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Grit Fröhlich (Berlin)



Cesare Segre (2004): Schriften zu Literatur und Theater. Aus dem Italienischen von Käthe Henschelmann. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von David Nelting. Tübingen: Niemeyer. (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft, 64)



Wenn Umberto Eco die neusten Entwicklungen seiner Semiotik in einem Buch zusammenfaßt, so läßt die deutsche Übersetzung in der Regel nicht lange auf sich warten. Weniger Beachtung fand bisher hierzulande die Theorieproduktion anderer semiotischer Schulen aus Italien. Ein Verdienst dieser Übersetzung ausgewählter Schriften Cesare Segres ist es daher, dem deutschsprachigen Leser auch über den bisherigen Kreis von Romanisten hinaus diese Richtung der italienischen Literatursemiotik näher bringen zu wollen.

Es handelt sich um eine Auswahl von Artikeln aus verschiedenen Büchern Segres, die in den Jahren zwischen 1984 und 1991 erschienen. Thematisch sind sie in drei Teilen geordnet: einem ersten "Zur Semiotik des Mittelalters", einem zweiten "Zur Semiotik des Theaters" und einem dritten mit der Überschrift "Literatursemiotik heute". Segres Schriften zu Literatur und Theater sind v.a. für zwei Arten von Lesern interessant: In erster Linie ist es eine Fundgrube für Literaturwissenschaftler, die ihren Horizont auf der Suche nach Methoden zur Analyse und Interpretation von Texten erweitern wollen. Insbesondere werden die Schriften jenen entgegenkommen, die Sprach- und Literaturwissenschaft zusammendenken, denn Segres Ansatz ist eine linguistisch orientierte philologische Semiotik. Darüber hinaus ist das Buch auch für den historisch interessierten Leser beachtenswert. Da eine Reihe der übersetzten Artikel inzwischen über zwanzig Jahre alt sind, geben sie einen Einblick in die Entwicklung des Verhältnisses von Semiotik und Literaturwissenschaft in der jüngsten Vergangenheit und machen die Geschichtlichkeit der Semiotik als Methode deutlich.

Der Ansatz von Segres philologischer Semiotik besteht allgemein darin, den literarischen Text als Kommunikationsprozeß zu verstehen. Allerdings gibt es kein vorgefertigtes Schema für die Textanalyse, wie wir es etwa aus der Semiotik eines Greimas kennen. Segre geht jeweils vom konkreten Text aus und entwickelt an ihm ein maßgeschneidertes Analysemodell. Besondere Beachtung widmet er dabei auch dem kulturellen Kontext. Dieser Aufmerksamkeit für die Gegebenheiten des konkreten Textes ist es zu verdanken, daß Segres Untersuchungen – obwohl sie bereits vor über einem Jahrzehnt erschienen – nach wie vor aktuelle Fragen beantworten. Segre liegt nichts daran, den neusten Theoriemoden zu folgen. Sein Hauptanliegen ist das Verstehen von Texten. In der Methodenvielfalt, die Segre dabei anwendet, zeigt sich eindeutig seine Vorliebe für strukturalistische Oppositionen, die Kultursemiotik Lotmans, Bachtins Romantheorie sowie die Gadamersche Hermeneutik.

Der erste Teil des Buches zur Semiotik des Mittelalters beschäftigt sich nicht, wie man meinen könnte, mit der Zeichentheorie des Mittelalters, vielmehr möchte er Zeichen deuten, die uns diese Epoche v.a. in Form von Texten hinterlassen hat. Er beginnt mit der Analyse von Vorstellungen des Jenseits anhand mythologischer Überlieferungen aus den verschiedensten Kulturkreisen von den Kelten bis zum Islam. Dabei geht Segre davon aus, daß die Erfindungen der menschlichen Einbildungskraft, wie sie sich in diesen Texten manifestieren, nicht wild wuchern, sondern bestimmten Regeln folgen. Diese Regeln nennt er auch Schemata, denkt sie aber freilich nicht starr, sondern als der sprudelnden Dynamik der Imagination angemessen. Segres Schemata beruhen auf Erfahrungen, und diese können selbstverständlich nicht Erfahrungen einer jenseitigen Welt sein, sondern nur die der Welt, in der wir leben. So erklärt er, warum sich die Vorstellungen vom Jenseits nicht allzu stark von der irdischen Welt unterscheiden: Im Paradies erwarten uns sinnliche Freuden, die wir schon aus dem Diesseits kennen, nur in übersteigertem Maße. Der Phantasie sind also Grenzen gesetzt.




