PhiN 33/2005: 73




Monika Dorothea Kautenburger (Ulm)




Das Bild des Maghreb in der modernen frankophonen Prosa (Albert Camus, Michel Tournier, Tahar Ben Jelloun)




Maghrebi Cultures in Francophone Literature
The study examines the description of Maghrebi cultures and populations in 20th century Francophone literature. Three examples of modern fiction have been chosen. Whereas the story of the Algerian born French author Albert Camus focuses on a mainly European colonial society in a Mediterranean city portrayed by the well-known 1st person narrator Meursault, the settings of the two novels differ. Michel Tournier uses naturalistic methods in order to convey a realistic picture of Maghrebi societies in and outside Northern Africa. The postcolonial Moroccan author Tahar Ben Jelloun presents a plot narrated in the tradition of an oriental storyteller. Due to the sexual topic, the ambiguity of the events, and the non linear narrative structure this modern story bears many features of the Arabian Nights.


1 Einleitung

Die Thematisierung des Maghreb und der arabisch-orientalischen Welt in der europäischen Literatur blickt auf eine lange Tradition zurück. In früheren Jahrhunderten wandten sich die Autoren solcher Werke bevorzugt an Leser, die eine exotische Thematik, morgenländisches Lokalkolorit, landeskundliche Informationen in Form von Reiseliteratur oder modern ausgedrückt, Ethnoliteratur erwarteten. Beispiele findet man

  • in Werken der Aufklärung wie Montesquieus Lettres Persanes oder die philosophischen Erzählungen und Romane von Voltaire, die in orientalistischer Verkleidung die heimische Gesellschaftsform und Politik kritisierten,
  • in Reiseberichten vieler Intellektueller des 19. Jahrhunderts1 und archäologischen Romanen wie Théophile Gautiers Roman de la momie,
  • aber auch in Kriminalromanen wie Agatha Christies Kriminalroman Death on the Nile oder ihrem historischen Kriminalroman Death comes as an end.

Auch in der modernen frankophonen Literatur finden sich zahlreiche Werke, deren Handlung in Nordafrika spielt. Aber der Blickwinkel der Betrachter hat sich verschoben. In der folgenden Studie werden drei Prosawerke aus dem 20. Jahrhundert vorgestellt, die auf unterschiedliche Weise maghrebinische Kulturen und Gesellschaften darstellen: Albert Camus' kürzere Erzählung L'Etranger, Michel Tourniers Roman La goutte d'or und Tahar Ben Jellouns Roman L'enfant de sable.




PhiN 33/2005: 74


2 Albert Camus – L'Etranger

Der mit Sicherheit bekannteste frankophone Autor, der die Handlungen seiner literarischen Werke überwiegend in den Maghreb legt, ist Albert Camus, ohne dass seine Bekanntheit aus der Tatsache abzuleiten ist, dass er als "pied noir", der in Algerien geboren wurde und einen Großteil seines Lebens dort verbrachte, exotisches Ambiente zum Markenzeichen seiner Literatur machte. Die Darstellung der nordafrikanischen Welt in seinen literarischen Texten hat die Forschung nur peripher interessiert,2 mehr Aufmerksamkeit widmete man seiner politischen Haltung im Algerienkrieg.3

Camus steht für die Thematisierung der 'absurdité' der menschlichen Existenz in jedweder Gesellschaft, für die Ausweglosigkeit des menschlichen Schicksals und die 'solidarité' als wichtigste Voraussetzung für das menschliche Zusammenleben. Obwohl er selbst es ablehnte, wurde er ideologisch immer in die Nähe von Jean-Paul Sartre gerückt und als einer der beiden großen französischen Existenzialisten angesehen.

Der Grund für diese Sichtweise mag in der traditionellen Kategorisierung der Romanischen Philologie liegen, die Camus als französischen Autor des 20. Jahrhunderts ansieht, weniger als Repräsentanten einer frankophonen nordafrikanischen Literatur.

Der Autor hat sich in seinen literarischen Werken politisch selten dezidiert geäußert, durch seine 'existenzialistische' Einstellung waren ihm grundlegende menschliche Belange immer wichtiger als politische. Erstaunt hat seine Haltung im Algerienkonflikt. Camus war ab 1938 journalistisch tätig beim Alger-Républicain, einer Zeitung, die sich schnell zum Organ der kommunistischen Partei entwickelte. Es gilt als wahrscheinlich, dass Camus sich zu einer redaktionellen Tätigkeit hat überreden lassen, Tatsache ist, dass er in seinen damaligen Artikeln deutlich auf die Nachteile des französischen Kolonialsystems für die einheimische Bevölkerung aufmerksam machte. Doch bald verließ er die Redaktion der Zeitung wieder.

