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Angelo Raciti (Basel/Berlin)



Möglichkeiten des Daseins
Eine gesellschaftsgeschichtliche Analyse des 'Kunstgesprächs' in Büchners Lenz




Options of Existence
A Sociohistorical Analysis of the 'Kunstgespräch' in Georg Büchner's Lenz

The paper examines the controversial Kunstgespräch in Büchner's novella from a social and historical perspective as a reaction against the normative aesthetics of German idealism and its inherent pedagogical program. Using Zygmunt Bauman's concepts of 'legislators' versus 'interpreters', Lenz's anti-idealism can be read as the conscious rejection of institutionalized forms of social control and stratification. Against the legislative impulse of idealist aesthetics Büchner thus projects an art of continuing critique and interpretation.


1 Einleitung

Kein anderer Textabschnitt in Georg Büchners Lenz ist in literaturwissenschaftlichen Kreisen so kontrovers diskutiert worden wie das sogenannte Kunstgespräch. Im Interesse einer literarhistorisch eindeutigen Periodisierung der Novelle wurde der Abschnitt zunächst als "Realismusprogramm" gelesen. Damit aber verflacht Lenz zum bloßen Sprachrohr für eine Büchner unterstellte, nicht besonders subtile literaturästhetische Programmatik. Zudem trieben einige Kritiker mit der Behauptung, das Kunstgespräch sei überhaupt nicht in den Text der Novelle zu integrieren, die Vernachlässigung des Kontextes, die eine solche Lesart bedingt, auf eine Spitze von ganz eigener Konsequenz. Immerhin zeitigte diese These eine längst überfällige Auseinandersetzung um die Funktion des Kunstgesprächs innerhalb von Büchners Erzählung (Vgl. Jansen 1975; Holub 1985; sowie Roche 1988).

Der vorliegende Artikel baut auf dieser Auseinandersetzung auf und versucht dabei, einige für Büchner relevante soziale und historische Koordinaten schärfer in den Blick zu nehmen, als dies in der bisherigen Rezeption des Kunstgesprächs der Fall war. Gleichzeitig interessieren Lenz' Aussagen hier weniger hinsichtlich ihrer Implikationen für ein kohärentes ästhetisch-philosophisches Programm, sondern werden vor allem als Reaktionen auf sein soziales und persönliches Umfeld gelesen. Zentral ist dabei der Antagonismus zwischen Lenz und Kaufmann. Keineswegs strikt persönlicher Natur, sind den Differenzen zwischen den beiden Figuren gegensätzliche Strategien eingeschrieben, um mit bestimmten Folgeerscheinungen von Aufklärung und Urbanisierung an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert fertig zu werden. Wenn diese in Büchners Text als auf zwischenmenschlicher Ebene (zwischen Lenz, seiner Familie und Freunden) höchst konfliktträchtig und auf individueller Ebene (für Lenz) traumatisch gezeichnet werden, so ist es nur konsequent, davon auszugehen, daß auch die Kunst und die entscheidenden ästhetisch-philosophischen Diskurse davon nicht unberührt bleiben.




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Unter diesem Gesichtspunkt muß schließlich auch die Frage neu gestellt werden, ob Lenz' Unfähigkeit, im Kunstgespräch ein kohärentes ästhetisch-philosophisches Programm zu formulieren, in dem von Büchners Text abgesteckten Rahmen notwendig ein Defizit darstellt.


2 Der soziale Rahmen

Das Kunstgespräch ist auch eine Konfrontation mit Kaufmann. Lenz' Ausführungen darin richten sich vor allem an und deutlich gegen diesen. Ihre Beziehung ist durchweg antagonistisch.1

Allerdings scheint mir dieser Antagonismus nicht auf strikt persönliche Differenzen zurückzuführen, sondern in verschiedenen Weltanschauungen und Lebensentwürfen der beiden begründet. Der Text charakterisiert Kaufmann nicht nur als Anhänger des Idealismus, und damit als Vertreter einer Kunstauffassung, die der von Lenz entgegengesetzt ist. Gleichzeitig fordert Kaufmann von Lenz auch einen ganz anderen Lebensstil, als dieser für sich selbst zu benötigen glaubt.

Dieses Thema dominiert in den Abschnitten, welche dem eigentlichen Kunstgespräch vorausgehen und nachfolgen. Lenz' Betrachtungen über Kunst stehen also gleichsam im Rahmen von Diskussionen über mögliche Lebensformen. Im Kunstgespräch selbst, worin Lenz ja auch auf die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben reflektiert, taucht das Thema ebenfalls wieder auf, etwa wenn Lenz sagt: "Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut." (14).

Welche Lebensformen und -entwürfe sind es nun, die Lenz resp. Kaufmann vorschweben, und weshalb ergibt sich daraus ein derartiges Konfliktpotential? Im folgenden möchte ich aufzeigen, inwiefern Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur, die im ausgehenden 18. Jahrhundert wirksam wurden, in die Beziehung Lenz-Kaufmann hineinspielen. Ich folge dabei der Darstellung von Zygmunt Baumans Studie über die Rolle und das Selbstverständnis von Intellektuellen seit der Aufklärung, Legislators and Interpreters (Bauman 1987).


Verstädterung und neue Formen sozialer Kontrolle

Ab Mitte des 17. Jahrhunderts stieg die Bevölkerungszahl der großen europäischen Städte sprunghaft an. Gleichzeitig bildeten sich neue Ballungsräume. Das Wachstum und die Neubildung von Städten brachte auch eine verstärkte Mobilität mit sich: Immer mehr Menschen zog es in solch wirtschaftlich vielversprechende Agglomerationen. Diese Mobilität wurde noch gefördert durch die Tatsache, daß durch effizientere Anbaumethoden und die Umverteilung von Grundstücken viele bäuerliche Kleingemeinden ihrer wachsenden Bevölkerung nicht genügend Arbeit und Nahrung bieten konnten.




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Diese Entwicklung stellte die so expandierenden oder neu entstehenden sozialen Gefüge aber auch vor beträchtliche Probleme. Mit fortschreitender Verstädterung wuchsen die Ängste, die von gesellschaftlichen Randfiguren, wie 'Bettlern', 'Zigeunern', 'Dieben' und 'Kranken' ausgingen. Diese waren nicht nur deshalb plötzlich weniger kontrollierbar, weil sie dort in wesentlich größerer Zahl auftraten. Im Zuge der allgemeinen Migration und der wirtschaftlich schlechteren Lage auf dem Land nahm auch das Vagabundentum stark zu.

Formen der sozialen Kontrolle, die sich in kleinen stabilen Gemeinschaften bewährt hatten, stießen hier an ihre Grenzen. In einer Dorfgemeinschaft war es möglich, Menschen lange und kontinuierlich genug zu beobachten, um sie zuverlässig einschätzen zu können und mit ihnen vertraut zu werden. Auch waren alle in ein überschaubares Netz von gegenseitigen Verpflichtungen integriert, innerhalb dessen sie Gelegenheit hatten, sich zu bewähren, und so ihren Platz innerhalb der Gemeinschaft zu definieren. In der Stadt war dies so nicht mehr möglich. Zum einen war man mit einer viel größeren Zahl von Menschen konfrontiert, deren Position innerhalb und Funktion für die Gemeinschaft unsicher und schwer einzuschätzen war. Zum anderen waren sie auch schwer im Auge zu behalten. Das turbulente Stadtleben bot diesen Randfiguren ideale Möglichkeiten, in der Anonymität zu verschwinden.

