugänglich.

Aus dem Gesagten kann man also schlussfolgern, dass Antigrammatikalisierungsprozesse bereits daher gar nicht oder nur sehr schwer durchführbar sind, weil die konzeptuelle Basis der sprachlichen Formen, die als potentielle Ausgangselemente von solchen Prozessen fungieren könnten, kognitiv unzugänglich und folglich auch nicht transformierbar sind.

Gegen die Zugänglichkeitsbedingung könnte man allerdings den folgenden Einwand erheben: Die Transformation einer sprachlichen Form F1 mit einem bereits hohen Grammatikalisierungsgrad in eine andere F2 mit einem noch höheren ist genauso schwer – und müsste daher im Prinzip genauso selten vorkommen – wie die Transformation derselben Form F1 in eine andere F3 mit einem niedrigeren Grammatikalisierungsgrad. Der Zugänglichkeitsgrad wäre in beiden Fällen identisch.

Es ist jedoch wichtig zu sehen, dass Zugänglichkeit eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Transformation der konzeptuellen Grundlage einer sprachlichen Form ist. Damit diese Transformation zustande kommen kann, müssen noch die beiden weiteren Durchführbarkeitsbedingungen erfüllbar sein.

Die Postulierung der Substanzbedingung wurde auch durch Überlegungen bei Lehmann (2004: 23) motiviert:

"One important aspect of an explanation [für die Irreversibilität, E.H.U.] is that grammaticalization involves loss of information. Pieces of information can go nowhere, but they cannot come from nowhere. Grammaticalization involves meaning generalization, thus loss of semantic components. Meaning generalization just happens by itself, no fostering conditions being needed."

Obgleich diese Überlegungen bereits grundsätzlich auf dem richtigen Weg sind, müssen sie aus einem bestimmten Grund leicht umformuliert werden. Die Transformation der konzeptuellen Basis einer sprachlichen Form F1 bei einem Grammatikalisierungsprozess kann nicht als ein einfacher Verlust von konzeptuellem Material analysiert werden. Diese Transformation ist nicht möglich ohne die systematische Wirkung von bestimmten kognitiven Mechanismen, die aus der konzeptuellen Basis einer sprachlichen Form F1 die konzeptuelle Basis einer anderen Form F2 konstruieren. Dass wir es dabei mit hoch komplexen kognitiven Prozessen zu tun haben, wurde bereits von einigen Autoren deutlich gezeigt (vgl. u.a. Heine / Claudi / Hünnemeyer 1991a; Heine / Claudi / Hünnemeyer 1991b; Traugott / König 1991; Bybee 2005a, 2005b; 2005c).




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Eine der Grundbedingungen für die kognitive Transformation einer konzeptuellen Struktur A in eine andere B scheint darin zu liegen, dass die konzeptuelle Ausgangsstruktur A wenn nicht alle, so doch wenigstens die wichtigsten Elemente zur Konstruktion der konzeptuellen Zielstruktur B umfasst. Die Wirkung dieser Grundbedingung wurde bei kognitiven Transformationsprozessen unterschiedlicher Natur festgestellt und führte (im Rahmen der Theorie der konzeptuellen Metapher) zur Formulierung der sogenannten Invarianz-Hypothese:8

"In metaphoric mapping, for those components of the source and target domains determined to be involved in the mapping, preserve the image-schematic structure of the target, and import as much image-schematic structure from the source as is consistent with that preservation" (Turner 1993: 302-303).

Die Invarianz-Hypothese besagt einerseits, dass nicht alle Elemente der konzeptuellen Ausgangsstruktur zur Konstruktion der konzeptuellen Zielstruktur verwendet werden (es gibt also einen "Verlust" an Information), aber andererseits, dass die Ausgangsstruktur genug Elemente zur Konstruktion der Zielstruktur haben muss.