Camus ist erzogen worden in einer Zeit, in der eine algerische Unabhängigkeit undenkbar war. Im Algerienkrieg ab 1954 lässt er sich zunächst zu keiner politischen Stellungnahme hinreißen, wird aber von Jean-Louis Servan-Schreiber, dem Begründer und Herausgeber von L'Express, für Kommentare gewonnen, in denen er den Terror des Front de la Libération Nationale verurteilt (Albes 1999: 21–30). In seinem theoretischen Werk L'Homme Révolté analysiert Camus verschiedene Formen der Rebellion und Revolte gegen grundsätzlich humanitäre oder politische Ideologie, fällt aber kein eindeutiges Urteil (Vulor 2000: 59).

Camus' Rolle im Algerienkonflikt soll an dieser Stelle nicht detailliert behandelt werden, aber es drängt sich die Frage auf, welche Beziehung er als Schriftsteller zu der algerischen Bevölkerung hatte und wie sich diese in seiner Erzählung L'Etranger niederschlägt.

Die algerischen Städte Algier und Oran wie auch arabische Dörfer in der Sahara bilden den Handlungsrahmen seiner Hauptwerke. Die Hauptfiguren sind – sieht man von zwei Novellen in L'Exil et le Royaume ab – wie Camus selbst 'pieds noirs', Araber fungieren allenfalls als Nebenfiguren.4




PhiN 33/2005: 75


In der 1942 erschienenen Geschichte L'Etranger (= Camus 1975) erzählt Meursault, ein französischer Handelsangestellter, in der Ich-Form eine entscheidende Episode seines Lebens, die zu seiner Inhaftierung und Verurteilung führt. Er lebt in dem europäischen Stadtteil von Algier, im Faubourg der Arbeiter und kleinen Angestellten. Als ihn die Nachricht von dem Tod seiner Mutter erreicht, zeigt er kaum emotionale Regungen, ebenso teilnahmslos verhält er sich auf ihrer Beerdigung. Ein paar Tage nach der Beerdigung verbringt Meursault mit seinen Freunden und seiner Freundin Marie, alles Europäer, einen Tag am Strand in der Nähe von Algier, wo das unfassbare Unglück geschieht. Die Gruppe wird bereits vormittags von ein paar Arabern verfolgt. Später am Nachmittag zieht einer der Araber ein Messer und bedroht Meursault, der irritiert durch die gleißende Sonne und das Glitzern des Meeres, instinktiv zu einem Revolver greift. Eine Kugel löst sich, der Araber wird getroffen und fällt unter weiteren Schüssen Meursaults tot zu Boden. Meursault wird des vorsätzlichen Mordes angeklagt, für schuldig befunden und zum Tod durch das Fallbeil verurteilt. Der zweite Teil der Erzählung beschreibt abwechselnd die Verhöre im Gerichtssaal und die Wochen, die Meursault in Untersuchungshaft verbringt.

Meursault schildert die Ereignisse ohne Prioritäten oder einer sonstigen Hierarchie und unterstreicht damit die Sinnsleere seines Lebensablaufs. Insbesondere im zweiten Teil der Geschichte, in der er seinen Prozess beschreibt, ist er nicht das arabische Opfer, der Außenseiter, der 'étranger' in einer Gesellschaft, die seine Argumentation in der Schuldfrage nicht begreift: Sein Beteuern, er habe den Araber nicht töten wollen, sondern durch die glühende Sonne habe er die Kontrolle über sich verloren, wirkt auf die Zuhörer im Gerichtssaal absurd.

Die Handlung spielt also in der Stadt Algier und ihrer näheren Umgebung. Die Orte des Geschehens, der Strand am Stadtrand, das europäische Vorstadtviertel und das Gefängnis sind in der Forschung wegen ihrer symbolischen Tragweite zwar beachtet, aber im Hinblick auf die soziologische und kulturwissenschaftliche Information kaum ausgewertet worden.5 Während Camus das Stadtgebiet, welches im Laufe der kolonialen Geschichte in an Ghettos erinnernde Viertel aufgeteilt wurde, entsprechend beschreibt, lässt er die verhängnisvolle Konfrontation zwischen Arabern und Europäern, die zu dem Tod des Arabers führt, an dem durch nichts begrenzten Sandstrand des Meers stattfinden.