Um die Gefahr, die von solchen Individuen ausging, effizient in Grenzen zu halten und ihr vorzubeugen, bedurfte es neuer Formen sozialer Kontrolle. Beobachtung blieb dabei das Grundprinzip. Doch die Gemeinschaft konnte diese Aufgabe nicht mehr mit der nötigen Effektivität erfüllen - die neuen Bedingungen riefen den Staat auf den Plan. Beobachtung ging nun von eigens dafür geschaffenen Institutionen wie Justiz und Polizei aus.

Dies brachte eine Neudefinition gewisser Machtstrukturen mit sich. Da das Beobachten eine Vollzeitbeschäftigung geworden war, teilte sich die Bevölkerung nunmehr in Überwacher und Überwachte. Zuvor hatte jeder jeden beobachtet - die Machstrukturen waren damit grundsätzlich ausgeglichener. Nun aber ging eine viel intensivere Überwachung von einer Gruppe von Berufsständen aus, die ihrerseits von der normalen Bevölkerung weder überwacht noch belangt werden konnten.

Ein erstes Mittel um Menschen, die sich in der Anonymität der Stadt verstecken wollten, wieder 'sozial sichtbar' zu machen, war die Erfindung von institutionalisierten Gefängnissen und anderen Orten, wo Randfiguren zu Beobachtungszwecken untergebracht wurden. 2

Um Menschen so ihrer Freiheit zu berauben, mußte man jedoch gute Gründe vorzuweisen haben. Kriterien mußten geschaffen werden, mittels derer zureichend nachgewiesen werden konnte, daß ein Mensch für die Gemeinschaft 'schädlich', 'gefährlich' oder 'untragbar' sei. Die Funktionäre der städtischen Ordnung entwickelten so in der Folge einen immer differenzierteren Katalog von Kriterien, die den Sozialisationsgrad potentiell gefährlicher Bewohner beschreibbar machen, und mit dessen Hilfe es möglich sein sollte, die Gesellschaftsordnung effizient zu stabilisieren und zu erhalten.3




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Die daraus erwachsenden Kontrollfunktionen übernahm zunächst die Justiz. Doch weitere Instanzen kamen schnell dazu, denn die Häufung und Differenzierung dieser Kriterien legte die Idee nahe, es gebe ein bestimmtes Sozialisationsniveau, welches ein Bürger erreichen müsse, damit die öffentliche Ordnung sichergestellt sei. Gleichzeitig wurde angenommen, daß denjenigen, die beruflich damit beschäftigt waren, solche Kriterien zu formulieren, am klarsten sei, wie ein Mensch beschaffen sein mußte, um dieses Niveau zu erreichen. So wurden die Beobachter zu Erziehern, in deren Wissen ihre Macht begründet war. Dies nennt Bauman das power/knowledge-syndrome. Damit war der Weg frei, Menschen aus ganz verschiedenen Gründen von ihrem gewohnten Umfeld zu isolieren, um sie zu 'perfektionieren'.


Außenseiter und die Psychiatrie

Auch psychisch kranke Menschen wurden nun in geschlossenen Anstalten unter Beobachtung gestellt. In Kleingemeinschaften waren die Möglichkeiten und das Interesse gegeben, auch sie weitgehend in die Gemeinschaft einzugliedern. In der Stadt aber hatte man es auf engem Raum mit einer viel größeren Zahl solcher Menschen zu tun. Überdies fiel auch auf sie das Stigma der potentiellen sozialen Gefahr, das zunächst den Vagabunden (also jenen ohne fest beschreibbare soziale Position), nach und nach aber allen Außenseitern aufgedrückt wurde.

Ob die Behandlung ambulant oder in einer geschlossenen Anstalt erfolgte - diese neue Sicht der psychisch Kranken brachte automatisch ein größeres Ausmaß an Isolation und eine Reduktion ihrer Persönlichkeit mit sich. Denn für eine Forschung, die auf gezielte Therapie, auf das 'Ausrotten' eines Übels ausgerichtet ist, sind primär die pathologischen Züge der Kranken von Interesse. Diese sind aber bei psychisch Kranken meist dieselben, die sie von ihrer Gemeinschaft trennen. In der medizinischen Diagnose wird diese Isolation nun zusätzlich festgeschrieben und wissenschaftlich beglaubigt. Gleichzeitig werden diejenigen Eigenschaften der Kranken, die sozial unproblematisch oder sogar nützlich sind, ignoriert - denn es geht ja primär um die Erstellung eines möglichst umfassenden Krankheitsbildes.

Daraus ergibt sich der zweite Gesichtspunkt, der uns auch bei der Analyse von Lenz noch beschäftigen wird: Die Reduktion der Kranken auf ihre pathologischen Züge. Da diese den Kranken und ihrer Umgebung - in Form einer Diagnose - zugänglich gemacht werden können, prägen sie auch diskursiv deren Selbstverständnis und verändern das Bild, welches ihre Mitmenschen sich von ihnen machen.

Auch der historische Lenz war zum Zeitpunkt seines Besuchs im Steintal bereits ein Fall für die Psychiatrie. Büchner - dies soll die vorliegende Analyse zeigen - gestaltet in seiner Novelle den Versuch des Dichters, dem Gefühl der Isolation, das seinen Status als psychisch Kranker in einem an städtischen Ordnungssystemen sich orientierenden Umfeld prägt, in einer ländlichen Kleingemeinschaft zu entrinnen. Durch die Wiederbegegnung mit Kaufmann - einem Vertreter der städtischen Ordnung - sieht Lenz diesen Versuch erstmals gravierend in Frage gestellt. Davon geprägt sind seine Betrachtungen über das Verhältnis von Kunst und Leben, welche gemeinhin das Kunstgespräch genannt werden. Und nicht zufällig macht Lenz seinem Unbehagen auf dieser Ebene Luft, denn auch die Kunst wurde damals gerade von den normativen Ambitionen der 'Erzieher' erfaßt.




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Die Konfrontation: Lenz auf der Flucht vor der städtischen Ordnung

Die Verstimmung, die Lenz bei Kaufmanns Ankunft verspürt, läßt sich zunächst aus dem Machtgefälle herleiten, welches das Verhältnis der beiden innerhalb der städtischen Ordnung prägt. Kaufmann - nomen est omen - vertritt deren Werte, wie wir noch sehen werden, mit Überzeugung und lebt auch danach. Letzteres deutet der Text zumindest an: Seine Reisen sind zielgerichtet, und privat ist er dabei, den Hafen der Ehe anzusteuern. Unnötig festzustellen, daß Lenz schon in diesen Bereichen nicht mithalten kann. Zudem erwächst Kaufmann Macht über Lenz, weil er "seine Verhältnisse" kennt - also wohl über sein soziales Versagen und seine Krankengeschichte im Bilde ist. Lenz weiß, daß er mit ihm "sprechen, reden muß" (12), daß er Rechenschaft über die Entwicklung seines Befindens abzulegen hat.

Mit Kaufmanns Ankunft ist auch das Gefühl von Zugehörigkeit und Stabilität, das Lenz im Steintal bis zu diesem Punkt entwickeln konnte, in Frage gestellt. Dieses Gefühl prägt dagegen die Schilderung von Lenz' Ankunft im Pfarrhaus:

nach und nach wurde er ruhig, das heimliche Zimmer und die stillen Gesichter [...] man drängte sich teilnehmend um ihn, er war gleich zu Haus, sein blasses Kindergesicht, das jetzt lächelte, sein lebendiges Erzählen; er wurde ruhig, es war ihm, als träten alte Gestalten, vergessene Gesichter wieder aus dem Dunkeln, alte Lieder wachten auf, er war weg, weit weg (7; meine Hervorhebung, A. R.).