Unter Berücksichtigung dieser Argumente können wir die Substanzbedingung wie folgt formulieren: Die Transformation der konzeptuellen Basis einer sprachlichen Form F1 in die konzeptuelle Basis einer Form F2 ist nur dann möglich, wenn die erste über genügend konzeptuelle Elemente zur Konstruktion der zweiten verfügt.

Grammatikalisierungsprozesse erfüllen grundsätzlich diese Bedingung, Antigrammatikalisierungsprozesse jedoch nicht. Durch die Anwendung etwa von metaphorischen, metonymischen oder Blending-Prozessen ist es möglich, aus der gesamten konzeptuellen Basis einer lexikalischen Einheit Elemente zu selegieren, die als zentrale Bausteine bei der Konstruktion der konzeptuellen Basis einer funktionalen Einheit fungieren können.9 Zur konzeptuellen Basis etwa des englischen Substantivs back oder des katalanischen Substantivs cap (Kopf) gehört nicht nur die Bezeichnung eines bestimmten Körperteils, sondern auch die relative Position des jeweiligen Teils (Rücken, Kopf) in Bezug auf das Ganze (Körper). Dieser ‘konfigurationale’ Bedeutungsaspekt (vgl. Talmy 2002: 47-68) ist zentral für die Bildung der konzeptuellen Basis der entsprechenden Präpositionen back of (hinter) bzw. cap a (lokal, zielgerichtet: nach, zu), die aus diesen Substantiven jeweils entstanden sind.10 Im Gegensatz dazu besitzen funktionale Elemente nicht das nötige konzeptuelle Potential zur Bildung der komplexen konzeptuellen Basis lexikalischer Elemente. Damit z.B. die von Haspelmath (1999: 1059f.) erwähnte hypothetische Entwicklung with (Präposition) > tool (Substantiv) auf der konzeptuell-kognitiven Ebene möglich wäre, müsste wirklich von irgendwo anders her zusätzliche Information hinzu kommen.11

Die letzte Durchführbarkeitsbedingung ist die Manipulationsbedingung. Eine (möglichst unaufwändige) Transformation der konzeptuellen Basis einer sprachlichen Form während der normalen Sprachproduktion und -rezeption setzt die Anwendbarkeit von kognitiven Mechanismen voraus, die diese Transformation bewirken können.

Für den Fall der Grammatikalisierung sind in der Literatur fundamentale, allgemein einsetzbare kognitive Mechanismen vorgeschlagen worden, die in der Lage sein sollen, die für Grammatikalisierungsprozesse notwendigen Transformationen der konzeptuellen Basis einer sprachlichen Form hervorzubringen. Vor allem den Mechanismen der konzeptuellen Metapher (vgl. u.a. Heine 1993, 1997; Heine / Claudi / Hünnemeyer 1991a, 1991b) und der konzeptuellen Metonymie (Traugott 1980, 1982; Traugott / König 1991) ist in den letzten 15 Jahren in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden.




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Die konzeptuelle Metapher ist ein fundamentaler Mechanismus der kognitiven Organisation von Wissen (vgl. Lakoff 1987, 1994; Johnson 1987: Kap. 4-7). Vor allem sogenannte abstrakte Wissensbereiche, wie etwa Rationalität (Lakoff / Johnson 1980; Lakoff 1987, 1999), Verstehen (Johnson 1987), Kategorisierung und Prototypenbildung (Lakoff 1987, 1999) sind in entscheidender Weise mit Hilfe dieses Mechanismus' strukturiert. Die wichtigste Leistung der konzeptuellen Metapher liegt darin, dass Abstraktes in Begriffen von Konkretem konzeptualisiert wird. D.h.: wir verwenden Elemente aus konkreten, bereits gut strukturierten Wissensbereichen, um abstrakte, noch unstrukturierte Wissensbereiche zu konzeptualisieren.