An mehreren Stellen gibt Camus in seinen Schilderungen die soziale und ethnische Situation in Algier wieder, wo alle Teile der Bevölkerung ihren fest umrissenen Lebensraum haben. Aber die Informationen sind knapp, man muss zwischen den Zeilen lesen. Meursault kommentiert die Lage seiner Wohnung in einem einzigen Satz: "Ma chambre donne sur la rue principale du faubourg". (Camus 1975: 19) Ausführliche Beschreibungen der Gebäude und des Viertels fehlen, weil ein maghrebinisches Lokalkolorit in der Welt Camus' keinen Platz hat. Eine der wenigen längeren Beschreibungen des Stadtviertels vermittelt den Eindruck einer verschlafenen mediterranen Stadt, die an einer beliebigen Stelle der europäischen Küsten des Mittelmeers liegen könnte. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Tatsache, dass ein Sonntagnachmittag, also der christliche Ruhetag, beschrieben wird:




PhiN 33/2005: 76


Après eux, la rue peu à peu est devenue déserte. Les spectacles étaient partout commencés, je crois. Il n'y avaient plus dans la rue que des boutiquiers et des chats. Le ciel était pur mais sans éclat au-dessus des ficus qui bordent la rue. Sur le trottoir d'en face, le marchand de tabac a sorti une chaise, l'a installée devant sa porte et l'a enfourchée en s'appuyant des deux bras sur le dossier. Les trams tout à l'heure bondés étaient presque vides. Dans le petit café «Chez Pierrot» à coté du marchand de tabac, le garçon balayait de la sciure dans la salle déserte. C'était vraiment dimanche. (ebd.: 20)

Alles ist europäisch in Camus' Algier des Etranger, der Täter, sein Freundeskreis, die Gerichtsbarkeit und der theologische Beistand in seiner Zelle.

Während der Autor bei der Darstellung der Europäer um ein ausgewogenes Bild des Gesellschaftsspektrums bemüht ist, was sich nicht nur im sozialen Stand der Figuren niederschlägt, sondern in ihrer Namengebung – sie tragen französische und spanische Namen entsprechend der kolonialen Besiedlung – wird die maghrebinische Bevölkerung weitgehend als 'les Arabes' präsentiert, selbst sein Opfer bleibt namenlos. Insgesamt erscheint der Begriff arabe 24 Mal in der Erzählung und wirkt fast wie eine beschwörende Formel. Die Tatsache, dass das Wort überwiegend im Plural gebraucht wird, lässt sich als Meursaults Unvermögen deuten, die Araber als Individuen wahrzunehmen. Diese Distanz wird verstärkt durch die Kargheit der Dialoge und die Sprachlosigkeit, die zwischen Arabern und Europäern herrscht. Andere typische ethnische Gruppierungen des Maghreb wie Berber oder Juden kommen in der Erzählung nicht vor.

Wie darf diese Lückenhaftigkeit und Einseitigkeit in der Darstellung der maghrebinischen Gesellschaft gedeutet werden? Nichts läge ferner, als Camus eine die einheimische Bevölkerung diskriminierende Haltung zu unterstellen. Sein Grundprinzip der solidarité allein genügt, um etwaige Zweifel zu zerstreuen. Dennoch fällt bei der Lektüre der Erzählung auf, wie geschickt die Sympathielenkung des Autors nicht den getöteten Araber als Opfer erscheinen lässt, sondern seinen Mörder, den er zum absurden Helden macht (Vulor 2000: 69 f.).

Die Philologie neigt grundsätzlich dazu, eine Identität oder Seelenverwandtschaft von Autor und in der Ich-Form erzählender Hauptfigur zu suchen. So wird Meursault gerne in die Nähe des Autors gerückt und als dessen Sprachrohr gesehen (Rey 1970: 31). Als pied-noir war Camus Zeitzeuge einer gespaltenen Gesellschaft aus Kolonialherren, europäischen Angestellten und Arbeitern zur Unterstützung der Verwaltung von Algerien sowie einer nordafrikanischen Mischbevölkerung, die in ihren ethnischen Facetten jedoch nicht wahrgenommen oder gar respektiert wurde. Camus' Schilderung gibt also den Status Quo der algerischen Gesellschaftsordnung am Ende der Kolonisation und unmittelbar vor Ausbruch des Algerienkonflikts aus französischer Sicht wieder. Als Europäer hatte Camus kaum Kontakt zur gesamten algerischen Bevölkerung, er stellt also den Teil dar, der ihm vertraut war und beschreibt damit aus dem europäischen Blickwinkel die soziale Situation, die Ghettoisierung in Algier und Umgebung, die er in den 40er Jahren vorfand, als der koloniale Zusammenbruch unmittelbar bevor stand.