Ruhe - für Lenz' Befindlichkeit ein Schlüsselbegriff - ist also zunächst mit dem Erlebnis verbunden, kraft eigener Qualitäten in diese Gemeinschaft aufgenommen worden zu sein. Lenz scheint hier auch eine vertraute und damit vertrauenswürdige Atmosphäre wiederzufinden.

Kaufmanns Ankunft relativiert all dies - "das bißchen Ruhe" sagt/denkt Lenz - und was zunächst eine neue Heimat schien, ist nur noch "so ein Plätzchen". Der Begriff kehrt wieder in Lenz' Auseinandersetzung mit Kaufmann nach dem Kunstgespräch. Lenz hält ihn emphatisch gegen dessen Forderungen all die Zwänge, die er damit verbunden sieht:

Laßt mich doch in Ruhe! Nur ein bißchen Ruhe, jetzt, wo es mir ein wenig wohl wird! ... Jeder hat was nötig; wenn er ruhen kann, was könnt er mehr haben! (15; meine Hervorhebung, A. R.).

In der Forderung seines Vaters, ihn zu unterstützen und Kaufmanns Rüge, er verschleudere hier sein Leben und solle sich besser ein Ziel stecken, manifestiert sich für Lenz nur Gefahr. Menschen, die ihm eigentlich nahestehen müßten, fühlen sich offenbar den Werten der städtischen Ordnung stärker verpflichtet, als ihm gegenüber: "Weg? Ich verstehe das nicht, mit den zwei Worten ist die Welt verhunzt. ... was will mein Vater? kann er mir geben? Unmöglich!" (15, 17).




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Hier deutet sich das ganze Ausmaß der Entfremdung zwischen Kaufmann, Lenz und dessen Vater an. Weder sind Lenz die Forderungen Kaufmanns oder seines Vaters einsichtig, noch hofft er von letzterem auf Verständnis für seine Bedürfnisse. In Anbetracht seines Zustandes ist er ihnen ausgeliefert - es liegt in ihrer Hand, ob er im Steintal bleiben kann oder nicht.

Gegen diese Bedrohung stehen Oberlin und die Dorfgemeinschaft. Sie "wissen von allem nichts", kennen Lenz' Biographie nicht, haben demzufolge auch nicht die Macht, Forderungen an ihn zu stellen. Auch Fragen erübrigen sich: Diese Kleingemeinschaft funktioniert noch immer nach den Prinzipien des stillen Beobachtens und der Integration aller:

Auch war es alles notwendig, daß er da war, er gehörte zu ihnen, als wäre er schon längst da, und niemand frug, woher er gekommen und wohin er gehen werde. (13)

Außenseitern begegnet man hier mit einer ganz anderen Einstellung als in der Stadt:

er [Oberlin, A. R.] sah es als eine Schickung Gottes, der den Unglücklichen ihm zugesandt hätte, er liebte ihn herzlich (13).

In Oberlins Haltung gegenüber Lenz überlebt noch das alte, kirchlich vermittelte Bild des sozial Schwächeren als "Kind Gottes", welches in der Stadt längst nicht mehr haltbar ist. In einer Kleingemeinde war dieses Bild Teil der Strategien, die es erlaubten, jeden soweit wie möglich in die Gemeinschaft zu integrieren. In der Stadt wurde es abgelöst vom Bild des gewalttätigen und bedrohlichen Außenseiters. Dies verankerte im common sense die Idee, es sei notwendig, solche Individuen prinzipiell auszugrenzen.


3 Das Kunstgespräch

Zwei Fragen stellen sich zu Anfang der Analyse: Ist die Literatur, angesichts der Tatsache, daß Lenz sich bemüßigt fühlt, seine Sicht davon in einem langen Monolog zu verteidigen, wirklich noch 'sein Gebiet', also eine Art Heimat? Diese erste Frage werde ich im folgenden Kapitel und in meiner Schlußbemerkung zu beantworten versuchen - sie steht gleichsam hinter der ganzen Untersuchung.

Zweitens: Auch im Kunstgespräch ist Kaufmann der Widerpart von Lenz. Wie genau verhält sich der Zusammenhang zwischen Kunstauffassung und den Lebensentwürfen der beiden? Denn vordergründig scheint die Ästhetik des Idealismus, indem sie Kunst als Gegenstand "uninteressierten Wohlgefallens" (Kant) deklariert, jeden Zusammenhang zwischen sozialer bzw. politischer Sphäre von vornherein auszuschließen. Es läßt sich jedoch zeigen, daß die idealistische Ästhetik, vor allem die ihres radikalsten Vertreters Hegel, eng mit den sozialpolitischen Umwälzungen, die Europa im ausgehenden 18. und anfangs des 19. Jahrhunderts bewegten, verbunden ist.




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Idealistische Ästhetik und Lenz' Antiidealismus

Zygmunt Bauman sieht die gesamte Ästhetik der Moderne als ein Mittel der Intellektuellen, ihre Macht über die Sphäre der Kunst zu sichern. Bis vor kurzem habe niemand ernsthaft daran gezweifelt, daß nur sie die Parameter liefern könnten, mithilfe derer zu entscheiden sei, was als Kunst gelten dürfe und was nicht. Die Bildung des künstlerischen Geschmacks habe also vollkommen in der Hand der Intellektuellen gelegen.4

Diesen Anspruch vertritt Hegels Ästhetik besonders deutlich. Nicht nur steht es dem Philosophen allein zu, Urteile über Kunst zu fällen; es wird darüber hinaus auch die grundsätzliche Überlegenheit der Philosophie über die Kunst postuliert.

In Hegels System kommt der Kunst nur noch Vermittlerfunktion zwischen Wirklichkeit und Wahrheit zu. Hegel unterscheidet zwischen empirischen Fakten, die irrational sein müssen - der Wirklichkeit - und einer durch Verstand geläuterten Wahrheit - dem Absoluten - die vollkommen rational sei. Irrational sind empirische Fakten deshalb, weil sie nicht miteinander zu einem sinnvollen Ganzen verknüpft sind. Das Absolute dagegen ist für Hegel die gesamte vom Verstand erfaßte und geordnete Realität (vgl. Russell 1961). In dieser Hierarchie nimmt die Kunst eine Zwischenstellung ein: sie ist ein Hilfsmittel für den Verstand in seinem Streben nach dem Absoluten.5

Allerdings ist dieses Hilfsmittel nur begrenzt leistungsfähig:

[...] ihrer Form wegen ist die Kunst auch auf einen bestimmten Inhalt beschränkt. Nur ein gewisser Kreis und Stufe der Wahrheit ist fähig, im Elemente des Kunstwerks dargestellt zu werden; es muß noch in ihrer eigenen Bestimmung liegen, zu dem Sinnlichen herauszugehen und in demselben sich adäquat sein zu können, um echter Inhalt für die Kunst zu sein [...] Dagegen gibt es eine tiefere Fassung der Wahrheit, in welcher sie nicht mehr dem Sinnlichen so verwandt und freundlich ist, um von diesem Material in angemessener Weise aufgenommen und ausgedrückt werden können (Hegel, 23-24).