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Darüberhinaus stellt Segre fest, daß sich die Vorstellungen vom Jenseits in verschiedenen Kulturen erstaunlich ähnlich seien. Er spricht daher auch von epistemischen und archetypischen Schemata, die er als kulturübergreifende kategoriale Strukturen begreift. Hinter diesen Schemata verbergen sich Modelle, die die Beziehung von Leben und Tod in verschiedenen Mythen strukturieren. Es handelt sich unübersehbar um strukturalistische Modelle, die die Semantik und Syntax des Guten (Paradies) und Bösen (Hölle) untersuchen und dabei mit Binaritäten wie horizontal/vertikal, Licht/Finsternis arbeitet. Erweitert wird das Ganze durch die Perspektive Lotmanscher Kultursemiotik, weshalb der kulturelle Kontext der Texte jeweils Beachtung findet. So fänden sich vertikale Jenseitsvorstellungen mit einer Unterwelt im Gegensatz zur Oberwelt vor allem in Kulturen mit Erdbestattungen. Horizontale Vorstellungen, die das Jenseits entweder im Westen oder Osten ansiedelten, seien dagegen für seefahrende Völker typisch, die den Horizont als wichtigsten Bezugspunkt hätten.

Aber Segre praktiziert keineswegs nur eine synchrone Analyse von Mythen, sondern trägt, wie in der italienischen Semiotik allgemein üblich, auch der diachronen Dimension Rechnung. Dazu führt er die Historischen Schemata ein, die im Gegensatz zu den vorgenannten kulturspezifisch sind. Hinter diesen Schemata verbergen sich historische Bezüge zu Überlieferungen der eigenen Kultur: Denn Jenseitsvisionen bezögen sich häufig auf traditionelle Texte aus dem angestammten Kulturkreis – womit die Bedeutung des kulturellen Kontextes für die Textanalyse einmal mehr unterstrichen wird.

Daß es für Segre jenseits dieser Schemata keine Vorstellungen der Einbildungskraft gibt, hängt damit zusammen, daß er sie anhand von literarischen Texten untersucht und diese Texte wiederum als Kommunikationszusammenhang begreift: Ohne Regeln keine Kommunikation – ohne Schemata sind Vorstellungen vom Jenseits nicht kommunizierbar.

Auf die Analyse der Jenseitsvorstellungen folgt eine Untersuchung des Wahnsinns als Thema der Literatur des Mittelalters. Segre erstellt eine offene viergliedrige Typologie worin er zwischen dem Wahnsinn des einfachen Volkes, dem Ritual des Ritterwahnsinns, dem karnevalesken Wahnsinn sowie der Verwirrtheit des vom bösen Geist Besessenen unterscheidet. Diese Phänomenologie zieht er aus zahlreichen literarischen Texten: von Tristan und Isolde über Ritterromane wie den Rasenden Roland und Don Quijote, Adam de la Halles Jeu de la Feuillée bis hin zum altokzitanischen Versroman Flamenca, um nur einige zu nennen. Wieder begibt er sich auf die Suche nach binären Strukturen in den Texten, nach Oppositionen von Natur und Kultur wie wild/höfisch, Schrei/Sprache, ohne dabei jedoch allzu schematisch vorzugehen. Dies ist auch dem Umstand zu verdanken, daß Segre hier die strukturalistisch-kultursemiotischen Modelle mit den theoretischen Anregungen Bachtins zum Karneval zusammendenkt.