PhiN 33/2005: 77


3 Michel Tournier – La Goutte d'or

Michel Tourniers Roman mit dem mehrdeutigen Titel La goutte d'or, 1986 erschienen (= Tournier 1986), spielt überwiegend in Paris, dennoch ist der Maghreb durch die Herkunft seines Helden und durch die Immigrations- und Selbstfindungsthematik allgegenwärtig. In diesem Initiationsroman wird der heranwachsende Berber Idriss in seiner Heimat, der Oase Tabelbala von einer französischen Touristin fotografiert. Entgegen der Versprechung der Französin erhält er das Foto nicht zugeschickt. In der von Aberglauben bestimmten archaischen Gesellschaft der algerischen Oase glaubt man an einen Verlust seiner Identität durch das Ablichten des Gesichts. So begibt sich Idriss, beschützt durch einen gefundenen Talisman, der der Zigeunerin/Tänzerin Zett Zobeida gehörte, eben dieser "goutte d'or" nach Frankreich, auf der Suche bzw. Rückeroberung seiner Identität, das heißt auf den Weg seiner Selbstfindung, auf dem er wie ein antiker Held harte Proben zu bestehen hat. Dieser Goldtropfen, so erklärt ihm später ein Goldschmied auf dem Schiff nach Marseille, ist das Symbol der römischen Bulla Aurea, ein Amulett, welches alle freien Kindern Roms – also den Nachkommen der Patrizier – als Zeichen ihres sozialen Status verliehen wurde.

La goutte d'or präsentiert ein vielfältiges Bild maghrebinischer Kulturen, Lebensformen und Mentalitäten. Die Geschichte wird durch einen allwissenden Erzähler berichtet. Durch die akribischen Recherchen des Autors bei der Vorbereitung des Textes gewinnt man den Eindruck des Bemühens um eine objektive, nicht typisch europäische Sichtweise. Die Oase der Sahara wird detailgerecht beschrieben, ihre Fauna und Flora, die Menschen mit ihren Sitten und Gebräuchen werden geschildert, ohne dass der Versuch unternommen wird, die Oase für den Leser topografisch zuzuordnen, was ja für die einheimische Bevölkerung ohne Belang und für den gebildeten Leser von untergeordneter Bedeutung ist, allenfalls einer wissenschaftlichen Praxis des Einordnens entspricht.

Der Maghreb ist im Roman von der Oase bis zur Rue de la Goutte d'Or in Paris omnipräsent, aber nicht als statisches Bild, sondern als kulturelles, soziales und politisches Mosaik und funktioniert durch Idriss' Konfrontation mit seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen als Messlatte für seinen Emanzipationsprozess. Er ist der Prüfstein der kulturellen Identität, der Entfremdung und des Assimilationsrisikos, die Idriss auf dem Weg seiner Selbstfindung erlebt.

Idriss befindet sich zu Beginn der Erzählung am Ausgangspunkt, in der Berberoase, mit der ihm vertrauten Kultur, der Großfamilie, dem typischen Essen, den Festen und Riten.

Die zweite Etappe seiner Reise ist die 300 km entfernte kleine Siedlung Béni-Abbès. Als Idriss sich auf den Weg nach Europa begibt, fühlt er sich zum ersten Mal als Außenseiter. Er betrachtet neugierig ein Hotel für Touristen und wird sogleich von den Bewohnern weggescheucht, die ihn als Berber und damit als Ortsfremden ausmachen. Als er im Park eines Hotels spielende Jungen betrachtet, erkennt er: "C'était bien en effet un tableau qu'il observait, une scène fermée à la quelle il n'avait pas accès." (Tournier 1986: 75)




PhiN 33/2005: 78


Dieses Gefühl der Fremde steigert sich noch, als er einen Blick in das dortige Saharamuseum wirft, eine lokale Einrichtung, um die Touristen auf das Leben der Berber einzustimmen. Die ausgestellten Objekte, die ihm eigentlich vertraut sein müssten, bewirken bei ihm durch ihre für ihn widernatürliche Inszenierung als Kunstobjekte eine Distanzierung vom eigenen Berbertum: "Tous ces objets, d'une propreté irréelle, figés dans leur essence éternelle intangibles, momifiés avaient entouré son enfance, son adolescence." (ebd.:77)

Die dritte Etappe ist Marseille, wo er Zeuge einer maghrebinischen Gesellschaft wird, die nordafrikanisch geblieben ist, aber als Parallelgesellschaft neben der französischen lebt. Auch dort ist Idriss Außenseiter. Bei einer Prostituierten verliert er seinen Goldtropfen und damit symbolisch zunächst seine Freiheit.