Entsprechend der Fortschrittsdoktrin seiner Geschichtsphilosophie behauptet Hegel, lediglich die niedrigeren Stufen, auf denen sich die Wahrheit in früheren Zeiten in der Welt manifestiert habe - die Götter der alten Griechen etwa - seien künstlerisch adäquat zu reproduzieren. Dagegen könne die (höhere) Stufe der Wahrheit, welche die christliche Religion repräsentiere, sinnlich und damit künstlerisch nicht angemessen ausgedrückt werden. Also, folgert Hegel,

[...] erscheint der Geist unserer Welt [...] als über die Stufe hinaus, auf welcher die Kunst die höchste Weise ausmacht, sich des Absoluten bewußt zu sein. Die eigentümliche Art der Kunstproduktion und ihrer Werke füllt unser höchstes Bedürfnis nicht mehr aus; wir sind darüber hinaus, Werke der Kunst göttlich verehren und sie anbeten zu können; der Eindruck den sie machen ist besonnener Art und bedarf noch eines höheren Prüfsteins und anderweitiger Bewährung. Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt. (Hegel, 24)




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Damit hat sie [die Kunst; A.R.] für uns auch die echte Wahrheit und Lebendigkeit verloren und ist mehr in unsere Vorstellung verlegt, als daß sie in der Wirklichkeit ihrer frühere Notwendigkeit behauptete und ihren höheren Platz einnähme. (Hegel, 25)

Hegel fühlt sich nicht bemüßigt, zu erklären, weshalb die griechischen Götter einer niedrigeren Stufe der Wahrheit entsprechen. Dies konnte er wohl deshalb getrost unterlassen, weil er deren höchste in der Welt realisierte Form mit dem preußischen Staat identifizierte, dessen Beamter er als Professor an der Berliner Universität war.6

Jedenfalls ist der Unterordnung der Kunst unter die Ratio nach Hegel nicht zu entrinnen:

Selbst der ausübende Künstler ist nicht etwa nur durch die um ihn her laut werdende Reflexion, durch die allgemeine Gewohnheit des Meinens und Urteilens über die Kunst verleitet und angesteckt, in seine Arbeiten selbst mehr Gedanken hineinzubringen, sondern die ganze geistige Bildung ist von der Art, daß er selber innerhalb solcher reflektierender Welt und ihrer Verhältnisse steht und nicht etwa durch Willen oder Entschluß davon abstrahieren oder durch besondere Erziehung oder Entfernung von den Lebensverhältnissen sich eine besondere, das Verlorene wieder ersetzende Einsamkeit erkünsteln und zuwege bringen könnte. (Hegel, 25)

Die Kunst selbst wird in zunehmendem Maße wissenschaftlich und intellektualistisch (vgl. Bauman, 132-133). Schriftsteller vornehmlich beginnen, sich an einflußreichen Philosophen zu orientieren.

Bühnenfiguren werden, im Interesse der Ideen, die sie vertreten sollen, als Charaktere mit einem reduzierten Spektrum an Eigenschaften gezeichnet. Vor allem aber ist allen Personen die formvollendetste Sprache mitgegeben - kein Moment, da jemandem die Kontrolle über Ausdruck oder Gedanken abhanden käme. Die Ratio triumphiert. Auch im klassischen Drama setzt sich also die Hierarchisierung durch, die Hegel auf den Punkt gebracht hat: Idee - Kunst - Wirklichkeit. Im Bestreben, das "sittliche Individuum" oder die "schöne Seele" zum Zentrum der Literatur zu machen, spiegeln sich die großangelegten Perfektionierungs- und Auschlußbestrebungen des Staates. Hier wie dort erlebt man die "Umformung von Individuen zu politischen Interessesubjekten" (Sloterdijk 1989, 226).

Ich werde nun versuchen, Parallelen zwischen den von Lenz kritisierten Strategien idealistischer Künstler und den in Abschnitt 2 exponierten Formen sozialer Kontrolle aufzuzeigen.




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1. Die Feststellung, der Idealismus befasse sich gar nicht erst mit dem Geringen und Häßlichen bleibt in Lenz' Ausführungen implizit, ist aber klar genug faßbar. Lenz behauptet, jeder Mensch sei künstlerischer Darstellung würdig - keiner sei zu gering oder zu häßlich (15). Der Idealismus dagegen schließt (vgl. etwa Winkelmanns Betrachtungen zur Laokoon-Gruppe) gewisse Emotionen und Menschen mit der Frage nach deren 'Schönheit' von vornherein aus der Sphäre der Kunst aus. Dagegen hält Lenz: "Das unbedeutendste Gesicht macht einen tieferen Eindruck als die bloße Empfindung des Schönen."(15)

Künstlerisches und praktisches Ethos lassen sich im Kunstgespräch nur schwer unterscheiden, weil beide für Lenz identisch sind - wie übrigens für die Idealisten auch. Denn die künstlerische Darstellung einer idealistisch verklärten Welt soll den Zuschauern ja Ansporn sein, die reale Welt zu verändern. Allerdings sind solche Vervollkommnungsprojekte bei den Idealisten - Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen sind dafür das Beispiel par excellence - emphatisch auf die Individualität des Einzelnen beschränkt. Gesellschaftliche Veränderungen zum Besseren stellen sich demnach als Funktion individueller Vervollkommnung gleichsam von selbst ein. Die detaillierte Darstellung brutalisierender sozialer Verhältnisse, ganz zu schweigen von einer Auseinandersetzung damit, ist daher für die Idealisten kaum Gegenstand künstlerischen Schaffens. Um der pädagogischen Vorbildfunktion ihrer Werke willen, soll vornehmlich das Sittliche - wie es sich eben im Kunstschönen manifestierte - dargestellt werden.

Lenz aber hat erlebt, daß gewisse pädagogisch oder therapeutisch verbrämte Verfahren dieser Gesellschaft vor allem der Unterdrückung oder Marginalisierung von Phänomenen und Menschen dienen, die bedrohlich und unkontrollierbar erscheinen. Anders als in seiner Stellung als Patient, wo er dem psychiatrischen Diskurs wehrlos ausgeliefert ist, kann sich Lenz auf dem Feld der Kunst zur Wehr setzen. Hier fühlt er sich sicher, hat doch sein Wort aufgrund seiner Arbeit und Kenntnis Gewicht.

2. Will man Bühnengestalten zu Vertretern einer Idee machen, bedingt dies ein hohes Maß an Stilisierung. Wesentlich ist nicht mehr ein möglichst lebensnaher Charakter in all seinen Widersprüchen - im Gegenteil, diese werden, um ihn der Idee, die er vertritt, so ähnlich wie nur möglich zu machen, eliminiert. Überdies wäre eine widersprüchliche Idee an sich eine contradictio in adiecto. Differenzierung wird also der Angleichung an eine rationale Kategorie geopfert. Die Idealisten sehen darin pädagogischen Gewinn - in auf solche Weise stilisierten Figuren sollte wohl die Annäherung der Menschheit an ein sittliches Ideal präfiguriert werden.

Lenz dagegen sieht hierin einen übermäßigen Verlust an Differenzierung, der den dargestellten Figuren jede Glaubhaftigkeit , jedes 'Leben' nimmt und sie zu Holzpuppen werden läßt. Die Neigung idealistischer Dichter, ihre Figuren abstrakten Kategorien anzunähern, muß ihm doppelt fatal erscheinen, weil er diese Strategie und ihre Folgen aus einem anderen Lebensbereich kennt. Er hat die Reduktion seiner selbst auf 'seine Verhältnisse', seine Krankheit erlebt, und weiß, um deren unmittelbaren Effekt - nämlich den oben angesprochenen Ausschluß 'abnormer' Elemente aus der Gesellschaft.