Vor allem Bernd Heine hat an verschiedenen Stellen (Heine 1993, 1997; Heine / Claudi / Hünnemeyer 1991a, 1991b) gezeigt, dass Grammatikalisierungsprozessen metaphorische Projektionen des angesprochenen Typs zugrunde liegen. So sind z.B. die Transformationen der konzeptuellen Basis von Lexemen wie back, cap und megbé (Ewe: Rücken; vgl. Heine / Claudi / Hünnemeyer 1991: 161 ff.) bei den entsprechenden Grammatikalisierungsprozessen back (Substantiv) > back (of) (lokale Präposition), cap (Substantiv) > cap (a) (lokale Präposition) und megbé (Substantiv) > megbé (lokale Präposition) als konkrete Ergebnisse der Anwendung der allgemeinen konzeptuellen Metapher RAUM IST EIN OBJEKT analysierbar. Denn diese Metapher transformiert die konkrete räumliche Relation zwischen einem Objekt als Ganzes (Körper) und einem seiner Teile (Rücken), die konstitutiv für die Semantik der Ausgangslexeme ist, in die abstraktere, schematische, räumliche Relation zwischen unterschiedlichen Objekten, die konstitutiv für die konzeptuelle Basis der resultierenden Präpositionen ist. Erst die Durchführung dieser metaphorisch basierten Transformation (als kognitive Operation) während der normalen Sprachproduktion und -rezeption ermöglicht die Verwendung dieser sprachlichen Formen in der neuen Funktion als lokale Präpositionen.

Der Mechanismus der konzeptuellen Metapher ist also offenbar in der Lage, die für Grammatikalisierungsprozesse notwendigen Transformationen der konzeptuellen Basis einer sprachlichen Form zu bewirken. Vergleichbares vermag er jedoch im Falle von Antigrammatikalisierungsprozessen nicht zu leisten. Denn die konzeptuelle Metapher bewirkt lediglich konzeptuelle Transformationen des Typs konkret > abstrakt nicht aber des umgekehrten Typs abstrakt > konkret. Genau dieser Typ von konzeptuellen Transformationen wäre jedoch für Antigrammatikalisierungsprozesse nötig.

Elizabeth Traugott hat neben der Metapher auch auf die Metonymie als einen weiteren, für die Initiierung von Grammatikalisierungsprozessen relevanten kognitiven Mechanismus hingewiesen (vgl. u.a. 1989, 1990; Traugott / König 1991; vgl. auch Heine / Claudi / Hünnemeyer 1991: 164-167).

Die konzeptuelle Metonymie gilt auch als ein zentraler kognitiver Mechanismus, der in maßgeblicher Form für die Organisation unserer konzeptuellen Struktur verantwortlich ist (vgl. Barcelona 2003a, 2002).12 Traugott / König (1991: 210) definieren sie in Anlehnung an Anttila (1972) wie folgt: "metonymy is semantic transfer through contiguity and is therefore indexical". Dabei bedeutet "indexical", dass sich der Bedeutungstransfer auf Bedeutungsaspekte bezieht, die in bestimmten Gebrauchskontexten – vor allem in der Form von konversationellen Implikaturen – entstehen.




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Traugott / König (1991) analysieren das Wirken der konzeptuellen Metonymie u.a. anhand der Entwicklung der Bedeutung der englischen Konjunktion since. In (1)(a) drückt since ausschließlich eine temporale Relation zwischen den beiden Propositionen aus. In gewissen Gebrauchskontexten (vgl. Traugott / König 1991: 195-199) kann aber neben dieser temporalen Grundbedeutung eine kausale konversationelle Implikatur entstehen. Das ist der Fall von (1)(b), wo die Proposition "Susan left him" als Ursache der Proposition "John has been very miserable" interpretierbar ist. Infolge einer hohen Wiederholungsfrequenz ist diese kausale Implikatur mit der Zeit konventionalisiert worden. Die kausale Lesart tritt dann in den entsprechenden Gebrauchskontexten anstelle der ursprünglichen temporalen Bedeutung als neue Grundbedeutung von since ein. Das ist der Fall in (1)(c), wo since als reine Kausalkonjunktion fungiert.

(1)

I have done quite a bit of writing since we last met.