Immer wieder begleiten ihn Bilder und fordern ihn heraus. An Bord der Fähre nach Marseille erlebt er die Bilder des Fernsehens, wo sich Nachrichten vom politischen Tagesgeschehen mit den Versprechungen der Werbung vermischen. In Paris angekommen, bietet ihm der Werbefilmregisseur Mage eine Rolle in einem Spot für einen exotischen Drink an. Später droht Idriss Teil dieser Bilderwelt zu werden, als er seinen Körper als Modell für den Abguss einer Schaufensterpuppe zur Verfügung stellen soll. Immer mehr wird auch ihm deutlich, wie die Bilder die Wirklichkeit verzerren.

Als man ihn auf einem französisch-arabischen Fest fragt, ob er Couscous mit Huhn oder Hammelfleisch vorziehe, gibt er verlegen zu: "Je ne sais pas [...] je n'ai jamais mangé de couscous" (ebd, 129).

Auf die erstaunte Reaktion seines Gegenübers: "Tiens, ça alors! Je vous aurais pris pour un Arabe." präzisiert er "Non, je suis berbère." und greift somit die erste Lektion seiner Selbstfindung aus Béni-Abbès wieder auf, auf die Rückfrage "Arabe, Berbère, c'est kifkif, non ?" antwortet er entschieden "Non" und erläutert das Leben in der "Sahara", ein Begriff, den er wiederum erst in Frankreich gelernt hat (ebd.).

Die Endstation seiner Reise führt ihn in das durch die Rue de la Goutte d'Or und den Montmartre begrenzte nordafrikanische Viertel, wo er die Pariser maghrebinische Gesellschaft kennen lernt.

Als er dem Kalligraphen Abd Al Ghafari begegnet und sich mit der arabischen Kalligraphie beschäftigt, erreicht er eine weitere Etappe auf dem Weg seiner Selbstfindung, denn – so lernt er: "La calligraphie est libération." (ebd.: 201)

Nirgendwo wird der Unterschied zwischen der orientalischen und okzidentalen Welt so deutlich wie im Atelier des Kalligraphen:

En vérité l'image est bien l'opium de l'Occident. Le signe est l'esprit, l'image est matière. La calligraphie est l'algèbre de l'âme tracée par l'organe le plus spiritualisé du corps, la main droite. (ebd.: 202)




PhiN 33/2005: 79


Der Roman schließt mit einem symbolischen Akt: Idriss, inzwischen Bauarbeiter auf einer Baustelle der Place Vendôme, nicht nur geographischer Mittelpunkt der Hauptstadt, sondern auch Sitz der Europäischen Luxusindustrien, entdeckt in einem exklusiven Juweliergeschäft wieder einen Goldtropfen, 'nimmt sein Schicksal buchstäblich in die Hand' und durchbohrt mit seinem Presslufthammer die Vitrine, um sich seine Bulla Aurea, Symbol der Freiheit, zurückzuholen (Winisch 1997: 89).

Am Ende hat nicht nur Idriss sich verändert, sein Bild von sich selbst hat sich auf dem Weg der Selbstfindung neu definiert. Auch das Bild des Maghreb verzerrt sich immer mehr auf dem Weg von der Berberoase zur französischen Hauptstadt. Den Gipfel bildet die Tourismusbranche, die sich in ihrer aufwändigen Werbung europäischer Klischees zur besseren Vermarktung der Reisen in den Maghreb bedient.

Tournier, einem Bewunderer und Nachahmer von Emile Zola, gelingt durch die Übernahme von dessen Arbeitsweise, der documentation sur place und der genauen inhaltlichen Vorbereitung seines Romans durch arabische wie europäische Fachliteratur, die er im Postskriptum anführt, eine realitätsnahe Schilderung der Vielfalt der maghrebinischen Kulturen, Mentalitäten und Bevölkerungsstrukturen bis zu ihrer Existenz innerhalb bzw. neben der französischen Gesellschaft. La goutte d'or ist daher mehr als ein Roman über die Gastarbeiterproblematik.

Tourniers Vorliebe für die orientalisierenden philosophischen Romane des 18. Jahrhunderts sind in dem Reisemotiv und der naiven Unbefangenheit des Helden erkennbar. Tournier wollte einen philosophischen Roman schreiben, der von einem Zehnjährigen verstanden wird. Aber La goutte d'or ist kein 'orientalistischer' Roman, der im Sinne Saids ein Zerrbild der orientalischen Kultur und Mentalität aus europäischer Sicht darstellt (Said 1995: 1–28).