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Lenz sieht also in der Kunst dieselben Strategien, mittels derer der Staat auf breiter Front gewaltsam versucht, eine oft durchaus willkürliche soziale Ordnung durchzusetzen, als künstlerische Gestaltungsmittel und -prinzipien legitimiert.

3. Dasselbe gilt für die Argumente, mit welchen Vertreter des Staates die Tatsache legitimierten, daß nun sie die Kontrolle über die Stadtgemeinschaft innehatten und ständig erweiterten. Ursprünglich war der Staat auf den Plan getreten, weil jegliche soziale Ordnung in Frage gestellt schien. Nun aber war absolute Stabilität ein Ziel, das um jeden Preis erreicht werden sollte. Indem der Staat mit dieser Vorstellung ineinsgesetzt wurde, erhielt er die Priorität vor der Gemeinschaft, der seine Institutionen einst dienen sollten.

Ähnliches geschieht in der Kunst. Idealtypen werden realen Individuen vorgezogen, der Realität eine im Hegelschen Sinne verklärte "Wahrheit". Beides zeigt sich, wenn Kaufmann Lenz zu bedenken gibt, "daß er in der Wirklichkeit doch keine Typen für einen Apoll von Belvedere oder eine Raphaelische Madonna finden würde." Lenz' unmittelbare Reaktion darauf ist bezeichnend: "Was liegt daran, versetzte er, ich muß gestehen, ich fühle mich dabei sehr tot." (16, meine Hervorhebung; A.R.). Die ästhetischen Urteile des Idealismus sind für Lenz aufgeladen mit einem Moment der Verstümmelung, ja der Mortifikation. Seine Erlebnisse als Patient schlagen gleichsam ins Kunstgespräch durch, sobald analoge ästhetische Programmatiken diskutiert werden.

4. Im Gegensatz zu Lenz, der für uneingeschränkte Empathie allen Menschen gegenüber plädiert, und diesen Wert auch in seiner Kunst zugrundelegt, konzeptualisierten idealistische Künstler und Ästhetiker das Verhältnis von Gesellschaft und künstlerischer Praxis im Hinblick auf ihre professionelle Autonomie. Darin waren sie den Staatsfunktionären nicht unähnlich. Der idealistische Künstler oder Ästhetiker fordert hauptsächlich formale Kontrolle des Gegenstandes und "uninteressiertes Wohlgefallen" in der Rezeption. Diese Haltung ist charakteristisch für die Moderne überhaupt - und die entscheidende Strategie, mittels derer sich Künstler der Sphäre ästhetischer Urteile bemächtigten. Ebenso ging es den Staatsfunktionären nicht allein um Verbesserungen des sozialen Zusammenlebens, sondern auch um die Legitimation ihrer eigenen Autorität.

Die spezifischen Interessen der Staatsfunktionäre, wie auch der Künstler sind also für deren Prioritäten im Dienste der Gemeinschaft genauso maßgebend wie das allgemeine Wohl. Diese Haltung muß nicht in Zynismus münden, bedingt aber sicher, daß man nicht primär emotional auf soziale Mißstände reagiert. Gefühl kann bei der Entfaltung eines komplexen sozialen oder ästhetischen Ordnungssystems zunächst nur hinderlich erscheinen.


Lenz' Kunsterlebnis und das 'einfache Leben'

Im Gegensatz dazu trägt unmittelbares Fühlen wesentlich zu Lenz' Kunstschaffen und -erlebnis bei. Diese wiederum sind abhängig von der Erfahrung einer vollkommen erfüllten Gegenwart, die er möglichst lückenlos und intensiv wahrnehmen möchte. Auch der Prozeß des künstlerischen Gestaltens ist für Lenz von diesem intensiven Umgang mit der Wirklichkeit geprägt.




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Markus W. Roche bemerkt korrekt, daß Lenz die höchste Form der Schönheit mit dem einfachen Leben gleichsetzt und sieht darin einen verfehlten Versuch, hiermit die durch Reflexion vermittelte Kunst zu ersetzen, der nur in die Willkür eines hermetischen Subjektivismus führen könne. Diese Interpretation, scheint mir, geht zu weit, weil sie zu kurz greift. Roche möchte aus Lenz' Äußerungen ein (möglichst kohärentes) ästhetisches Programm ableiten. Dabei läßt er aber außer acht, daß diese eventuell gar nicht darauf angelegt sind, einer solchen Anforderung zu entsprechen, sondern auch als eine Reaktion von Lenz aus seinem Erleben auf sein unmittelbares Umfeld zu sehen sind. Vernachlässigt wird hier, mit anderen Worten, der unmittelbare pragmatische Kontext des Kunstgesprächs. Dem normativen Tenor einzelner Äußerungen von Lenz wird hier zu großes Gewicht beigemessen. Völlig außer acht gelassen wird dagegen die Frage, inwiefern und weshalb einzelne Aspekte des 'einfachen Lebens' für Lenz so wichtig sind, daß sie sich in seinen Ausführungen über Kunst niederschlagen.

Als Beispiel für höchste Schönheit in der Realität führt Lenz den Anblick von zwei Mädchen an, die er wahrscheinlich am Sonntag vor seiner Predigt beobachtet hat (vgl. Jansen, 149). Sein Bericht davon endet mit den Worten:

Die schönsten Bilder, die schwellendsten Töne, gruppieren, lösen sich auf. Nur eins bleibt, eine unendliche Schönheit, die aus einer Form in die andere tritt, ewig aufgeblättert, verändert [...] (15)7

Hier klingt, wie mir scheint, Lenz' Sehnsucht nach einer ganz anderen Art von Aufmerksamkeit an, als ihm von seiten städtischer Ordnungshüter zuteil wurde - nach jener Sorte von sorgfältigem, kontinuierlichem und diskretem Beobachten, mittels dessen sich das Zusammenleben in Kleingemeinschaften regeln ließ. Dort das rasche Überprüfen, ob der Patient in gewissen Punkten den von der Disziplin gegebenen Kategorien entspricht, das Fixiertsein auf eine Diagnose und die unausweichliche entsprechende Isolation und Behandlung. Analog dazu eine auf Statik, Idealtypen und Abstrakta ausgerichtete Kunst. Im Steintal dagegen Fluß, Harmonie, Integration.

Lenz' Hoffnungen auf eine erfüllte, von der städtischen Ordnung unbeeinflußte Existenz mögen überzogen sein8, doch was ihm in der Stadt unmöglich ist, hier gelingt es: Er ist schöpferisch tätig, sozial nützlich und imstande, seine als Theologiestudent und Schriftsteller erworbenen Fähigkeiten fruchtbar zu machen. Er beginnt zu zeichnen, hilft Oberlin und hält schließlich - unmittelbar vor Kaufmanns Ankunft - eine Predigt, die bei den Bewohnern des Steintals großen Anklang findet. Insofern scheint mir das Verdikt von Roche, daß Lenz "überhaupt keine Beziehung zur Gesellschaft mehr haben kann" verfehlt - genauso wie sein Gesellschaftsbegriff. Roche setzt nämlich die Gesellschaft stillschweigend mit der städtischen Ordnung gleich. Er hat daher auch keinen Blick für die Funktion, die sich für Lenz als Intellektuellem im Kunstgespräch abzeichnet. Trotzdem - oder gerade deswegen - hat Roches Position ihre eigene Konsequenz: Sie ist durch und durch geprägt von der modernen Identifikation der Gesellschaft mit dem Staat und dem Rollenverständnis des Intellektuellen als Erzieher oder legislator.