Bachtin ist auch der Ausgangspunkt des nächsten Abschnitts über die mittelalterlichen Ursprünge des Romans. Segre versucht, Bachtins Romantheorie so zu modifizieren, daß sie auch für die Epoche des Mittelalters gelten kann. Er läßt sich vor allem von dessen Polyphonie-Begriff leiten und knüpft in diesem Zusammenhang an die Dichotomie zwischen einsprachigem und vielsprachigem Romanstil an. Anders als Bachtin stellt er weder den einen noch den anderen als einzig legitimen Stil hin. Charakteristisch für Segres Ansatz ist, die Polyphonie des Romans zum Teil auch als Intertextualität zu verstehen: nämlich dann, wenn seine Vielstimmigkeit darauf beruht, daß Texte anderer Gattungen wie Briefe oder Gesänge eingeschoben werden. In jener Intertextualität sieht Segre den tieferen "Sinn mittelalterlichen dichterischen Schaffens" (38), ohne daß der Intertextualitätsbegriff hier poststrukturalistisch zu verstehen ist.




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Daß sich Segre in einem anderen theoretischen Kontext bewegt, macht auch der Abschluß des ersten Teils über die Semiotik des Mittelalters deutlich. Er endet mit einem Kapitel über methodische philologische Fragen beim Verstehen der Kultur des Mittelalters und der aus ihr hervorgegangenen Texte. Vor dem Hintergrund einer von Segre empfundenen Krise der Romanischen Philologie als Folge der Spaltung von Sprach- und Literaturwissenschaft setzt er sich darin mit Theorien von Hans-Robert Jauss und vor allem Paul Zumthor auseinander. Von letzterem schätzt er den kommunikativen Begriff von Literatur, lehnt aber einige dekonstruktivistische Einschläge seines Denkens ab. Insgesamt plädiert Segre als Philologe und Semiotiker für eine Hermeneutik in der Tradition Schleiermachers, Diltheys und Gadamers, gegen die dekonstruktivistische "Hermeneutik des Nicht-Verstehens": "Die Grenzen unseres Textverständnisses geben uns, anders ausgedrückt, nicht das Recht zu behaupten, daß nichts zu verstehen sei" (56).

Die Textbeispiele, anhand derer Segre seine Analysen entwickelt, stammen neben der Literatur auch immer wieder vom Theater. Und so widmet sich der gesamte zweite Teil des Buches einer Theatersemiotik. Seine Grundannahme ist, Theater mit einem kommunikationstheoretischen Modell beschreiben zu können, das sich vom Kommunikationsmodell des literarischen Textes grundsätzlich unterscheidet. Ausgehend von Aristoteles Poetik legt er dem Drama das Prinzip der Nachahmung zu Grunde. Vor allem entwickelt Segre seine Modelle aber vor dem theoretischen Hintergrund des russischen Formalismus und der Lotmanschen Kultursemiotik. Stellenweise bezieht er auch die Sprechakttheorie ein, so daß sein Ansatz auch für jenes Paradigma der Theatersemiotik anschlußfähig sein könnte, das mit dem Begriff der Performativität arbeitet. Das Kommunikationsmodell, das Segre für das Theater entwirft, besteht aus zwei ineinander verschachtelten "Kommunikationsströmen" mit verschiedenen Richtungen: Einer verläuft vom abwesenden Autor (Sender) zum Publikum (Empfänger); der andere findet zwischen den Schauspielern auf der Bühne statt, die dort zwischenmenschliche Kommunikation nachahmen. Beschrieben werden beide Kommunikationsströme mit dialogischen ICH-DU-Modellen. Diese verkomplizieren sich nochmals für den Fall des Theaters im Theater oder des Spiels "en abyme", das Segre konkret bei Shakespeare und Pirandello untersucht. Das generelle Problem einer Theatersemiotik, die äußerst komplexen Bedeutungsbildungsprozesse einer Theateraufführung in ein überzeugendes zeichentheoretisches Modell zu fassen, bleibt dennoch auch bei Segre bestehen. Dies liegt unter anderem daran, daß Segre aufgrund seiner linguistischen Ausrichtung vor allem die Seite der verbalen Kommunikation betrachtet, die für das Theater enorm wichtige Dimension der nonverbalen Kommunikation dagegen eher am Rande untersucht.