Tourniers Bemühen um orientalische Authentizität wird unterstrichen durch seine Erzählstruktur: Ein allwissender Erzähler unterbricht an mehreren Stellen die Handlung, um Geschichten wie die "Legende de Barberousse" und "La reine blonde", eine Parabel über den Fluch des Blondseins, einzufügen oder um einen politisch-soziologischen Kommentar über die erste Immigrantengeneration abzugeben. Diese Struktur ist der orientalischer Märchen ähnlicher als der abendländischen Vorstellung von einer linearen, wenig verzweigten Handlung. Mit viel Einfühlungsvermögen und unter Berücksichtigung zahlreicher authentischer Quellen thematisiert Tournier das Problem der Selbstfindung durch Überwindung einer Kluft zwischen Orient und Okzident, sowie den Kampf gegen Assimilation und Verlust der eigenen Identität.


4 Tahar Ben Jelloun – L'enfant de sable

Mit Tahar Ben Jelloun meldet sich ein frankophoner marokkanischer Autor zu Wort, der in L'enfant de sable, 1985 (= Ben Jelloun 1985) erschienen, in der Sprache der colonisateurs eine Geschichte erzählt, die ganz in Marokko – also nicht in einer der mediterranen Küstenstädte –, in dem sehr afrikanisch geprägten Marrakesch spielt. Der Titel, eine Entlehnung des Buches El libro de arena des argentinischen Romanciers Jorge Luis Borges, verweist gleichzeitig auf die 'Sahara' ( arab. 'Sand').




PhiN 33/2005: 80


Allein die ungewöhnliche Handlung würde ausreichen, um den Roman in jeder Beziehung von europäischen Werken abzusetzen. Hauptfigur ist die Araberin Zahra, der als achtgeborenes Mädchen einer nicht sehr wohlhabenden Familie das Schicksal einer marokkanischen Frau erspart bleibt. Sie wird als Junge verkleidet, als Junge erzogen und heiratet als Mann verkleidet eine Frau, die zu ihrer Komplizin wird.

Doch damit nicht genug. Der Autor lässt diese skandalträchtige Geschichte an einem ganz besonderen Platz beginnen und sich auf eine typisch orientalische Weise entfalten. Auf dem Djemaa el Fna, dem berühmten nordafrikanischen Platz, erzählt ein professioneller Märchenerzähler die Geschichte jeden Abend ein Stück weit, bis er von anderen Erzählern und Erzählerinnen abgelöst wird, die nun ihrerseits ihre Version der Geschichte wiedergeben und das Ende der Geschichte variieren. Auf die Version der Betroffenen hingegen lässt der Autor den Leser warten. Erst im folgenden Roman La Nuit Sacrée erfährt der Leser den dénouement von Zahra selbst.

Der erste Erzähler in L'enfant de sable gibt vor, im Besitz des Tagesbuches dieser bedauerlichen Person zu sein, dessen Leben er vorstellen will. Jeder Lebensabschnitt, den er erzählt, ist ein Tor, durch das die Zuhörer und auch der Leser gehen müssen. Bisweilen liest er wörtlich aus dem Tagebuch vor, die Zuhörer mischen sich ein, spekulieren über den Wahrheitsgehalt der Geschichte, korrigieren den Erzähler und präsentieren ihre eigenen – teilweise recht makabren – Versionen. Die Handlung hat also, wie Tausendundeine Nacht, eine Rahmen- und eine Binnenhandlung. Neben dem professionellen Geschichtenerzähler, der nach ein paar Abenden seine Zuhörer auf dem Platz verlässt, treten ein Schwager der Hauptfigur, die Frau Fatouma und weitere Erzähler. Der vorletzte Erzähler, der "troubadour aveugle" aus Buenos Aires, ist in Wirklichkeit die literarische Borges-Figur. Mit seiner Erzählung verzweigt sich die Handlung weiter. Der letzte Erzähler, ein Mann mit Henna-gefärbtem Bart und blauem Turban erweckt die Figur Zahra wieder zum Leben und begegnet ihr persönlich in Episoden. Diese Verschachtelungen, für die es Vorbilder in der arabischen, indischen, persischen und andalusischen Literatur gibt, verstehen sich nicht nur als formaler Kunstgriff, sondern sie intensivieren die Aussage des Ganzen.