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4 Lenz im Kunstgespräch: Zwischen legislator und interpreter

Roche und Holub haben einleuchtend nachgewiesen, daß Lenz im Kunstgespräch als Theoretiker versagt - er verfängt sich in Aporien. Freilich stellt sich die Frage, weshalb sich dies weder in seiner eigenen Stimmung noch in den Reaktionen der Zuhörer niederschlägt. Am Ende des Kunstgesprächs steht ja im Gegenteil ein Moment der Ruhe für Lenz, und der Einigkeit zwischen ihm und seinen Zuhörern:

"In der Art sprach er weiter, man horchte auf, es traf vieles, er war rot geworden über dem Reden und bald lächelnd, bald ernst, schüttelte er die blonden Locken. Er hatte sich ganz vergessen." (16)

Offenbar hat Lenz hier etwas sowohl für sich als auch für seine Zuhörerschaft Wesentliches erreicht. Welche Funktion aber kann ein Künstler und Intellektueller denn innerhalb einer Gemeinschaft erfüllen, wenn nicht die, durch zwingende Werke und kohärente Theorien verbindliche Maßstäbe zu setzen? Dies wäre etwa die Rolle, die Zygmunt Bauman als legislator bezeichnen würde und die sich westliche Intellektuelle seit der Aufklärung so sehr zu eigen gemacht haben, daß sie vielfach noch immer als die einzig denkbare gesehen wird. Bauman definiert diese Rolle folgendermaßen:

It consists of making authoritative statements which arbitrate in controversies of opinions and which select those opinions which, having been selected, become correct and binding. The authority to arbitrate is in this case legitimized by superior (objective) knowledge [...] the intellectual professions (scientists, moral philosophers, aesthetes) [are] collective owners of knowledge of direct and crucial relevance to the maintenance and perfection of the social order. [...] Like the knowledge they produce, intellectuals are not bound by localized, communal traditions. (Bauman, 5)

Auch Lenz greift zu Anfang des Kunstgesprächs noch auf Standpunkte und Versatzstücke aus dem rhetorischen Repertoire des legislators zurück, weist damit also diese Rolle nicht explizit von sich.9 Im Verlauf des Sprechens zeichnet sich jedoch für Lenz eine andere mögliche Funktion ab - Bauman nennt sie die des interpreters, eines Vermittlers zwischen verschiedenen Erlebniswelten und Denkvorstellungen. Wichtig ist - im Gegensatz zum legislator - daß der interpreter nicht primär zu ermitteln versucht, welche der Positionen, zwischen denen er vermittelt, die überlege sei. Es geht vielmehr darum, beide so tief zu erfassen, daß sich Anschlußpunkte finden lassen, mit deren Hilfe eine fruchtbare, differenzierte Kommunikation zwischen diesen Positionen möglich wird (vgl. Bauman, 5).

Bis zur Diskussion der beiden niederländischen Bilder herrscht in Lenz' Ausführungen Abstraktion vor. Wenn er Shakespeare und Goethe anführt, so sagt dies mehr über seine persönliche Wertschätzung dieser Autoren aus, als es zur Veranschaulichung dessen, was er im Sinn hat, beiträgt. Denn Lenz bringt keinerlei Beispiele aus ihren Werken, anhand derer er den diffusen Begriff 'Leben' konkretisieren würde. Selbst seine Schilderung der beiden Mädchen weicht sogleich abstrakten Termini, wird der theoretischen Reflexion unterzogen. Erst als er auf die beiden Bilder zu sprechen kommt, ändert sich dies. Hier weichen auch das unpersönliche "man" und das Zustimmung erheischende "wir" - Lenz spricht nur noch von der eigenen Erfahrung:




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Der Dichter und Bildende ist mir der liebste, der mir die Natur am wirklichsten gibt, so daß ich über seinem Gebild fühle, alles übrige stört mich. Die holländischen Maler sind mir lieber als die italienischen [...] ich kenne nur zwei Bilder, und zwar von Niederländern, die mir einen Eindruck gemacht hätten wie das Neue Testament [...]. (15, meine Hervorhebungen; A.R.).

Seine eigenen Erfahrungen prägen auch die Schilderung der beiden Bilder - oder besser die narrativen Stimmungsbilder, die Lenz daraus macht.10 Dies scheint zunächst Roches These, daß Lenz in einen hermetisch-subjektivistischen Diskurs abgleite, zu nähren. In der Tat argumentiert auch Robert C. Holub, diese Stimmungsbilder seien zwar eine Möglichkeit, tote Kunst wieder zu verlebendigen, gleichzeitig aber gehe dies auf Kosten der Realität selbst.11 In diesem Fall habe man es gar mit subjektiven Produkten der Willkür eines Irren zu tun.12

Wenden wir uns zunächst den Verbindungen zwischen Lenz' Erfahrung und der Art und Weise, wie er diese in seinen 'Bildbeschreibungen' verwertet, zu. In einem zweiten Schritt wollen wir dann prüfen, ob nicht etwa eine andere Instanz als die der 'objektiven Realität' Holubs Lenz' Betrachtungen vor dem Vorwurf "dreamlike effusions of a madman" (Holub, 124) zu sein, retten kann.

Die Beschreibung von "Christus und die Jünger von Emmaus" verknüpft zunächst Religion und Natur:

"Ich kenne nur zwei Bilder, und zwar von Niederländern, die mir einen Eindruck gemacht hätten, wie das Neue Testament [...] Wenn man so liest wie die Jünger hinausgingen, es liegt gleich die ganze Natur in den paar Worten."

Diese Verbindung charakterisiert auch Lenz' erste Erlebnisse im Steintal: Vertrautheit kennzeichnet nicht nur den Kontakt mit der Natur, sondern auch den mit dem Jenseits - beides fließt in Lenz' Bildbeschreibung ein.13 Dasselbe Gefühl von Vertrautheit prägt den Moment, da die Jünger Christus erkennen: "[...] es tritt sie etwa Unbegreifliches an, aber es ist kein gespenstisches Grauen; es ist, wie wenn einem ein Toter in der alten Art entgegenträte."14 Was Holub als "dreamlike effusions of a madman" taxiert, ist im Steintal ganz allgemein, und sogar für Oberlin, Teil des dörflichen Alltags. Träume und Ahnungen sind genauso wesentlich wie die täglichen Verrichtungen - damit aber zumindest im lokalen Erfahrungshorizont Realität. Als Lenz Oberlin den Traum von seiner Mutter erzählt, kann dieser sogleich eine parallele Erfahrung beim Tod seines Vaters anführen. Und dabei handelt es sich wohl kaum um einen Akt therapeutischer Besänftigung. Im Gegenteil: Oberlin ist es, der im Gespräch zuerst derartige Themen anspricht (10). Im Kunstgespräch bringt Lenz also der Tischrunde Gegenstände einer den anderen weitgehend fremden Sphäre (derjenigen der Kunst) nahe, indem er die Kunstgegenstände mit Erfahrungen und Bildern verbindet, von denen er weiß, daß sie allen Anwesenden zugänglich sind. Genau dadurch wird er zum interpreter, zum Vermittler zwischen verschiedenen Erlebniswelten.




