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Stefan Brauckmann (Berlin)



Heinz Ludwig Arnold (Hg.) (2002): Literarische Kanonbildung. München: edition text + kritik.



Der von Heinz Ludwig Arnold herausgegebene Sonderband "Literarische Kanonbildung" und hat es sich zum Ziel gesetzt, der "weithin normativ geführten Kanondebatte ein genuin deskriptives, kulturwissenschaftlich und soziologisch bestimmtes Interesse entgegenzusetzen". Der Sonderband weist bereits Parallelen zu einem von Renate Heydebrand (1998) herausgegebenen DFG-Tagungsband auf, in dem ebenfalls der Beschreibung von Kanonbildungsprozessen sowie deren theoretischer Modellierung weitestgehend Vorrang vor normativ geführten Debatten gegeben wurde.

Einführende Bemerkungen zum inhaltlichen Aufbau und zur Systematik des Sonderbandes gehen allein aus der buchrückseitigen Zusammenfassung hervor. Dieser Sonderband will eine Übersicht über Kanontheorien vermitteln, anhand exemplarischer Fälle (klassische) Kanongeschichten rekonstruieren und die Macht von Kanoninstanzen durchleuchten.

Hier hätte sich der Leser von Seiten des Herausgebers eine weitergehende Einführung in Form eines advanced organizer gewünscht, der als thematische und systematische Orientierung sowie als methodisches und begriffliches Fundament für das Verständnis aller sich anschließenden Autorenbeiträge hätte genutzt werden können. Der von Hermann Korte verfasste Beitrag "K wie Kanon und Kultur", in welchem mittels eines kleinen Kanonglossars ein sehr fundierter Überblick über die deskriptiven und normativen Bestandteile literaturwissenschaftlicher Kanonreflexion gegeben wird, wäre für diese orientierungsstiftende Funktion eines advanced organizer geeignet gewesen.

Den Auftakt macht stattdessen die ausgewiesene Kanonspezialistin Simone Winko, die bisher vor allem zu den Auswirkungen der Geschlechterdifferenz auf Kanonisierungsprozesse im literarischen Leben gearbeitet hat. In ihrem Beitrag führt sie mit dem invisible hand-Phänomen ein neues Erklärungsmuster für die Kanonbildung ein. So resultiert der Kanon "aus zahlreichen Handlungen (Mikroebene), die jede für sich einen anderen Zweck haben als den, einen Kanon zu bilden, und die unter Ausnutzung allgemeiner Prämissen einen Prozess in Gang gesetzt haben, der ihn (auf der Makroebene) dennoch entstehen lässt" (11). Die Vorteile dieses neuen Erklärungsmusters liegen Winko zufolge somit erstens in der Verknüpfung von finalen und kausalen Erklärungsmustern, zweitens in der Prozessbezogenheit des Ansatzes und drittens in der Integration des invisible hand-Erklärungsmusters in bewährte Annahmen der Kanon-Forschung.




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Erik Grimm vollzieht in seinem Beitrag "Bloom's Battles" mittels eines theoriegeschichtlichen Überblicks über die beiden wirkungsmächtigsten und stark divergierenden theoretischen Annahmen von literarischer Kanonbildung (anglo-amerikanische Literaturkritik versus Cultural Studies) eine äußerst gelungene Bestandsaufnahme der in den USA gegenwärtig betriebenen Kanondebatte. Einen besonders bemerkenswerten Aspekt bietet der beobachtbare Einfluss bildungspolitischer Direktiven auf die literarische Kanonbildung in den USA, der die oftmals rein literaturwissenschaftliche Perspektive der Kanonforschung um eine politologisch-erziehungswissenschaftliche Facette bereichert.

Der Beitrag von Klaus-Michael Bogdal "Wissenskanon und Kanonwissen. Literaturwissenschaftliche Standardwerke in Zeiten disziplinären Umbruchs" verfolgt den äußerst anregenden Ansatz, die Kanonisierung von literaturwissenschaftlichen Standardwerken zu untersuchen, richtet dann aber seinen Fokus zunehmend auf die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik und kann daher seinem Ansatz leider nur bedingt gerecht werden. Der Beitrag wartet zudem mit einem beträchtlichen Fußnotenapparat auf (265 Fußnoten auf 45 Seiten Text).