Die Handlung steht ganz im Zeichen einer von muslimischen Männern bestimmten Gesellschaft. Als Zahra geboren wird, haben ihre Eltern vorab entschieden, dass das letzte Kind ein Junge sein muss, um die Schande von der Familie abzuwenden, denn ein Mann ohne männliche Erben ist entehrt. Nach der Geburt kennen nur ihre Eltern und die Hebamme das wahre Geschlecht des achten Kindes. Die Taufe wird ein Fest, das die Familie gebührend feiert. Die Beschneidung des Kleinkindes wird so in Szene gesetzt, dass die Angehörigen die optische Täuschung der Blutung nicht bemerken:

Rares furent ceux qui remarquèrent que le père avait un pansement autour de l'index de la main droite. Il le cachait bien. Et personne ne pensa une seconde que le sang versé était celui du doigt. (Ben Jelloun 1986: 32)




PhiN 33/2005: 81


Als kleiner Junge Ahmed (verkleidet) begleitet sie ihre Mutter ins Hammam der Frauen und ahnt, dass sie als Junge (erzogen) soziale Vorteile hat, während Frauen eine soziale Einschränkung erfahren, die ihr erspart bleiben wird: "J'étais secrètement content de ne pas faire partie de cet univers si limité." (ebd.: 34)

In der Rolle des Ahmed durchläuft sie alle Stationen des männlichen Lebens bis hin zu einer widernatürlichen Scheinehe mit der gleichgeschlechtlichen Fatima, die seine bzw. ihre wahre Identität kennt und als Komplizin dieses sexuelle, psychologische und soziale Verwirrspiel mitspielt. Während Zahra in ihrer Kindheit keine Wahl hat und sich dem von den Eltern inszenierten grausamen Rollenspiel beugen muss, spielt sie in der Pubertät und nach dem Tod ihrer Eltern das Spiel freiwillig weiter. Eines Tages trifft sie zufällig eine Gauklertruppe, bei der sie die Rolle einer Frau übernimmt. Sie empfindet eine unglaubliche Erleichterung bei der Verkleidung, die in Wirklichkeit ja keine ist. An dieser Stelle endet der Bericht des ersten Erzählers.

Die Emanzipation der Frau, eine wichtige Thematik der islamischen Welt, wird von Ben Jelloun aufgegriffen und "nicht mit biologischen, sondern mit soziokulturellen Kriterien" (Spiller 2000: 22) reflektiert. Zahra ist die "personifizierte Metamorphose, eine Grenzüberschreiterin aus dem Entre-deux der Geschlechter"(ebd.: 305). Die Androgynität ist ein beliebtes Thema der maghrebinischen Literatur. Neben die beiden klassischen Modelle, Platos Konzept von der Vereinigung der beiden Geschlechter zu einem symbiotischen Ganzen und Ovids Vereinigung von Hermaphrodit und Nymphe setzt Ben Jelloun seine Variante, in der Ahmed und Zahra eine Person bleiben (ebd.: 312).

Aber diese Androgynität darf auch als Metapher verstanden werden für die moderne postkoloniale frankophone maghrebinische Literatur, die arabisch-orientalische narrative Traditionen, Ideologien und Wertevorstellungen aufgreift und in einer modernen europäischen Sprache präsentiert; sie funktioniert als Sinnbild einer literarischen Interkulturalität.

Beide Personen, sowohl Zahra-Ahmed als auch ihre bzw. seine Frau Fatima leiden an einer Spaltung ihrer biologischen, physischen und psychischen Persönlichkeit. Fatima ist körperbehindert und gleichzeitig Epileptikerin. Die merkwürdige gleichgeschlechtliche Liaison, die enge Verbindung beider Frauen zueinander, wird durch die arabische Namengebung unterstrichen, denn Zahra ist nichts anderes als ein Beiname Fatimas mit der Bedeutung "die Strahlende", es handelt sich also um die gleiche Person, bzw. Fatima ist in gewisser Hinsicht Spiegel oder Teil ihrer Partnerin.6

Die dem Sufismus entlehnte Lichtmetapher ist in dem Roman in allen Varianten und Oppositionen allgegenwärtig, nicht nur im Vornamen der Heldin: Die Hauptfigur ist ein Kind der Dunkelheit, das Licht würde das Debakel ihres Lebens auf grausame Weise enthüllen. Auch muss ihre Lebensgeschichte erst von berufenen Erzählern decodiert werden, bevor sie dem Publikum auf dem Platz weitererzählt wird. Die Buchstaben des Buches über Zahras Lebensgeschichte sind – wie die Erzähler mehrfach betonen – fragil, sie drohen unter dem Licht des Vollmondes zu verfallen.