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Daß Lenz in dieser Funktion als Mitglied der Gemeinschaft akzeptiert ist, deutet sich nicht nur in der Reaktion der Runde bei dieser Gelegenheit an. Bereits bei Lenz' Ankunft im Steintal ergibt sich eine ähnliche Verlagerung seiner Rolle bei gleichzeitiger Integration.

'Der Name, wenn's beliebt [...] Lenz.' 'Ha, ha, ha, ist er nicht gedruckt, habe ich nicht einige Dramen gelesen, die einem Herrn dieses Namens zugeschrieben werden?' 'Ja, aber belieben Sie mich nicht danach zu beurteilen.' Man sprach weiter, er suchte nach Worten, erzählte rasch, aber auf der Folter; [...] (7).

Lenz fürchtet, als seine Stücke erwähnt werden, sogleich mit seiner Funktion als Autor ineinsgesetzt, danach beurteilt und darauf fixiert zu werden, wie es im Stadtleben - Effizienz ist auch im näheren zwischenmenschlichen Umgang gefordert - zweifellos geschehen würde. Entsprechend unwohl fühlt er sich. Doch als er mit der Runde in unmittelbaren Kontakt tritt, von seiner Heimat erzählen kann und somit auch hier schon zum interpreter wird, beruhigt er sich:

"Er fing an zu erzählen, von seiner Heimat; er zeichnete allerhand Trachten, man drängte sich teilnehmend um ihn, er war gleich zu Haus, sein blasses Kindergesicht, das jetzt lächelte, sein lebendiges Erzählen; er wurde ruhig [...] (7).

Diese Rolle in der Gemeinschaft hätte Lenz vielleicht ausfüllen und damit eine erfüllte Existenz finden können. Doch Kleingemeinschaften fielen den staatlichen Zentralisierungsimpulsen fast ganz zum Opfer und die Notwendigkeit des interpreters wird erst heute - 200 Jahre später - einsichtig.


5 Schluß

Im Kunstgespräch wirft Lenz den idealistischen Künstlern vor, sie schlössen das Häßliche aus ihren Werken nur deshalb aus, weil sie der Gestaltung dessen nicht gewachsen seien.15

Gleichzeitig schwingt aber auch eine Anklage mit: Sowohl die Gesellschaft als auch die idealistische Kunst drücken sich um die Auseinandersetzung mit dem, was ihnen bedrohlich erscheint. Wie die städtischen Ordnungshüter zunächst keine andere Möglichkeit sahen, mit potentiell gefährlichen Randgruppen umzugehen, als diese auszugrenzen, so verbannte der Idealist das, was nach dem Diktat ebendieser Ordnung nicht sein durfte aus seinem künstlerischen Universum. Im gleichen Zug - dies die Implikation von Lenz' Ausführungen - reduziert er so aber auch seine Gestaltungsmöglichkeiten - zum Nachteil der Kunst. Statt lebendiger Charaktere schafft er nurmehr 'Holzpuppen'.




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Diese Diagnose spiegelt sich auch in Hegels Verdikt, die Kunst habe ihre "echte Wahrheit und Lebendigkeit verloren". Im Gegensatz zu Lenz ist Hegel mit diesem Status quo durchaus zufrieden, denn die damit postulierte Vorherrschaft der Philosophie resultiere ja nicht aus dem Unvermögen einzelner Künstler, sondern sei schlechthin Ausdruck des Zeitgeistes. Diese Behauptung ist aber, wie wir gesehen haben, in Hegels mehr als problematischer Geschichtsphilosophie verwurzelt und Teil seiner Selbstermächtigungsstrategie. Sie ist allerdings durchaus symptomatisch für die neue soziale Funktion, die der moderne Staat der Kunst gern zugedacht hätte und welche die idealistischen Künstler besonders bereitwillig übernahmen.

Peter Sloterdijk hat darauf aufmerksam gemacht, daß im modernen Staat Politik nur auf Kosten von Leidenschaften gemacht werden könne. Diese sind notwendigerweise immer individuell, das Gemeinwohl jedoch, welches der Staat im besten Falle anstrebt, bleibt eine Abstraktion.

In diesem Tatbestand fällt die politische Errungenschaft der Moderne mit ihrer größten Schwäche in eins: Obwohl die Gesellschaftsordnungen auf der Abstraktion von Leidenschaften errichtet werden, sind sie auf tief paradoxe Weise gezwungen, eine Leidenschaft für das Abstrakte zu produzieren - andernfalls zerbrächen sofort die psychosozialen Klammern, die die großen Systeme zusammenhalten sollen. Doch es wird immer ein großes Problem bleiben, Menschen auf Dauer für das Kalte zu erwärmen. (Sloterdijk, 224)

Was Sloterdijk als ein Alchimistenkunststück bezeichnet, sollte nach Hegel die Kunst vollbringen - idealistische Literatur als Durchlauferhitzer für des Menschen Geist auf seinen Expeditionen zum Absoluten. Angesichts der Formen, welches das Absolute im Geiste diverser nationaler und staatlicher Ideologien annehmen konnte, scheint es allerdings mehr denn je fragwürdig, ob die Aufgabe der Philosophie und der Kunst darin liegen kann, solche Vorstellungen und die zugehörigen Perfektionierungsprogramme zu legitimieren. Zeitgemäßer scheint mir George Steiners Hinweis auf eine andere Funktion von Kunst:

It is a commonplace of ethnography, that early, 'primitive' art forms were meant to tempt towards domesticity, towards familiarity, the animal presences in the great dark of the outside world. [...] All representation, even the most abstract, infers a rendezvous with intelligibility or, at least, with strangeness attenuated, qualified by observance and willed form. Apprehension (the meeting with the other) signifies both fear and perception. (Steiner, 32)

Doch während nicht nur Steiner Kunst am liebsten auf die Beschwörung mehr oder minder schöner Geister aus einem amorphen Reich jenseits allen Bewußtseins verpflichten würde, war für Georg Büchner schon vor über 150 Jahren klar, daß unsere Gesellschaftsordnung mit der Komplexität und Eigendynamik ihrer Prozesse eine mindestens ebenso intensive Auseinandersetzung verlangt, wie die von Steiner bemühten "animal presences in the great dark of the outside world." Die Darstellung, die sie in Lenz erfährt, scheint mir mit einer Bemerkung von Walter Benjamin über die Fotografien von Atget besonders treffend umschrieben:




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Sehr mit Recht hat man gesagt, daß er sie aufnahm wie einen Tatort. Auch der Tatort ist menschenleer. Seine Aufnahme erfolgt der Indizien wegen. Die photographischen Aufnahmen beginnen bei Atget, Beweisstücke im historischen Prozeß zu werden. Das macht ihre verborgene politische Bedeutung aus. Sie fordern schon eine Rezeption in einem bestimmten Sinne. Ihnen ist die freischwebende Kontemplation nicht mehr angemessen. Sie beunruhigen den Betrachter; er fühlt: zu ihnen muß er einen bestimmten Weg suchen. (Benjamin 1977, 148)

Auch Büchners Lenz ist ein "Beweisstück im historischen Prozeß". Hier wird deutlich, auf welch brisante Art Kunst und (gesellschaftliche) Realität - Poesie und Politik - miteinander verstrickt sind. Und da er nur eine Vielzahl von Indizien liefert, eine vollständige Erklärung gar nicht erst versucht, vermag er immer wieder neu und anders zu beunruhigen, liefert aber auch immer neue Wegmarken. Er schafft interpreters.