Since Susan left him, John has been very miserable.

Since you are not coming with me, I will have to go alone.

Diese Transformation ist metonymisch (oder genauer: synekdotisch) fundiert in dem Sinne, dass die eigentliche, ursprüngliche Bedeutung einer sprachlichen Form (since, in dem kommentierten Fall) durch einen mit dieser ursprünglichen Bedeutung assoziierten Bedeutungsaspekt substituiert wird. Dabei handelt es sich um eine kausale konversationelle Implikatur, die im Kontext der Verwendung von since zum Ausdruck einer temporalen Sequenz von Ereignissen entstanden ist.

Für die konzeptuelle Metonymie gilt dasselbe, was oben bereits für die konzeptuelle Metapher konstatiert wurde: Wie dieses und andere Beispiele zeigen, trägt die Metonymie entscheidend zur Transformation der konzeptuellen Basis sprachlicher Formen im Fall von Grammatikalisierungsprozessen bei; sie ist jedoch nicht in der Lage, die konzeptuellen Transformationen zu bewirken, die für die Durchführung von Antigrammatikalisierungsprozessen nötig wären. Aus einem Bedeutungsaspekt eines lexikalischen Elements kann die konzeptuelle Basis eines funktionalen Elements gebildet werden. Genauso kann aus einem Bedeutungsaspekt eines funktionalen Elements die konzeptuelle Basis eines anderen funktionalen Elements entstehen. Als ziemlich unwahrscheinlich muss dagegen gelten, dass aus einem Bedeutungsaspekt eines funktionalen Elements die konzeptuelle Basis eines Lexems entstehen kann. Das semantische Potential funktionaler Elemente ist hierfür einfach zu niedrig.

Neuere Arbeiten zur konzeptuellen Metapher und Metonymie betrachten sie nicht mehr als unterschiedliche, voneinander unabhängige kognitive Mechanismen bzw. Prozesse. Stattdessen setzt sich allmählich die Auffassung durch, dass sie zwei Phasen bzw. Bestandteile eines einzigen kognitiven Prozesses bilden.13 Diese Auffassung wird auch bereits bei Heine / Claudi / Hünnemeyer (1991: 164-167) bezüglich der Wirkung von Metapher und Metonymie bei Grammatikalisierungsprozessen vertreten:




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"It would seem that metaphor and metonymy form different components of one and the same process, i.e. grammaticalization, leading from ‘concrete’ to ‘abstract’, grammatical, concepts. On the one hand, this process is made up of a scale of contiguous entities which are in metonymic relationship to one another. On the other hand, it contains a smaller number of more salient and discontinuous categories, such as SPACE, TIME, OR QUALITY. The relation between such categories (...) is metaphoric. ("Heine / Claudi / Hünnemeyer 1991: 165).

Diese Ansicht resultiert vor allem aus der Beobachtung, dass die metaphorisch fundierte Transformation der konzeptuellen Basis einer sprachlichen Form eine Selektion von bestimmten Bedeutungsaspekten voraussetzt. Diese Selektion ist metonymischer bzw. synekdotischer Natur. Die konzeptuelle Metonymie selegiert z.B. aus der gesamten konzeptuellen Basis des katalanischen Lexems cap jene Aspekte, die für die Bildung der konzeptuellen Basis der Präposition cap a relevant sind. Die selegierten Aspekte werden dann mittels der allgemeinen konzeptuellen Metapher RAUM IST EIN OBJEKT vom Objektkonzept CAP zum Raumkonzept CAP A projiziert.

Schließlich können wir also festhalten, dass der komplexe kognitive Mechanismus Metapher-Metonymie für die konzeptuellen Transformationen des Typs konkret > abstrakt verantwortlich gemacht werden kann, die Grammatikalisierungsprozessen zugrunde liegen. Grammatikalisierungsprozesse erfüllen somit die Manipulationsbedingung. Demgegenüber ist dieser komplexe Mechanismus im Falle der Antigrammatikalisierung aus den oben bereits erwähnten Gründen als unanwendbar zu betrachten.