In seinem Beitrag "Hilfe. Anmerkungen und Links zur Kanonbildung im Netz" beschreibt Peter Gendolla auf sehr anschauliche Weise die neuartigen Kanonisierungsformen elektronischer Medien und stellt deren Bedeutung als gegenwärtige Kanonisierungsinstanz heraus. Aufgrund seiner inhaltlichen Ausrichtung hätte man diesen Beitrag eher im dritten inhaltlichen Hauptteil "Kanoninstanzen" des Sonderbandes vermutet.

Der zweite inhaltliche Hauptteil mit dem Titel "Kanongeschichte" stellt mit neun Beiträgen den quantitativ bedeutsamsten Teil des Sonderbands dar und untersucht anhand exemplarischer Fälle die historischen Konstellationen von literarischer Kanonbildung. So zeigt Hermann Korte in seinem Beitrag in sehr prägnanter Weise agenten- und gattungsspezifische Modalitäten der Kanonbildung auf.

Mirjam Springer betrachtet aus Rezipienten- und Vermittlerperspektive die De- und Negativkanonisierungen von Schillers Bürgschaft. Maria Behre wiederum untersucht unter Zuhilfenahme von vier Gesichtspunkten (1. Sentenzbildung, 2. Sakralisierung, 3. Wissenskodifizierung und 4. Pragmatisierung) das historische Feld der Hölderlin-Rezeption. Aus einem gattungs- und epochenspezifischen Blickwinkel betrachtet Karl Heinz Fingerhut die Kanonisierung von Heine in der Schulliteratur. Anhand des Beitrags von Ortrun Niethammer wird die handlungs- und textbezogene Organisationsform von Kanonbildung, sowie die Auswirkung der Geschlechterdifferenz auf Kanonisierungsprozesse sichtbar gemacht. Der kanonischen Selbstrepräsentanz von Thomas Mann als Idee vom literarischen Kanon als Lebensform geht Sigrid Thielking in ihrem Beitrag nach.




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Den Widerspruch zwischen machtgesetzten Kanones und realem Leserverhalten während der NS-Diktatur verdeutlicht Jan-Pieter Barbian in seinem Beitrag. Auf die ambivalente Beziehung von machtgesetzten und subversiven Kanones in der DDR weist Carsten Gansel hin.

Im dritten Hauptteil mit dem Titel "Kanoninstanzen" sind drei Beiträge zu verzeichnen. Detlev Schöttker weist in seinem darauf hin, dass die dauerhafte Kanonisierung eines literarischen Werks die imaginäre Präsenz des Autors im Bewusstsein des Lesers voraussetzt. Im Folgenden werden verschiedene Arten der fiktionalen Selbstkanonisierung vorgestellt. Die Akzeptanz und Durchsetzungsstrategien von Kanon(es) hat der Beitrag von Hans Dieter Erlinger zum Inhalt, der einem literarischen Kanon für den Deutschunterricht eine überzeitliche und kulturell-sinnhafte Modellfunktion abspricht. Er plädiert stattdessen für das kommunikative Aushandeln kultureller Sinnkonzepte, die stets nur vorläufig gelten.

Hermann Korte betrachtet in dem Kapitel "Das muss man gelesen haben" die legitimitäts- und identitätsstiftende Rolle der Ratgeberliteratur und deren Verfasser bei der literarischen Kanonbildung. Besonders auffallend ist hierbei die nachgewiesene Verbindung zwischen dem subjektiven Bildungsverständnis des Ratgebers und dem daraus resultierenden Kanonbildungskonzept.

Bemerkungen von namhaften zeitgenössischen Autoren zu ihrem persönlichen Lektürekanon sowie eine von Ilonka Zimmer verfasste und umfassende Bibliografie der Forschungsliteratur zum Thema der literarischen Kanonbildung beschließen den Sammelband.

Der Sammelband weist im einzelnen durchaus neue Perspektiven und Denkanstöße für die gegenwärtige Kanondebatte auf. Man hätte sich bisweilen eine stärkere thematische und systematische Rückbindung einzelner Beiträge an den Titel des Buches bzw. an die Überschriften der drei inhaltlichen Hauptteile vorstellen können. Eine Gleichgewichtung von theoretischen und historischen Beiträgen wäre bei der Erstellung dieses Sonderband ebenfalls denkbar gewesen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Sammelbände wie dieser wesentlich dazu beitragen, dass normativ geführte Kanondebatten nur in dem Maße an Substanz gewinnen können wie die Vorgänge, die zur Entstehung von Kanones führen, transparent gemacht werden.


Bibliographie

Heydebrand, Renate von (Hg.) (1998): Kanon – Macht – Kultur: theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart / Weimar: Metzler.

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