PhiN 33/2005: 82


Ähnlich wie im Nouveau Roman erfährt der Leser, dem die gleiche Rolle wie den Zuhörern auf dem Gauklerplatz zugewiesen wird, im ständigen Perspektiven- und Erzählerwechsel nur einen Teil die Geschichte. Für Ben Jelloun steht die "im Sinne der 'metalittérature' von Roland Barthes agierende Autoreflexivität des Textes im Vordergrund" (Mayer 2001: 15). Wenngleich manches in der narrativen Struktur an Tausendundeine Nacht erinnert, erschöpft sich das Orientalische nicht darin: "Der allgemeinste Unterschied zwischen der marokkanisch-arabischen und der französisch-europäischen Subjektkonzeption ist der Grad der Einbindung in die Gemeinschaft." (Spiller 2000: 35) Diese Kollektivität, die dem französischen Individualismus gegenübersteht, manifestiert sich in dem Alternieren der verschiedenen Erzähler und steht in scharfem Kontrast zum Ich-Erzähler Meursault in L'Etranger.

Auf die Erzählungen von Camus und Tournier trifft der Vorwurf des "Orientalismus" im Sinne des Entwurfs einer europäischen Chimäre gewiss nicht zu, mit Einschränkung der des europäischen Blickwinkels, mit der sie Teilaspekte des Lebens im Maghreb und der Maghrebinischen Welt darstellen. Dem Marokkaner Ben Jelloun Roman gelingt in seinem Roman die Verknüpfung einer Thematik, die die moderne marokkanische Gesellschaft bewegt und deren Wertevorstellungen reflektiert, mit der Kunst des orientalischen Erzählens. Sein Werk steht für die Verschmelzung von Tradition und Modernität in der postkolonialen maghrebinischen Kultur, für den Versuch der schriftlichen Fixierung einer Jahrhunderte alten oralen Erzählweise, einer Literatur die die UNESCO inzwischen Dank der Initiative des spanischen Dichters Juan Goytisolo als immaterielles Weltkulturerbe in besonderer Weise schützt.


Bibliographie

Albes, Wolf-Dietrich (1999): Jean Brune et Albert Camus – deux écrivains pieds-noirs face au drame de l'Algérie français. Friedberg: Atlantis.

Balagh, Miranda (1997): L'Image de l'Algérie dans l'œuvre d'Albert Camus. Paris: Microfiche.

Ben Jelloun, Tahar (1985): L'enfant de sable. Paris: Editions du Seuil.

Camus, Albert (1975): L'Etranger. Paris: Gallimard.

Castex, Pierre-Georges (1965): Albert Camus et L'Etranger. Paris: Corti.

Mayer, Linda (2001): Positionen zur französischsprachigen Literatur des Magreb – Untersuchungen zu den Texten L'enfant de sable (1985), La nuit sacrée (1987). und Les yeux baissés (1991) von Tahar Ben Jelloun. Berlin: dissertation.de.




PhiN 33/2005: 83


Rey, Pierre-Louis (1970): L'Etranger – Camus. Paris: Hâtier.

Said, Edward W. (1995): Orientalism – Western Conceptions of the Orient. London: Penguin Books.

Schimmel, Annemarie (1993): Von Ali bis Zahra – Namen und Namengebung in der islamischen Welt. München: Diederichs.

Spiller, Roland (2000): Tahar Ben Jelloun – schreiben zwischen den Kulturen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Tournier, Michel (1986): La goutte d'or. Paris: Gallimard.

Ueckmann, Natascha (2001): Frauen und Orientalismus: Reisetexte französischsprachiger Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts. Stuttgart, Weimar: Metzler.

Vulor, Ena C. (2000): Colonial and Anti-colonial Discourses – Albert Camus and Algeria. Lanham: University Press of America.

Winisch, Eva (1997): Michel Tournier – Untersuchungen zum Gesamtwerk. Bonn: Romanistischer Verlag.


Anmerkungen

1 Neben den Reisebeschreibungen vieler Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts – z.B. Chateaubriand, Itinéraire de Paris à Jérusalem (1811), Lamartine, Voyage en Orient (1835), Nerval, Voyage en Orient (1851), Flaubert, Voyage en Orient (1851), Gautier, Voyage en Orient (1858) – sei an die unzähligen Reisebeschreibungen vieler Intellektueller und vor allem der Frauen erinnert, die einen eigenen Literaturtypus darstellen (vgl. Ueckmann 2001).

2 Vgl. aber in jüngster Zeit Balagh (1997).

3 Eine detaillierte Darstellung der Zeit von Camus' erster journalistischer Tätigkeit in Algerien bis zu seinen engagierten Artikeln in L'Express zeichnet Albes (1999) nach.

4 Als Ausnahmen mögen Said, Arbeitskollege von Yvars in "Les muets" und der arabische Gefangene in "L'hôte" aus der Novellensammlung L'Exil et le Royaume gelten.

5 Vgl. insbesondere Balagh (1997: 58 und 87) und Castex (1965: 37).

6 Für eine detaillierte Analyse der Semantik arabischer Vornahmen vgl. Schimmel (1993).

Impressum