Es gibt bislang meines Wissens keine Untersuchung zu den kognitiven Grundlagen von Antigrammatikalisierungsprozessen. Deshalb können wir hier auch keine fundierten Schlüsse über eine eventuelle Anwendbarkeit anderer allgemein einsetzbarer kognitiver Mechanismen ziehen. Da aber kognitive Manipulierbarkeit kognitive Zugänglichkeit voraussetzt, und da die Zugänglichkeit der konzeptuellen Basis einer sprachlichen Form wiederum von deren Natur bzw. Abstraktionsgrad abhängt, ist die Frage nach der Manipulierbarkeit im Falle der Antigrammatikalisierung allerdings eher als zweitranging zu betrachten.14


4 Schlussfolgerung

Durchführbarkeitsbedingungen stellen so genannte Rand- bzw. notwendige Bedingungen dar. Die Initiierung eines Grammatikalisierungs- oder Antigrammatikalisierungsprozesses setzt nur dann ein, wenn die drei beschriebenen Bedingungen erfüllt sind. Ist die konzeptuelle Basis einer sprachlichen Form nicht zugänglich (Zugänglichkeitsbedingung), ist ihr konzeptuelles Potential zu niedrig (Substanzbedingung) oder ist sie nicht kognitiv manipulierbar (Manipulationsbedingung), so können die für die Initiierung dieser Prozesse notwendigen konzeptuellen Transformationen nicht eintreten.

Die drei Durchführbarkeitsbedingungen sind nicht vollkommen unabhängig voneinander. Zwischen ihnen können wir – zunächst aus rein logischen Gründen – folgende Relationen feststellen: Kognitive Manipulierbarkeit setzt als eine notwendige Bedingung kognitive Zugänglichkeit voraus. Ist die konzeptuelle Basis einer sprachlichen Form nicht oder nur unzureichend zugänglich, so kann sie auch nicht kognitiv manipuliert werden. Die Zugänglichkeit der konzeptuellen Basis einer sprachlichen Form hängt aber wiederum von deren Natur bzw. Abstraktionsgrad ab.




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Bei der Bedingung des kommunikativen Nutzens, so wie sie in Anlehnung an Haspelmath (1999) dargestellt wurde (vgl. oben Kap. 1 und v.a. 2), handelt es sich dagegen um eine verursachende Bedingung.15 Sie stellt eine verursachende Voraussetzung für das Eintreten eines Grammatikalisierungs- bzw. Antigrammatikalisierungsprozesses dar. Ist die Verwendung einer sprachlichen Form in einer für sie ungewöhnlichen Funktion für den Sprecher kommunikativ nützlich (kann er beim Hörer etwa den kommunikativen Effekt der Extravaganz hervorrufen), so kann das dazu führen, dass der Sprecher sie eben in dieser neuen Funktion verwendet.

Verursachende Bedingungen bzw. Faktoren sind allerdings normalerweise in einen Komplex weiterer Bedingungen eingebettet, der nur als Ganzes hinreichend für das Auftreten der entsprechenden Wirkung ist. Das ist auch hier der Fall. Die kausal relevante, verursachende Bedingung des kommunikativen Nutzens ist nicht hinreichend für ihre Wirkung, sondern verursacht diese nur im Verbund mit den (notwendigen) Durchführbarkeitsbedingungen.

In der vorliegenden Arbeit haben wir versucht zu zeigen, dass dieser Bedingungskomplex im Fall der Grammatikalisierung als erfüllt zu betrachten ist. Grammatikalisierungsprozesse erfüllen einerseits die drei Durchführbarkeitsbedingungen, und andererseits ist deren Initiierung für den Sprecher als kommunikativ nützlich zu betrachten. Demgegenüber erfüllen Antigrammatikalisierungsprozesse keine der notwendigen Durchführbarkeitsbedingungen. Außerdem muss bezweifelt werden, dass sich irgendein sinnvoller kommunikativer Effekt ausmachen lässt, den der Sprecher mit der Initiierung eines solchen Prozesses erzielen könnte.