Bibliographie

Georg Büchner: Lenz. Studienausgabe, Stuttgart 1984.

Georg Büchner: Werke und Briefe. München 1990.

Zygmunt Bauman: Legislators and Interpreters: On Modernity, Postmodernity, and Intellectuals. Oxford 1987.

Walter Benjamin: Illuminationen. Frankfurt a. M. 1977.

Dirk Blasius: Der verwaltete Wahnsinn: Eine Sozialgeschichte des Irrenhauses. Frankfurt a.M. 1980.

Erving Goffman: Asylums. New York 1961.

G. W. F. Hegel: Ästhetik. Frankfurt a. M. 1989.

Robert C. Holub: "The Paradoxes of Realism: An Examination of the Kunstgespräch in Büchner's Lenz", in: Deutsche Vierteljahreszeitschrift für Literatur und Geistesgeschichte 1 (1985)

Peter K. Jansen: "The Structural Function of the Kunstgespräch", in: Monatshefte 67 (1975).

Markus W. Roche: "Die Selbstaufhebung des Antiidealismus in Büchners Lenz" in: Zeitschrift für deutsche Philologie 107 (1988)

Bertrand Russell: History of Western Philosophy. London 1961.

Peter Sloterdijk: Eurotaosimus: Zur Kritik der politischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1989.

George Steiner: Real Presences. London 1991.





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Anmerkungen

1 Dies wird in allen Wendungen deutlich, in denen der Text den Tonfall der beiden im Umgang miteinander beschreibt: "Lenz widersprach heftig" / "Kaufmann warf ihm vor [...]" / "Lenz fuhr ihn an [...]" / "Er [Lenz] wurde heftig" (Büchner 1984, 12 ff.; im folgenden bloße Seitenangaben).
2 "Prisons, workhouses, poorhouses, hospitals, mental asylums, were all by-products of the same powerful thrust to render the obscure transparent, to design conditions for redeploying the method of control-through-surveillance once the traditional deployment proved increasingly ineffective. That each of theses innovations of the early modern era was more than a chance invention arising out of a specific problem, is suggested by the astounding simultaneity of their appearance in spheres ostensibly distant form each other and functionally unconnected" (Bauman 1987, 45).
3 Natürlich können sich so auch Möglichkeiten eröffnen, Patienten in einem viel größeren Ausmaß zu reintegrieren, als dies einer Kleingemeinschaft je möglich wäre. Zunächst aber werden diese isoliert, und einer Umgebung ausgesetzt, die erwiesenermaßen ihr eigenes pathogenes Potential in sich birgt. (Vgl. Goffman 1961)
4 "Throughout the modern era [...] aestheticians remained firmly in control of the area of taste and artistic judgement (or so it seems now, in retrospect, by comparison with the situation brought into being by the post-modernist developments). Being in control meant operating without much challenge the mechanisms transforming uncertainty into certainty, [...] imposing binding definitions upon reality. In other words - it meant exercising power over the field of art." (Bauman, 134)
5 "Die harte Rinde der Natur machen es dem Geiste saurer, zur Idee durchzudringen, als die Werke der Kunst. [...] Den Schein und die Täuschung dieser schlechten vergänglichen Welt nimmt die Kunst von jedem wahrhaften Gehalt der Erscheinungen fort und gibt ihnen eine höhere, geistgeborene Wirklichkeit." (Hegel 1989, 22-23)
6 Vgl. Russell: "World history has in fact advanced through the categories of Pure Being in China (of which Hegel knew nothing, except that it was) to the Absolute Idea, which seems to have been nearly, if not quite, realized in the Prussian State." (705) und: "As might be expected, he assigns the highest role to the Germans in the terrestrial development of Spirit." (707).
7 Auch anderweitig spricht Lenz von einem solchen harmonischen Kontinuum: "Es war, als löste sich alles in eine harmonische Welle auf" (11). "Er sprach sich selbst weiter aus, wie in allem eine unaussprechliche Harmonie, ein Ton, eine Seligkeit sei, die in den höheren Formen mit mehr Organen aus die herausgriffe, tönte, auffaßte und dafür auch umso tiefer affiziert würde, wie in den niedrigeren Formen alles zurückgedrängter, dafür aber auch die Ruhe in sich größer sei." (13)
8 In der Tat scheint mir sein Bild vom Steintal maßlos verklärt. Selbst in einer Kleingemeinschaft könnte Lenz, wenn er denn wirklich von so ungefiltert osmotischer Sensibilität ist, seine Doktrin universeller Empathie kaum konsequent durchhalten.




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9 Auch wenn die Normen, die Lenz postuliert, solche sind, die zu größerer künstlerischer Freiheit (bis hin zur totalen Subjektivität) verhelfen würden, sind sie, als Normen, eben doch im aufklärerischen Denken verhaftet. Und dies impliziert eine Hierarchie, deren oberste Stufe der Intellektuelle als Erzieher der Gesellschaft einnimmt. Er ist es, der die Normen vorgibt. Daß Lenz im Kunstgespräch diese Position ganz selbstverständlich fordert, zeigt sich in Wendungen wie "ich verlange", auch in der Tatsache, daß das Erfüllen seiner Anforderungen allgemein als "einziges Kriterium in Kunstsachen" zu akzeptieren sei, sowie in seinem apodiktischen Tonfall: "Alles übrige kann man ins Feuer werfen".
10 Siehe auch Holub: "The pictorial forms now become translated into their literary counterparts." (121)
11 Holub suggeriert die Möglichkeit objektiver Darstellung und die Existenz einer objektiven Realität , ohne allerdings seine Begriffe davon zu präzisieren (122-123).
12 "The reestablished connection to reality is arbitrary and subjective, the product of fantasy. [...] the story line by which reality again has coherence for the viewer are all supplied here by the dreamlike effusions of a madman." (Holub, 122-123).
13 "Alte vergangene Hoffnungen gingen in ihm auf; das Neue Testament trat ihm hier so entgegen [...] dieser Glaube, dieser ewige Himmel im Leben, dies Sein in Gott; jetzt erst ging ihm die Heilige Schrift auf. [...] Wie den Leuten die Natur so nahetrat, alles in himmlischen Mysterien; aber nicht gewaltsam, majestätisch, sondern noch vertraut!" (Büchner, 9-10)
14 Ein ähnliches Erlebnis hat Lenz auch in bezug auf seine Mutter. Interessant ist übrigens, daß hier - über das "Weihnachtsgefühl" - ebenfalls eine direkte Verbindung zur Religion besteht: "ein heimliches Weihnachtsgefühl beschlich ihn, er meinte manchmal, seine Mutter müsse hinter einem Baum hervortreten, groß, und ihm sagen, sie hätte ihm das alles beschert; wie er hinunterging, sah er, daß um seinen Schatten sich ein Regenbogen von Strahlen legte, es wurde ihm, als hätte ihn was an der Stirne berührt, das Wesen sprach ihn an." (10). "[...] er erzählte Oberlin ganz ruhig, wie ihm die Nacht seine Mutter erschienen sei; [...] sie sei gewiß tot; er sei ganz ruhig darüber." (12).
15 "Die Leute können auch keinen Hundsstall zeichnen" (14; meine Hervorhebung; A.R.).


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