Im dritten Teil des Buches über "Literatursemiotik heute" findet sich schließlich die Auseinandersetzung mit einer Fülle von Methoden der Philologie und Literaturwissenschaft. Er beginnt mit einem Kapitel zu Aufstieg und Niedergang der Stilistik, in dem sich Segre den Theorien von Bally, Spitzer, Jakobson und den russischen Formalisten sowie dem von ihm geschätzten Bachtin widmet. Es folgt ein Überblick über die angelsächsische Point-of view-Forschung, der wiederum die Bachtinsche Auffassung von der Vielstimmigkeit des Romans zur Seite gestellt wird, aus der eine Vielfalt der Perspektiven sowie eine Pluralität der Stile (statt dem Stil eines Autors) resultiert.

In einem anderen Artikel untersucht Segre ausgehend von Karl Bühlers Sprachtheorie die Körperlichkeit von Sprache. Dabei analysiert er, wie sich eine auf der Körperwahrnehmung basierende räumlichen Orientierung in Wortschatz und Grammatik verschiedener romanischer Sprachen wiederfindet. Bemerkenswert ist weiterhin ein Beitrag Segres zur Kanondebatte aus der Perspektive der Kultursemiotik der Tartuer Schule. Dieser Ansatz ist zweifellos dazu geeignet, auf die Frage zu antworten, welche Texte zum Kanon einer Kultur gehören, da ihm ein Modell von Kultur zu Grunde liegt, das Kultur als Hervorbringung von Texten versteht. Kanonveränderung können dabei durch die Veränderung des Selbstbildes oder "Selbstmodells" von Kultur erklärt werden.




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Über die Auseinandersetzung mit den verschiedensten Theorien hinaus widmet sich Segre immer wieder der Analyse konkreter Texte, die, wie bereits erwähnt, sein Hauptanliegen ist. Neben einer Untersuchung von möglichen Welten in Kafkas unvollendeten Romanen ist vor allem Segres Blick auf die von Sigmund Freud verfaßten Krankengeschichten interessant. Statt aus der üblichen psychoanalytischen Perspektive betrachtet er sie aus literaturtheoretischer Sicht, indem er Freuds Erzähltechnik analysiert und sie in die Nähe des Romans stellt.

Bei aller Vielfalt an Methoden, die Segre auf den literarischen Text anwendet, bleibt die Grundannahme stets das Verständnis von Literatur als Kommunikationsprozeß. Dabei ist für ihn der gesamte Verlauf der Kommunikation vom Autor als Sender über die Botschaft des Werks bis hin zum Leser als Empfänger an allen seinen Stationen gleich wichtig. Deswegen auch kritisiert Segre die Einseitigkeit der leserorientierten Literaturwissenschaft. Aus dem selben Grund positioniert er sich gegen den Dekonstruktivismus und die New Philology, die mit ihrer Haltung des "Nicht-Verstehens" das Gelingen der Kommunikation als unmöglich darstellten.

Die Auswahl von Segres Schriften präsentiert insgesamt eine anregende Mischung von Methoden zur Analyse literarischer Texte, und es bleibt zu hoffen, daß Sprach- und Literaturwissenschaftler hierzulande einige Anregungen dieser beachtenswerten Literatursemiotik aufgreifen. Der historisch interessierte Leser hätte sich allerdings gewünscht, die ausgewählten Artikel aus Segres Theorieproduktion ihren jeweiligen Erscheinungsjahren besser zuordnen zu können, zumal diese zum Teil erheblich weit zurückliegen. Einem Verständnis dieser Schriften vor dem Kontext der Theoriedebatten, in deren Zusammenhang sie entstanden, wäre es in jedem Falle zuträglich gewesen. Umso mehr gilt dies für eine Theorie, die sich der Geschichtlichkeit des eigenen Standpunktes so stark bewußt ist, wie die philologische Semiotik Cesare Segres.

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