Die Differenz hinsichtlich des Erfülltseins dieses Bedingungskomplexes liefert uns eine plausible Erklärungsgrundlage für den Sachverhalt der Irreversibilität der Grammatikalisierung.


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Anmerkungen

1 Vgl. speziell die Aufsätze in Language Sciences 23/2, 2001.

2 Haspelmath (2002: 10f.) liefert uns eine Liste mit nur acht Sprachwandelprozessen, die als echte Fälle von Antigrammatikalisierung geltend gemacht werden können. Demgegenüber finden wir etwa bei Heine / Kuteva (2002) über 400 (Typen von) Grammatikalisierungsprozesse(n), die mit Daten aus mehr als 500 unterschiedlichen Sprachen dokumentiert werden.

3 Für eine kritische Rezeption dieses Modells vgl. Geurts (2000). Eine Replik auf diese Kritik finden wir in Haspelmath (2000).

4 Vgl. Haspelmath (2002: 11-15) für die Diskussion weiterer Fälle von Degrammatikalisierung, die die erwähnten Bedingungen nicht erfüllen.

5 Diese Fehlinterpretation scheint vielen kritischen Betrachtungen der Irreversibilitätshypothese zugrunde zu liegen. Vgl. etwa Janda (2001), Newmeyer (2001) und aufklärend dazu Lehmann (2004: 15).

6 Heine / Claidi / Hünnemeyer (1991: 164-167) bezeichnen diese situationsbedingten Transformationen als “context-induced reinterpretations”.

7 Heine / Claudi / Hünnemeyer (1991: 151-155) und Bybee (2005: 8-9) weisen darauf hin, dass als Ausgangselemente von Grammatikalisierungsprozessen vor allem solche Lexeme fungieren, die ganz konkrete, zum Teil universale Elemente unserer physikalischen Interaktion mit der Umwelt (wie etwa Körperteile) bezeichnen.

8 Für die Wirkung dieser Bedingung bei analogischen Prozessen vgl. Gentner (1986: 3ff.).

9 Da der Grammatikalisierungsgrad einer Form F1 mit ihrem konzeptuellen Potential grundsätzlich negativ korreliert, kommen wir zu der folgenden Generalisierung: Durch die Anwendung von kognitiven Mechanismen ist es möglich, aus der gesamten konzeptuellen Basis einer sprachlichen Form F1 Elemente zu selegieren, die als zentrale Bausteine bei der Konstruktion der konzeptuellen Basis einer anderen Form F2 fungieren können, wenn F1 über einen niedrigeren Grammatikalisierungsgrad verfügt als F2.

10 Beide Entwicklungen sind typische Beispiele für das Wirken der konzeptuellen Metapher in Grammatikalisierungsprozessen. Die Bildung der konzeptuellen Grundlagen der Präpositionen aus jenen der Substantive folgt konkret der “categorial metaphor” RAUM IST EIN OBJEKT (vgl. Heine / Claudi / Hünnemeyer 1991: 157 ff.).

11 Ähnliche Argumente gelten auch für die phonetisch-phonologische Ebene.

12 Die wirkliche Bedeutung der Metonymie als kognitiver Mechanismus wurde allerdings erst in den letzten Jahren (vor allem dank der Arbeiten von Barcelona) erkannt. Dirven (1985: 98) bezeichnet die Metonynie noch als “minor process” im Vergleich zu der Metapher, die er als “major associative leap” betrachtet.

13 Vgl. dazu vor allem Barcelona (2003a, 2003b). Vgl. auch Goossens (1990), der den aus der Zusammenwirkung von Metaphern und Metonymie resultierenden komplexen Mechanismus ‘metaphtonymy’ nennt.

14 Zu den Relationen zwischen den Bedingungen siehe auch die Schlußfolgerung.

15 Offen bleibt, ob es sich um die einzige handelt.